Fünfunddreißigstes Kapitel

Sie saßen im Kreis auf der Grasfläche der Mall, so daß jeder von ihnen einen freien Blick entweder auf das Kapitol oder das Washington Monument hatte. Neben Cleese, Kristen und McCracken waren es noch vier Midnight Riders, zwei Männer und zwei Frauen.

»Ich möchte euch mein Aufklärungsteam vorstellen«, begann Cleese. »Das sind Luke, Sally, Freedom und Bird Man.«

Die Riders nickten kurz, als sie vorgestellt wurden. Das Gros der übrigen Mitglieder hatte bereits damit begonnen, sich unauffällig in kleinen Gruppen über die Stadt zu verteilen. Sie standen mit Cleese in Sprechfunkkontakt.

»Diese vier waren von Anfang an dabei«, erzählte er. »Mein Gott, wie viele Nächte haben wir damit verbracht, uns vorzustellen, wie es auf der anderen Seite ist … Wie dem auch sei, ich habe jedem von ihnen einen Bezirk der Stadt zugewiesen, so daß wir uns ein Bild davon machen können, was uns bevorsteht. Vielleicht fängst du einfach mal an, Bird Man.«

Bird Man hatte helles, gelocktes Haar und eine nach unten gebogene, schnabelförmige Nase, der er seinen Spitznamen verdankte. »Wir haben viele Fahrzeuge ausgemacht, die nach Müllabfuhr oder Stadtreinigung aussehen. Viele Leute halten sich in ihrer Nähe auf, aber keiner von ihnen scheint zu arbeiten.«

»Kleidung?« wollte Blaine wissen.

»Nichts Besonderes, ganz normale Straßenkleidung. Sie geben sich größte Mühe, unauffällig zu wirken. Deshalb sind sie mir aufgefallen.«

»Wie viele?«

»Das spielt keine Rolle, weil sie sowieso nur die Vorhut darstellen«, mischte Luke sich ein. Er nahm die Sonnenbrille ab und enthüllte dunkle, stahlblaue Augen und ein Gesicht, das Blaine von Steckbriefen wiedererkannte, die nach den radikalsten Mitgliedern der Black Panthers fahndeten. »Sie halten quasi nur die Umgebung im Auge. Die spätere Verstärkung hält sich allem Anschein nach versteckt, um abzuwarten, bis es so weit ist.«

»Wo?«

»Im Turm des alten Postamts«, sagte Luke. »Sämtliche Geschäfte sind gerammelt voll, aber niemand kauft was. Die Restaurants sind überfüllt, aber viele Leute hängen dort einfach nur rum. Mist, ich hätte es höchstwahrscheinlich genauso gemacht.«

»Der Uhrturm«, sagte Blaine.

»Wie bitte?« fragte Cleese.

»Die beiden höchsten Gebäude im Stadtzentrum sind die Aussichtsplattform auf dem Turm des alten Postamts und die Spitze des Washington Monuments. Wer die Stadt übernehmen will, wird diese Stellen zuerst besetzen.«

»Scharfschützen?«

»Man muß nur zwei Trupps dort positionieren, und der Rest ist einfacher als ein Übungsschießen.«

»Vor allem kann man von dort aus genau feststellen, wo sich noch Widerstand regt«, sagte die Frau namens Freedom. Sie hatte ihr blondes Haar zu Zöpfen geflochten und schob einen Kinderwagen neben sich vor und zurück. »Sie werden uns entdecken und schon auf der Pennsylvania Avenue aufhalten.«

Cleese sah McCracken an. »Raketen? Sollen wir sie ganz schnell ausschalten?«

Blaine schüttelte den Kopf. »Sie denken noch immer wie ein Revolutionär.«

»Eine sehr alte Angewohnheit.«

»Legen Sie sich neue zu: Denken Sie wie ein Soldat!«

»Geben Sie mir ein Beispiel.«

»Was für sie wichtig ist, ist für uns genauso wichtig. Aus denselben Gründen.«

»Da komme ich nicht ganz mit, Mac.«

»Das wird schon.« McCracken überlegte. »Wie gut sind Ihre Schützen, Arlo?«

»Gut genug. Aber diese Waffe stand nicht auf meinen Einkaufszettel, als wir bei Alvarez waren.«

»Darum werde ich mich kümmern. Erzählt mir mehr über diese Fahrzeuge.«

Freedom beugte sich vor. Sie hörte kurzzeitig auf, den Kinderwagen zu bewegen, worauf das Baby zu wimmern begann.

»Raindance und ich haben uns bei den Sehenswürdigkeiten Washingtons herumgetrieben«, sagte sie und bewegte den Kinderwagen wieder. »Wir haben diese Lieferwagen in der Umgebung des Weißen Hauses, des Kapitols und des Obersten Gerichtshofs gesehen. Ich denke, Sie verstehen.«

»Darin dürften sich die Waffen von Delphi befinden«, erklärte McCracken. »Die Männer, die Bird Man um die Lieferwagen postiert gesehen hat, sind Wachen für den Fall, daß sich ein Passant zu nahe herantraut. Aber es gibt noch viel mehr Leute, als er gesehen hat. Wenn die Show beginnt, werden sie alle zu den Lieferwagen kommen und sich ihre Waffen holen.«

»Sie müssen sich gar nicht in unmittelbarer Nähe aufhalten«, führte Luke den Gedanken weiter. »Sie brauchen sich nur ins Getümmel zu stürzen und sich auf den Weg zur Hardware machen.«

»Das bedeutet, daß wir die Möglichkeit haben, sie davon abzuschneiden«, schloß die Frau namens Raindance, deren Haut so blaß war, daß McCracken sich fragte, ob sie in ihrem Leben schon einmal die Sonne gesehen hatte.

»Unterschätzt auf keinen Fall ihre Wachen«, warnte er sie. »Auch wenn nur wenige auf den Straßen postiert sind, könnt ihr sicher sein, daß sich in der Nähe jedes dieser Fahrzeuge noch viele weitere versteckt halten. Um mit ihnen fertig zu werden, brauchen wir selbst gute Deckung.« Er sah Cleese an. »Wie sieht es mit euren Sprengstoff Vorräten aus?«

»Sie dürften ausreichen.« Sein Gesicht war fast genauso weiß wie das von Raindance geworden, aber es zeigte kalte Entschlossenheit. »Und sie wollten diese verdammte Revolution uns anhängen!«

»Alle Anzeichen hätten in eure Richtung gewiesen«, stimmte Blaine zu. »Nachdem die Verwaltung außer Gefecht gesetzt ist, wird Dodd vermutlich persönlich die Nachforschungen leiten.«

»Außer, daß ich jetzt tot wäre, wenn Sie nicht gewesen wären.«

»Aber die Fährte, die von Ihnen zu Alvarez und den Waffen führte, die Washington in Schutt und Asche legen werden, wären noch sehr frisch gewesen. Sie sind nur ein Symbol, ein Scheingegner, den Delphi braucht, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen.«

»Und das Land dazu.«

»Genau darum geht es.«

Cleese nickte. »Wenn wir früh genug hart zuschlagen, werden wir ihnen die Gelegenheit vermasseln. Die Sache ist nur, wie stellen wir es an?«

McCracken sah kurz in Kristen Kurcells Augen, bevor er mit seiner Erklärung begann. »Wir fangen mit dem alten Postamt an …«

Frank Richter kam allmählich wieder zu Bewußtsein. Die Welt um ihm herum war verschwommen und klärte sich langsamer als das Bild eines billigen Fernsehers. Sein Kopf dröhnte, und er spürte, wie etwas Weiches gegen seinen Schädel gedrückt wurde.

»Was ist passiert?« fragte er mit heiserer Stimme.

Über ihm nahm ein Junge eine blutgetränkte Jacke von seinem Kopf und faltete sie neu, um eine noch unbeschmutzte Stelle zu finden.

»Man hat uns hierher gebracht«, sagte einer der älteren Jungen. »Nachdem man Sie niedergeschlagen hat.«

»Wer?«

»Die Männer«, meldete sich ein anderer. »Sie hatten Waffen.«

»Wie viele Männer?«

»Ich glaube, fünf. Ja, fünf.«

»Einer war ziemlich groß«, fügte ein anderer hinzu. »Und häßlich.«

Richter sah sich in der Dunkelheit um, die nur von den Strahlen einiger Taschenlampen durchschnitten wurde. »Wo sind wir?«

»In einem anderen Teil der Mine«, antwortete ein Vierter.

Richter stellte fest, daß die Temperatur hier zumindest ein paar Grad höher als im vorderen Teil der Mine war. Aber es war immer noch verdammt kalt, und die Männer, wer immer sie sein mochten, hatten den Jungen nicht erlaubt, ihre Schlafsäcke mitzunehmen. Er sah, daß sie in ihren dünnen Jacken zitterten.

Es war klar, daß der Inhalt der Laster mit ihrer Gefangennahme zu tun hatte. Und die Tatsache, daß die Leute sie mit dieser Information nicht lebend aus der Mine lassen würden, war ebenso klar.

Richter nahm die blutige Jacke vom Kopf und bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen. Es hatte keine Zweck, sich um den vorderen Teil der Mine zu kümmern. Selbst wenn der Rückweg unbewacht wäre, würden die Männer sie früh genug hören, um zu reagieren.

»Hat irgend jemand nachgesehen, ob es noch einen weiteren Ausgang aus dieser Kammer gibt?« fragte er.

»Ein paar von uns haben danach gesucht«, sagte ein älterer Junge, »aber keiner hat etwas gefunden.«

»Wir müssen weitersuchen«, sagte Richter zu ihnen. »Ich kenne diese Minen, und ich sage euch, daß es immer noch einen zweiten Ausgang gibt. Wir müssen nur danach suchen.«

Johnny Wareagle und Sal Belamo wußten genau, daß ihre Reise vorzeitig zu Ende gehen würde. Mit grimmig entschlossenen Gesichtern hockten sie auf den Vordersitzen des Jimmys und starrten hinaus in den Sturm, der nicht nachlassen wollte. Vor fünf Kilometern hatte Johnny das Steuer übernommen, und seitdem hatte er es irgendwie geschafft, den Jimmy durch die Schneewehen auf der Straße zu bugsieren, die immer höher wurden. Inzwischen war der Schnee an vielen Stellen bereits höher als die Achsen, so daß sie nur noch stockend vorwärtskamen. Beide wußten, daß sie in ein paar Minuten überhaupt nicht mehr weiterkommen würden. Der Jimmy würde sich einfach mit durchdrehenden Rädern eingraben.

»Werden wir den Rest des Weges in diesem Teil der Rockies zu Fuß zurücklegen, Häuptling?« fragte Belamo, dem die Stille im Fahrzeug unheimlich wurde.

Er drehte sich zu Johnny um und bemerkte, daß der große Indianer etwas am rechten Straßenrand entdeckt hatte, der zu einer Schlucht abfiel. Wareagle lenkte den Wagen auf den nicht mehr zu erkennenden Seitenstreifen und brachte ihn vor einer Schneewehe zum Stehen, die genauso hoch wie die Motorhaube war.

»Was gibt's, Häuptling?«

»Sieh selbst, Sal Belamo!«

Sal folgte Johnnys Blickrichtung und sah einen orangefarbenen Schimmer, der sich über der weißen Schneedecke ausbreitete.

»Sieht aus wie …«

Wareagle war durch die offene Tür nach draußen geklettert, bevor Sal den Gedanken zu Ende bringen konnte. Belamo gesellte sich im knietiefen Schnee am Straßenrand zu ihm. Genau vor ihnen in der Schlucht stand etwas, das wie ein Bulldozer ohne Schaufel aussah.

»Eine Schneekatze«, rief Wareagle durch den Schnee, der ihm ins Gesicht wehte.

»Ohne Krallen, wenn du mich fragst.«

Der vordere Teil der Raupenkette steckte zur Gänze im Schnee, der hintere war halb bedeckt. Sal und Johnny kämpften sich den ziemlich steilen Weg in die Schlucht hinab. Johnny erreichte als ersten die Fahrerkabine und riß die Tür auf. Ein alter, bärtiger Mann war im Fahrersitz zusammengesackt. Eine Spur geronnenen Blutes zog sich von der Stirn die rechte Seite seines bleichen Gesichts hinab.

»Er lebt noch«, stellte Wareagle fest, nachdem er dem Mann am Hals den Puls gefühlt hatte.

»Ich hole den Kaffee und den Erste-Hilfe-Koffer«, sagte Belamo und machte sich auf den Rückweg zur Straße.

Der alte Mann rührte sich. Der kalte Wind schien ihn wiederzubeleben. Er drehte sich ein Stück, und Johnny entdeckte einen alten Peacemaker-Colt in seinem Hüftgurt. Am Aufschlag seiner schweren Jacke, die seine magere Gestalt einhüllte, war ein angelaufenes silbernes Abzeichen befestigt. Der alte Mann öffnete langsam die Augen und richtete seinen Blick auf Wareagle.

»Falls ich tot bin, sag mir nur, wo ich gelandet bin.«

»Immer noch auf der Erde«, sagte Johnny zu ihm. »Allerdings an einem ziemlich ungemütlichen Plätzchen.«

»Das ist die ehrliche Wahrheit Gottes.«

Der alte Mann musterte ihn noch einmal. »Hast du dich im Sturm auf dem Rückweg ins Reservat verlaufen, Rothaut?«

»Nicht direkt.«

»Was führt dich dann mitten in diesen Sturm, der jeden umzubringen versucht, den er zu fassen bekommt?«

»Ich habe zumindest einen Menschen gefunden, bei dem er das noch nicht geschafft hat.«

»Ein guter Grund.« Der alte Mann berührte die Beule an seiner Stirn, von der die Blutspur ihren Ausgang nahm.

»Schätze, ich kann diese Dinger nicht mehr so gut fahren wie früher. Ich konnte überhaupt nichts mehr sehen. Eben war die Straße noch da, und im nächsten Augenblick …«

Wareagles Blick wanderte zum überfüllten Stauraum hinter den zwei Sitzen in der Fahrerkabine. Auf verschiedenen Vorräten lag ein Gewehr.

»Eine Gruppe Pfadfinder steckt in einer alten Silbermine fünfundzwanzig Kilometer weiter fest«, erklärte der alte Mann, als er Johnnys Blick bemerkte. »Mit dem Zeug da hinten sollen sie wieder auf die Beine kommen, wenn ich noch rechtzeitig eintreffe.«

»Und die Flinte?«

Der alte Mann sah sich noch einmal danach um, bevor er antwortete. »Sie sind nicht allein.«

»In diesem Wetter bekommen wir die Laster nicht von der Stelle«, sagte der Mann, der rechts neben Traggeo stand. Sein Name war Boggs, und auch er war ein Überlebender der Salvage Company, einer der vier, die Traggeo persönlich rekrutiert hatte.

»Wir haben keine Wahl«, entgegnete der große Mann.

Die betäubende Kälte hatte wenig dazu beigetragen, den Schmerz in seinem rechten Oberarm zu lindern, wo Johnny Wareagles Messer ihn vor fünf Tagen verletzt hatte. Traggeo konnte den Schmerz nur so lange verdrängen, bis eine schnelle Bewegung oder eine leichte Berührung des empfindlichen Fleischs ihn zurückbrachte. Jeder Schmerzanfall erfüllte ihn von neuem mit Haß. Er hatte damals die Gelegenheit verpaßt, den legendären Indianer in Sandburg Eins zu töten, und konnte nur darauf hoffen, daß das Schicksal ihm eine weitere Gelegenheit verschaffte, sich den Geistern würdig zu erweisen.

»Der Funkruf wurde beantwortet«, sagte Traggeo. »Jemand hat ihn gehört und wird sich auf den Weg machen.«

»Der Sturm wird auch ihn aufhalten«, erwiderte Boggs.

»Nicht, wenn Kinder in Gefahr sind. Man wird einen Weg finden. Wir müssen die Laster hier rausbringen.«

Boggs zog sich wieder in den Unterschlupf hinter dem Eingang zur Mine zurück. Die fünf ehemaligen Mitglieder von Tyson Gashs berüchtigter Salvage Company hatten sich in ihrem sicheren und warmen Lager aufgehalten, das sie in einem anderen Teil der Mine aufgeschlagen hatten, als der Tumult begann. Traggeo hatte sich erst dann zum Eingreifen entschlossen, als ein paar der Kinder die Laster entdeckt hatten und der einzige Erwachsene unter ihnen über Kurzwelle zu funken begonnen hatte.

»Wenn wir die Laster rausbringen«, sagte Boggs, »wissen die Kinder trotzdem noch, was sie geladen haben.«

»Dann müssen wir dafür sorgen«, sagte Traggeo zu ihm, »daß die Rettungsmannschaft zu spät eintrifft, um ihnen noch helfen zu können.«

Erst nachdem Sheriff Duncan Farlowe seinen Bericht beendet hatte, versuchten sie, die Schneekatze wieder in Bewegung zu setzen.

»Sieht so auf, als hätten wir gefunden, wonach wir suchen«, sagte Sal Belamo schließlich.

»Suchen?« fragte Farlowe, bevor Wareagle antworten konnte. »Was, zum Teufel, habt ihr vor? Moment mal, es hat bestimmt mit Kristen zu tun. Kristen hat euch auf die Spur gebracht!«

»Ja«, bestätigte Johnny ohne weitere Erklärung.

»Wie geht es ihr? Sagt mir nur, wie es ihr geht.«

»Vorläufig noch ganz gut. Genauso wie uns allen.«

Farlowe verstand, was Wareagle nicht ausgesprochen hatte. »So schlimm?«

»Schlimmer«, sagte Belamo.

»Wir müssen unbedingt zu dieser Mine«, fügte Wareagle hinzu.

Er übernahm das Steuer, als sie aufbrachen, während Sal Belamo neben ihm saß und Sheriff Duncan Farlowe sich zwischen die Vorräte gezwängt und die Flinte in den Schoß genommen hatte. Zuerst rührte sich die Schneekatze im Sturm nicht von der Stelle, doch dann lenkte Johnny sie statt dessen bergab, um sie in Bewegung zu bringen. Es funktionierte. Die Panzerketten begannen sich zu drehen. Große Schneewolken wirbelten auf, als das Fahrzeug sich mit einem Ruck aus der Schneewehe befreite. Johnny richtete es zunächst waagerecht aus, bevor er die allmähliche Steigung in Angriff nahm. Dann trugen die Ketten es über den Abhang und zurück auf die Straße.

Ihr Jubel währte jedoch nur so lange, bis die Straße plötzlich steiler wurde. Die Berge erhoben sich wie bedrohliche Riesen, die sich hinter dem Schleier aus wirbelnden Schneeflocken abzeichneten. Jeder Meter, den die Schneekatze schaffte, war ein Erfolg. Die wühlenden Ketten kämpften sich zentimeterweise durch den Sturm.

»Ist das hier der einzige Weg, auf dem sie die Höhle verlassen können?« wollte Johnny von Sheriff Farlowe wissen.

»Sie werden sich nicht den Weg machen, bevor wir …« Farlowe verstummte plötzlich. »Ach, du redest gar nicht von den Kindern!«

»Nein.«

»Aber du machst dir trotzdem Sorgen um sie, das ist mir klar. Und mir ist auch klar, daß du Ihnen helfen wirst, heil aus dieser Sache rauszukommen.«

»Und weiter?« fragte Johnny.

»Du glaubst doch nicht, daß ich die Absicht hatte, direkt vor die Mine zu fahren und einfach an die Tür zu klopfen, oder?«

Johnny drehte sich zu ihm um.

»Es ist nämlich so. Ich denke, daß ich uns in die Mine bringen kann, ohne daß die Leute, die diese Laster bewachen, etwas davon mitkriegen.«

»Da ist der Rettungstrupp«, verkündete Traggeo, als die Schneekatze, die sich durch den Sturm über den Bergpaß näherte, deutlich zu erkennen war.

Traggeo trat in den Schutz des Mineneingangs zurück. Er hatte die Aufbruchzeit für sein Team und die Fracht auf vier Uhr festgesetzt. Dieser Zeitplan bedeutete, daß sie zum Höhepunkt des Sturms losfahren würden, und er wußte, wie prekär das werden konnte. Doch der Sturm war ein geringeres Risiko als eine mögliche Entdeckung durch ein Rettungsteam. Da es noch keine vier Uhr war, wollte er gerade in den rückwärtigen Teil der Höhle gehen, um das Problem des Pfadfinderfähnleins zu lösen, als das Geräusch des Motors plötzlich seine Prioritäten änderte.

»Ihr beiden«, sagte er und zeigt auf Boggs und einen anderen Ehemaligen der Salvage Company namens Kreller, »werdet mit mir kommen.«

Bevor sie nach draußen gingen, verschlossen Boggs und Kreller ihre Jacken und zogen sich Skimasken über die Gesichter. Traggeo ließ sein Gesicht unbedeckt, weil er die Eiseskälte des Sturms auf der bloßen Haut in Kauf nehmen wollte, um bessere Sicht zu haben. Da er keine Gelegenheit gehabt hatte, sich den Kopf zu rasieren, war sein Haar in Form von schwarzen Stoppeln nachgewachsen, die sofort von dicken weißen Schneeflocken überzogen wurden, als er den Schutz der Mine verließ. Er hatte nicht nur das Bedürfnis, sich seiner Stoppeln zu entledigen, sondern auch, sie durch den frischen Skalp eines Opfers zu ersetzen.

Die Beseitigung der Gefahr, die die sich nähernde Schneekatze darstellte, war nur ein Teil des Problems. Sobald sich das Wetter gebessert hatte, würden weitere Rettungsvorstöße unternommen werden, und Traggeo durfte auf keinen Fall das Risiko eingehen, auf ihre Ankunft zu warten. Er mußte seine Laster und ihre wertvolle Fracht von hier wegschaffen, bevor jemand den Spuren der Schneekatze folgte.

Zweihundert Meter von der Mine entfernt fand er die ideale Stelle für einen Hinterhalt, wo die Straße nach einer leichten Kurve in eine gerade Strecke überging. Er befahl Boggs und Kreller, an dieser Position auf die Schneekatze zu warten. Dann zog Traggeo seine Pistole und klopfte mit der Hand auf sein Skalpiermesser, das auf der anderen Seite seiner Hüfte in der Scheide steckte.

»Hörst du es?« fragte Farlowe den Indianer, als der Tunnel in der alten Silbermine schließlich nach oben zu führen begann.

»Stimmen«, antwortete Johnny.

»Genau vor uns. Gewöhnlich wird es auf dem letzten Stück ziemlich steil, wenn es nacheinander durch mehrere Kammern geht …«

Die beiden hatten die Schneekatze vor zwanzig Minuten verlassen. Farlowe schätzte, daß es mindestens ebenso lange dauern würde, einen Hintereingang zur Silbermine zu finden und sich bis zur Hauptkammer vorzuarbeiten. Sie hatten abgemacht, daß Sal Belamo die Schneekatze erst fünfzehn Minuten nach ihrem Aufbruch wieder in Bewegung setzen sollte, um einige der Delphi-Wachen nach draußen zu locken, wenn er sich näherte.

Im Innern des Schachts, in den sie eingestiegen waren, herrschte bereits nach der ersten Biegung absolute Finsternis. Nachdem sie ihre Taschenlampen eingeschaltet hatten, war Farlowe dem Gang gefolgt, als wäre er schon hundertmal hiergewesen. Tatsächlich war er noch nie in dieser Mine gewesen, aber er kannte hundert andere, die allesamt ähnlich angelegt waren.

Die Steigung auf dem letzten Stück war wesentlich größer gewesen, als Johnny aufgrund Farlowes Beschreibung angenommen hatte. Der große Indianer blieb hinter dem Sheriff und half ihm, sich zum Hauptteil der Mine und in Richtung der Stimmen hinaufzuziehen.

Wareagle war sehr vorsichtig, als er sich auf ihren Ursprung zubewegte, bis er deutlich hören konnte, daß es die Stimmen von Kindern waren. Der Boden verlief ein paar Meter weit waagerecht, bevor er noch einmal ziemlich steil zu einer Holzluke hinaufführte. Als Johnny sie aufstieß, rieselte Erde über ihn und Farlowe. Er stieg hoch und reichte dem Sheriff seine Hand. Dann ließ er Farlowe wieder den Vortritt, der ihn zu einer Stelle führte, wo zwanzig Meter weiter die Lichtkegel von ein Dutzend Taschenlampen auf engstem Raum zu sehen waren.

»Ihr Jungs solltet eigentlich wissen, daß das Betreten dieser Mine verboten ist«, erklärte Farlowe leise, worauf sich die Lichtstrahlen auf sie richteten. »Ich fürchte, ich muß euch verhaften.«

Im Widerschein der Lampen sah er die dankbaren Augen der Pfadfinder. Ein einzelner Erwachsener kam mühsam auf die Beine, wobei er sich auf die Schulter eines älteren Jungen stützte.

»Gott sei Dank«, stöhnte Frank Richter. »Gott sei Dank, daß Sie uns gefunden haben.«

»Sie können Gott danken, wenn Sie möchten, aber Sie sollten meinen Freund hier nicht vergessen«, sagte Farlowe, als Johnny Wareagle neben ihn trat.

Das Kommunikationszentrum von Mount Weather war in Form eines Miniatur-Amphitheaters angelegt. Der Boden war so geneigt, daß jeder, der auf einem der circa fünfzig Sitze saß, gut sehen konnte, auch wenn an diesem Abend nur drei der Sitze benötigt wurden.

Als die Zeit immer näher auf neunzehn Uhr zurückte, wurden der Präsident, Charlie Byrne und Angela Taft von einem halben Dutzend bewaffneter Wachen zu Stühlen in der ersten Reihe geführt. General Trevor Cantrell war bereits anwesend und stand direkt vor dem riesigen Bildschirm, der den größten Teil der Vorderwand einnahm. Der hochauflösende Monitor war wesentlich breiter als hoch und glich somit in seinem Format eher einer Kinoleinwand als einem normalen Fernsehbild.

»Es wird Sie freuen zu hören, daß die Operation Evac noch reibungsloser als geplant ablief«, sagte Cantrell zum Präsidenten. »Vierundneunzig Prozent der Personen auf der Liste sind gegenwärtig entweder in Greenbrier, Site R oder hier interniert.«

Cantrell trat zur Seite, um ihnen freie Sicht auf den Bildschirm zu geben.

»Eine beeindruckende Verwendung von Steuergeldern«, bemerkte der Präsident.

»Und außerdem müssen wir den Dodd Industries für das danken, was wir in Kürze zu sehen bekommen«, erklärte der General und benutzte eine hochkompliziert aussehende Fernbedienung, um den Monitor einzuschalten.

Die Mattscheibe erhellte sich sofort mit einem kristallklaren Blick auf Washington, von der L'Enfant Plaza im Süden bis zur D- und K-Street im Norden. Die westliche und östliche Begrenzung lag an der 23 Street auf der Rückseite des Außenministeriums und der 2ⁿ Street hinter dem Obersten Gerichtshof und den Kongreßgebäuden.

»Das hier ist eine Übertragung von einem Satelliten in geosynchronem Orbit über Washington«, setzte Cantrell seinen Vortrag fort. »Hier sehen Sie einen Gesamtüberblick, doch per Knopfdruck können wir praktisch jedes Detail heranzoomen.«

Zur Demonstration schaltete Cantrell an der Fernbedienung, um eins von fünf verschieden großen Rechtecken auf der Bildfläche zu verschieben. Als es sich genau über dem Washington Monument befand, schaltete er auf Vergrößerung. Sofort darauf wurde die Menschenschlange sichtbar, die noch immer draußen wartete. Das Bild war unglaublich scharf, wie der Präsident bemerkte, fast wie von einer Fernsehkamera, die einen Schwenk über die Tribüne bei einem Baseballspiel machte.

»Ich könnte es Ihnen so nahe heranholen, daß Sie den Gesichtsausdruck eines dieser Touristen studieren könnten«, erklärte Cantrell. »Außerdem kann ich den Bildschirm in maximal sechzehn Segmente aufteilen, damit uns nichts entgeht.« Mit einem stolzen Lächeln führte er die Funktionen vor. »Ich habe mir gedacht, Sie würden vielleicht gern persönlich die Ereignisse des Tags Delphi verfolgen«, sagte der General, als er die Vorführung abgeschlossen hatte.

Die Digitaluhr über der Tür zeigte 6:47:35 in hellen roten Ziffern an. Auf der übrigen Fläche der großen Wand befanden sich Landkarten verschiedener Regionen, auf denen der Fluß von Daten und Informationen als Gitternetz dargestellt war. Jede Netzlinie war erleuchtet – oder ›heiß‹, wie es im geläufigen Jargon hieß. Ein paar sporadische Lichtblitze zeigten Strom- oder Systemausfälle an, die schnellstens korrigiert wurden. Männer und Frauen auf Drehstühlen tippten Informationen in Tastaturen ein, die mit hochentwickelten Monitoren verbunden waren, die sich seitlich versetzt zwischen der Vorderwand und der Galerie befanden, wo der Präsident saß. Dies war der Routinebetrieb in Mount Weather, wo die Kommunikationen und Datenübermittlungen des Landes ständig überwacht wurden. Nur in einem vom Präsidenten verkündeten Ernstfall übernahm ein Notsystem, das als Prometheus bezeichnet wurde, die Priorität über dieses Netzwerk. Ansonsten blieb Mount Weather auf diese Weise über alle Vorgänge auf dem laufenden und sorgte sofort für Ausgleich, wenn sich irgendein Fehler im System zeigte.

Cantrell trat hinter ein speziell trainiertes Überwachungsteam von Delphi, das die üblichen Angestellten ersetzt hatte und aufmerksam die Uhrzeit verfolgte. Kurz vor 6:50 ging er hinter die Wand zu einem schwarzen Kästchen, das in der Nähe der stählernen Zugangstür angebracht war. Als Vorsitzender der Stabschefs trug er jederzeit einen Originalschlüssel bei sich, der in den Schlitz paßte, durch den eine Reihe von Notstandsoperationen eingeleitet wurden. Er zog ihn aus der Tasche und hob das flache Ende hoch, so daß der Präsident es sehen konnte. Dann ließ er es in den dafür vorgesehenen Schlitz gleiten. Eine rote Lampe über dem Kästchen wechselte seine Farbe zu Grün. Cantrell drehte den Schlüssel herum.

Ein roter Schalter kam mit einem Klicken zum Vorschein, als die Sicherheitsabdeckung zurückglitt. Die Uhr zeigte 6 Uhr 49 und 45 Sekunden an.

»Ich stehe kurz davor, Ihre Amtszeit offiziell zu beenden«, teilte Cantrell dem Präsidenten mit.

Um Punkt 6 Uhr 50 drückte er den Schalter in die Aus-Stellung. Eine Alarmsirene ertönte dreimal. Die Farben aller Netzlinien an der Vorderwand wechselten von Grün zu Rot. Der Alarm ertönte noch dreimal.

Erschrocken sah der Präsident zu, wie das leuchtende Gitternetz, das wie ein Straßenplan für das gesamte Land aussah, von Ost nach West erlosch. Im selben Augenblick wurden die Satellitenkanäle, die für die Übertragung von Fernseh- und Radiosendungen verantwortlich waren, abgeschaltet. Menschen, die gerade ein Telefongespräche geführt hatten, wurden mitten im Satz oder Wort abgeschnitten. Jegliche Datenübertragung wurde unvermittelt eingestellt. Die Technik war unerbittlich, sie machte keine Ausnahmen. Prometheus hatte übernommen.

Die Schlacht von Washington hatte offiziell begonnen.