Dreiunddreißigstes Kapitel

Der Mercedes fuhr mit kreischenden Reifen an. Einer der Schützen hatte sich umgedreht und sah nach hinten, während der andere fuhr.

»Wir werden nicht verfolgt«, meldete er, und die Erleichterung war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.

Kristen sah, daß Blaines Blick durch das Wageninnere glitt. »Ein Telefon! Haben Sie ein Autotelefon?« fragte er Matabu.

»Nein.«

»Dann bringen Sie mich sofort zu einem Telefon!«

»Wir haben eine kleine Station, eine halbe Autostunde von hier entfernt«, sagte Matabu. »Dort befindet sich das nächste Telefon.«

McCracken rutschte nervös hin und her. Ihm war klar, daß dieser Mann offensichtlich die Vorkehrungen zu seiner Befreiung getroffen hatte. Doch der Dank würde noch warten müssen. Blaine sah wieder zu Kristen.

»Wieviel weiß er?« fragte er sie.

»Alles, was ich weiß«, erwiderte sie. »Aber da müssen anscheinend noch einige Lücken ausgefüllt werden.«

»Das würde ich auch sagen!« gestand McCracken ein.

»Sir, der Hubschrauber ist startbereit«, kündigte General Cantrell am Freitagmorgen pünktlich um sechs Uhr an. »Eine identische Maschine wird fünf Minuten vor der Ihren starten und eine weitere fünf Minuten danach. Alle drei werden von Kampfhubschraubern begleitet.«

»Was ist mit dem Rest der Leute, die nach Mount Weather gebracht werden sollen?«

»Sie werden den Marschbefehl bekommen haben, bevor wir starten. An den vereinbarten Treffpunkten warten bereits die entsprechenden Fahrzeuge auf sie, zumeist Hubschrauber.«

»Sie haben gute Arbeit geleistet, Herr General«, beglückwünschte der Präsident ihn.

»Wir sind schon seit Generationen auf ein viel schlimmeres Szenario vorbereitet«, erwiderte Cantrell.

»Alles ist relativ, vermute ich«, sagte der Präsident und erhob sich. »Dann wollen wir mal.«

Der Helikopter des Präsidenten, der von zwei Kampfhubschraubern flankiert wurde, schwebte über dem Hubschrauberlandeplatz des Mount Weather, der nur direkt aus der Luft zu sehen war. Die Landeerlaubnis war zwar erteilt worden, doch die Wetterbedingungen waren ungünstig. Aufgrund des starken Windes mußte der Pilot kreisen, bis sich ihm ein Landefenster öffnete.

Der Präsident saß mit Cantrell, Charlie Byrne, Angela Taft und einigen von ihm persönlich ausgesuchten Agenten des Secret Service im Passagierraum. Schließlich spürten sie, wie die Landekufen den Boden berührten, und aus dem Mount Weather näherte sich im Laufschritt ein Trupp Soldaten und bezog um die Landefläche neben jenen Stellung, die schon die sie umgebenden Blue Ridge Mountains im Auge behielten. Cantrell verließ den Hubschrauber als erster und vergewisserte sich, daß alles in Ordnung war. Erst dann winkte er den Präsidenten hinaus.

»Schneller!« befahl Marabu, als sie die Nebenstraße erreichten, die zu seiner Station führte.

Der Fahrer bog auf den unbefestigten Weg ab, drückte rücksichtslos auf das Gas und schüttelte seine Passagiere durcheinander. Die Straße führte zu einer abgelegenen Farm, und Blaine war hinausgesprungen, bevor der Wagen richtig angehalten hatte. Zwei Schwarze mit Gewehren liefen aus dem Haus und legte ihre Waffen auf den Weißen in der AWB-Uniform an.

»Nicht!« befahl Matabu, der ebenfalls ausgestiegen war. »Laßt ihn hinein!«

Matabu half Kristen hinaus und folgte Blaine zum Haus.

McCracken riß die Tür auf und lief ins Wohnzimmer. Er sah sich um und entdeckte auf einem Ecktisch ein Telefon. Ein paar Sekunden, nachdem er den Hörer abgehoben hatte, meldete sich die internationale Vermittlung. Nach ein paar weiteren Sekunden hörte er unter der Nummer, die der Präsident ihm gegeben hatte, den Klingelton.

»Emergency Communications«, sagte eine Stimme.

»Was?«

»Sie sind mit der Emergency Communications oder EMER-COM verbunden«, fuhr die Stimme fort. »Nennen Sie Ihren Namen und Ihre Kodenummer.«

McCracken hatte nie von EMER-COM gehört. »Mein Name ist McCracken, und ich habe keine Kodenummer.«

»Bitte unterbrechen Sie die Verbindung. Andernfalls werden wir …«

»Hören Sie, der Präsident hat mir diese Nummer gegeben. Ich muß ihn erreichen.«

»Sie verstoßen mit diesem Anruf gegen die Bestimmungen und verletzen die Nationale Sicherheit.«

»Verdammt! Überprüfen Sie, von welchem Amt dieser Anruf umgeleitet wurde. Sie werden feststellen, daß es sich um die Privatnummer des Präsidenten handelt. Er hat sie mir gegeben, damit ich eine wichtige Information direkt an ihn weitergeben kann. Ich habe diese Information nun und muß sie weitergeben, und das heißt, Sie müssen mich zu ihm durchstellen, verdammt noch mal, ganz gleich, wo er gerade ist.«

Der Mann zögerte. Blaine war sicher, daß er seine Angaben überprüfte und die ursprüngliche Nummer feststellte, hielt aber trotzdem die Daumen gedrückt.

»Bestätigung. Ich stelle Sie jetzt durch.«

McCracken hörte am anderen Ende der Leitung ein Klicken, bei dem es sich um das einer Computertastatur zu handeln schien, und wartete ungeduldig ab.

Das Gespräch kam über den Kopfhörer der Hubschrauberpiloten, als das Sicherheitskommando, das den Präsidenten durch die steife Brise geleitete, auf halbem Weg zu dem in den Berg eingelassenen Fahrstuhl führte.

»EMER-COM für den Präsidenten.«

»Wir sind gerade vor dem Mount Weather gelandet. Er ist auf dem Weg in die Einrichtung.«

»Holen Sie ihn bitte zurück.«

Der Pilot sprang hinab, bildeten mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief etwas. Der starke Wind verschluckte seine Worte, und niemand hörte ihn. Der Trupp des Präsidenten bestieg den Fahrstuhl, und die schwarze Stahltür schloß sich hinter ihm.

»Tut mir leid«, sagte er in sein Mikrofon, nachdem er in den Hubschrauber zurückgekehrt war. »Er hat die Anlage schon betreten.«

»Der Präsident ist im Augenblick nicht zu sprechen«, informierte EMER-COM McCracken.

»Mein Gott … er befindet sich bereits im Mount Weather, nicht wahr? Nein, antworten Sie mir nicht. Stellen Sie mich zu ihm durch. Verbinden Sie mich mit irgend jemandem im Berg.«

Der Fahrstuhl senkte sich etwa dreißig Meter tief in die Blue Ridge Mountains. Seine Türen öffneten sich und enthüllten einen langen Gang, auf dessen beiden Seiten Soldaten strammstanden.

»Sehr beeindruckend, Herr General«, sagte der Präsident zu Cantrell.

»Das sind Einsatztruppen, die erst gestern hierher versetzt worden sind, um die üblichen Sicherheitskräfte zu verstärken. Sie befinden sich nur für den Fall hier, daß die Opposition sich in einer letzten Verzweiflungstat entschließt, Mount Weather selbst anzugreifen.«

»Ich fühle mich bereits sicherer.«

»Kommunikationszentrale Mount Weather.«

»Sprechen Sie«, wies EMER-COM McCracken an.

»Bitte verbinden Sie mich mit dem Präsidenten.«

»Er ist gerade erst hier eingetroffen.«

»Holen Sie ihn. Sagen Sie ihm, daß der Sack wieder mal gekracht hat.«

»Was?«

»Sie haben schon richtig verstanden. Richten Sie ihm genau das aus!«

Der Präsident schritt, flankiert von Charlie Byrne und General Cantrell, den Gang entlang, der zum Nervenzentrum von Mount Weather führte. Angela Taft bildete einen Schritt vor den vier Agenten des Secret Service die Nachhut. Plötzlich trat ein Uniformierter vor sie und salutierte.

»Sir«, wandte er sich an den Präsidenten, »gerade kam über Notfall-Verbindung ein Anruf für Sie. Der Teilnehmer möchte mit Ihnen sprechen.«

»Um wen handelt es sich?«

»Der Anrufer hat gesagt, ich solle Ihnen ausrichten … daß der Sack wieder mal gekracht hat.«

»McCracken!« begriff der Präsident und sah General Cantrell an. »Wo kann ich den Anruf entgegennehmen?«

»Hier unten, Sir.«

Der Präsident wollte dem Mann folgen, als Cantrell fast unmerklich nickte. Die Soldaten, die die Gruppe umgaben, hoben ihre Waffen und richteten sie auf den Präsidenten, Charlie Byrne und Angela Taft. Die Agenten vom Secret-Service, die die Gruppe begleitet hatten, bildete augenblicklich einen Schutzschild um den Präsidenten. Man sah ihnen an, daß es ihnen in den Fingern juckte, ihre Waffen zu ziehen.

»Tun Sie es lieber nicht, meine Herren«, sagte Cantrell und zog seine eigene Waffe. »Meine Männer haben den Befehl, sofort zu schießen, sobald sie eine Pistole sehen.«

Die Hände der Agenten erstarrten und sanken dann langsam tiefer.

»Und jetzt treten Sie zurück«, befahl Cantrell, »und heben Sie die Hände.« Nachdem sie die Anweisung befolgt hatten, wandte er sich an die Soldaten im Gang. »Setzten Sie das Personal der Basis fest und sichern Sie die Funkzentrale!«

Ein Teil der Soldaten lief im Laufschritt los, um die ihnen im voraus zugeteilte Aufgabe auszuführen.

»Sie sind ein Arschloch, General Cantrell«, sagte der Präsident dem Delphi-Verräter ins Gesicht, der seinen Inneren Zirkel infiltriert hatte.

Der General richtete die Pistole auf ihn, während einige der verbliebenen Soldaten die Secret Service-Agenten gegen die Wand drückten und sie nach zusätzliche Waffen abtasteten. »Und Sie stehen unter Arrest, Sir.«

Einige Minuten verstrichen, dann meldete sich aus Mount Weather eine andere Stimme. »Der Präsident ist zur Zeit unabkömmlich.«

»Haben Sie ihm meine Nachricht ausgerichtet?« fragte Blaine. »Wer spricht da überhaupt?«

»Wenn sie uns Ihre Nummer geben, wird er Sie zurückrufen, sobald es ihm möglich ist.«

McCracken legte auf.

»Was ist los?« fragte Kristen von der Schwelle; Bota Matabu stand neben ihr.

»Sie haben ihn geschnappt«, sagte Blaine. »Wir haben es nicht mehr rechtzeitig geschafft.«

Kristen wechselte einen Blick mit Matabu; beiden war klar, was das bedeutete.

»Das nennt man die Loch-Therapie«, erklärte Blaine ihnen im Wagen, nachdem er geschildert hatte, was er am Vorabend über Dreyers Büro belauscht hatte.

»Die was?« fragte Kristen.

»Hat damit zu tun, jemanden mit einer falschen Drohung zu bewegen, sich an einen vermeintlich sicheren Ort zurückzuziehen, sozusagen in ein Loch. Aber das Loch ist in Wirklichkeit ein Gefängnis, und die betreffende Person geht in eine Falle.«

Die Delphi hatten es fertiggebracht, die Tatsache, daß das Weiße Haus hinter ihren ursprünglichen Plan gekommen war, zu ihrem Vorteil auszunutzen. Die gesamte Regierung war evakuiert und an sichere Orte gebracht worden, an denen sie angeblich die bevorstehende Schlacht abwarten sollte. Aber diese sicheren Orte waren nun in Internierungslager umgewandelt worden, die sich kaum von Sandburg Eins unterschieden; diejenigen, die eigentlich das Land führen sollten, waren in die Falle gelockt worden, um entweder dort festgehalten oder umgebracht zu werden.

Kristen beobachtete McCracken, der sich über das Telefon beugte. »Und was passiert jetzt?«

»Die Delphi führen die Zerstörung Washingtons herbei, schieben die Schuld anderen in die Schuhe und erheben sich als effektiv einzige regierungsfähige Körperschaft aus den Trümmern. Das Land wird gezwungen sein, sie zu akzeptieren – ja, es wird sogar froh sein, die Delphi zu haben. Und natürlich auch Dodd, denn für ihn gibt es keine Alternative. Unsere Nation kann sich an niemanden sonst wenden.«

»Genau wie wir …«

Blaines Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Seine Gedanken rasten. »Vielleicht nicht.«

Er nahm den Hörer wieder ab und wählte eine andere lange Nummer, drückte so schnell er konnte auf die Tasten.

»Wen rufen Sie an?« fragte Kristen verblüfft.

»Unsere eigene Armee.«

»Sie haben Clifton Jardine umgebracht«, fauchte der Präsident Trevor Cantrell an.

»Er hat nicht begriffen, wie knapp sein Mitarbeiter Daniels davorstand, uns zu entlarven. Vor dem Treffen, das er mit Ihnen vereinbart hatte, bat er mich um Rat.«

»Und jetzt …«

»Sie kennen unser Vorgehen genausogut wie ich, Mr. President. Und jetzt werden wir Washington verwüsten. Morgen um diese Zeit werden die Insassen von Greenbrier und Site R wie auch ein weiterer ausgewählter Personenkreis unter Haft stehen. Die Regierung wird ihres Amtes enthoben worden sein.«

»Damit Sam Jack Dodd einspringen kann, nachdem Sie Ihr Feuerwerk abgezogen haben.« Der Präsident drohte seine Beherrschung zu verlieren. »Wie viele unschuldige Menschen wollen Sie töten? Wie viele Opfer sind nötig, damit das Land eine solche Angst bekommt, daß es akzeptiert, was Sie anzubieten haben?«

»So viele, Sir, daß niemand es bedauern wird, wenn die Ordnung schließlich wiederhergestellt wird.«

»Sagen Sie nicht ›Sir‹ zu mir. Sie können Ihren vorgetäuschten Respekt jetzt aufgeben.«

Cantrell schaute ehrlich verletzt drein. »Daran ist nichts vorgetäuscht, Sir. Mein Respekt für Sie gilt dem Amt, das Sie innehaben, und der Nation selbst. Was ich getan habe, was wir getan haben, dient in langer Sicht dem Wohl dieser Nation.«

»Sicher«, pflichtete der Präsident ihm zynisch bei, »denn die Delphi sehen sich selbst als die einzigen, die imstande sind, die ganze Welt zu führen.«

»Genau darum geht es, Sir: Nur indem wir die Welt führen, können wir dieses Land erfolgreich führen. Vereinigung, Zentralisation – Feinde werden in Abhängigkeit gebracht und dadurch beherrscht.«

»Womit Sie diese Faschisten meinen, mit denen die Delphi sich zusammengetan haben.«

Cantrell kniff argwöhnisch die Augen zusammen und öffnete sie dann erstaunt wieder. »Offensichtlich hat McCracken mehr herausgefunden, als Sie uns mitgeteilt haben.«

»Er hat mir geraten, einige Informationen zurückzuhalten.«

»Wir führen sowieso eine rein akademische Diskussion. Sie können sie nennen, wie Sie wollen, aber wir akzeptieren alle Bundesgenossen, die uns helfen, dieses Land wieder stark zu machen. Und was Sie betrifft, Sir, war der Zeitpunkt einfach ungünstig. Es hätte jeden treffen können.«

»Aber es hat nicht jeden getroffen, sondern mich. Und ich versichere Ihnen, Sie werden gewaltig auf die Schnauze fallen. Glauben Sie etwa, Sie könnten Washington einfach so einnehmen?«

»Keineswegs, Sir«, sagte Cantrell zuversichtlich und ging rückwärts zur Tür, »denn wir befinden uns bereits in Washington, und es ist niemand mehr da, der uns aufhalten könnte.«

»Vergessen Sie da nicht jemanden?«

Der General erstarrte. Seine Hand verharrte kurz vor der Türklinke. »McCracken? Um den kümmern wir uns, wenn er Sie befreien will.«

»Ich glaube nicht, daß er mich befreien wird, Herr General. Ich vermute, er wird eher Sie aufhalten. In Washington.«

Cantrell versuchte, zuversichtlich dreinzuschauen. »Dann wird er dort sterben, genau wie alle anderen auch, die uns Widerstand leisten.«

»Das werden wir ja sehen, General.«

»Ja, Sir, das werden wir, denn Mr. Dodd hat für eine Satellitenschaltung gesorgt, die es uns ermöglicht, die Ereignisse des morgigen Tages zu beobachten. Ich habe Ihnen einen Platz in der ersten Reihe reserviert.«