Vierunddreißigstes Kapitel

»Willst du damit sagen, das sind die einzigen Leute, die du auftreiben konntest?« Kristen Kurcell schüttelte den Kopf. »Bei all deinen Kontakten hast du nichts Besseres aufzubieten?«

McCracken lehnte sich in seinem Sitz im Erste-Klasse-Abteil des Metroliners nach Washington zurück. Jetzt, wo sie die Union Station in ein paar Minuten erreichen würden, hatte er Kristen endlich verraten, wer sie, wie er hoffte, in der Hauptstadt erwarten würde. Ihre Reaktion hatte ihn nicht sehr überrascht.

»Wir müssen erst einmal abwarten, ob ich überhaupt etwas erreicht habe«, sagte er ehrlich.

Kristens Gesicht nahm erneut einen schockierten Ausdruck an. »Willst du damit sagen, du bist dir nicht einmal sicher, ob sie wirklich kommen?«

»Ich fürchte, nein.«

Blaine mußte wieder an den zweiten Telefonanruf denken, den er am gestrigen Tag von Bota Matabus kleiner ANC-Station dreißig Autominuten von Whiteland entfernt getätigt hatte.

»Sie sind wohl völlig bescheuert, Mann!« hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung auf Blaines Bitte hin erwidert.

»Das ändert nichts an der Tatsache, daß Sie vielleicht die letzte Hoffnung dieses Landes sind.«

Auf die kurze Stille war ein herzhaftes Lachen gefolgt. »Die letzte Hoffnung des Landes? Das wäre ja ein Ding … Verdammt, vielleicht sollte ich mich einfach auf die Ersatzbank setzen und das Spiel als Zuschauer genießen.«

»Es wird Ihnen nicht gefallen, wenn es vorbei ist, weil dann nicht mehr viel übrig ist. Nur noch ein Alptraum, das Ende all dessen, an das Sie jemals geglaubt haben. Muß ich Sie daran erinnern, daß Sie mir noch einen Gefallen schulden?«

»Das mußte ja kommen!«

»Ihr habt eure Gelegenheit vor fünfundzwanzig Jahren verpaßt. Heute ist euer großer Tag, denn ihr bekommt eine neue Chance – indem ihr dabei helft, eine Gruppe aufzuhalten, die das genaue Gegenteil beabsichtigt.«

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß das Zeitalter des Wassermanns vorbei ist, Mac?«

»Es wird mehr als nur das vorbei sein, wenn ich keine Hilfe organisieren kann.«

Sofort nach dem Anruf hatte McCracken begonnen, einen Plan auszuarbeiten, wie es ihm und Kristen möglich sein würde, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Da er davon ausging, daß Delphi nach ihm suchte, hatte er Matabus Angebot abgelehnt, ihn heimlich mit einem Diplomatenflug ins Land einzuschleusen. Blaine hatte sich statt dessen für eine umständlichere Reiseroute entschieden. Danach sollten Kristen und er sich in London einer Reisegruppe nach New York anschließen, von wo aus sie mit diesem Metroliner in die Hauptstadt gelangen konnten. Insgesamt hatte die Reise nervenaufreibende siebenundzwanzig Stunden gedauert, woran nicht zuletzt Kristens mangelnde Geduld verantwortlich war.

»Was ist mit der verdammten Armee?« bohrte sie weiter. »Mit all deinen alten Freunden? Wäre das nicht eher eine Aufgabe für sie?«

»Vielleicht, aber ich weiß nicht, wem ich vertrauen kann«, erklärte Blaine. »Du vergißt, daß höchste Militärkreise in diese Sache verwickelt sind. Und du kannst darauf wetten, daß jeder in der Umgebung von Washington, der uns helfen könnte und nicht zu Delphi gehört, weit weg zu einer Übung oder auf Manöver geschickt wurde.«

Kristen lehnte sich zurück und seufzte. »Sie haben offenbar an alles gedacht.«

»Nicht ganz«, schränkte McCracken ein.

McCracken hatte den Fahrer gebeten, sie auf der Constitution Avenue in der Nähe des Lincoln Memorial abzusetzen. Der schöne frühlingshafte Samstag morgen hatte die Touristen in Scharen angelockt, doch keinem von ihnen war klar, was in ein paar Stunden auf die Stadt zukommen würde. Die Mall selbst war mit Spaziergängern übersät. Ein paar junge Männer spielten Frisbee. Am Washington Monument führte die Schlange der Wartenden, die zur Spitze aufsteigen wollten, dreimal um das Gebäude herum.

Als Kristen an Blaines Seite daran vorbeiging, glitt ihr Blick die Mall hinab bis zum Kapitol. Zuerst dachte sie, daß die Gruppe, mit der sich McCracken in Verbindung gesetzt hatte, nicht gekommen war. Doch dann bemerkte sie die große Traube lässig gekleideter Männer und Frauen, die hinter der 14 Street vor den Gebäuden des Smithsonian-Instituts eine Art Ausstellung vorbereiteten. Sie drehte sich zu McCracken um und sah, wie sich ein Lächeln über seine Gesichtszüge ausbreitete.

»Das sind sie, nicht wahr?« sagte sie.

Seine Antwort bestand darin, seine Schritte zu beschleunigen, als er auf die Gruppe zuging. Ein dünner Mann mit einem Pferdeschwanz und einem gebatikten Top über abgeschnittenen Jeans sah sie kommen und löste sich von der Gruppe, um sie zu begrüßen. Er ging mit einem leichten Humpeln.

»Nicht schlecht«, begrüßte Blaine ihn.

»Hey, Mann! Bittet, so wird euch gegeben«, gab Arlo Cleese zurück.

Blaine wandte sich an Kristen. »Ich vermute, daß ich euch nicht vorstellen muß.«

Sie bedachte Cleese mit einem langen Blick und sah dann wieder McCracken an. »Aber du könntest mir erklären, warum ein Mann, der vor einer Generation Amerika den Krieg erklärt hat, jetzt versucht, das Land zu retten.«

»Die Sache ist so«, antwortete der Anführer der Midnight Riders. »Der Feind, gegen den ich damals gekämpft habe, ist so ziemlich derselbe wie heute. Es hat sich nicht viel geändert.«

Hinter Cleese entluden die Midnight Riders, die mit ihm nach Washington gekommen waren, die bunt bemalten VW-Busse. Sie brachten Gemälde und andere Kunstgegenstände zu den Ausstellungstischen. Viele von ihnen trugen altmodische Peace-Symbole um den Hals. Lederne Mokassins und Jerry-Garcia-Brillen gehörten zu den populärsten Accessoires.

Die meisten der Leute, die die Busse entluden, waren jedoch völlig unscheinbar gekleidet. Sie bewegten sich vorsichtig, bedächtig und ohne auf die Ankunft der zwei Fremden zu achten, aber keiner wandte ihnen den Rücken zu. Kristen gelang es, ein paarmal in ihre Augen zu sehen, und dieser Anblick ließ sie frösteln. Dies waren eindeutig die letzten Überlebenden der wahnsinnigen Randszene, die während des größten Teils ihres Lebens am Rand der Gesellschaft vegetiert hatten. Die eklektischen Verse der Weathermen, Black Panthers und der Studenten für eine Demokratische Gesellschaft hallten noch immer in ihrem Geist wider. Es war, als wären sie einer Zeitkapsel entstiegen, um sich gemeinsam mit den Midnight Riders für den Kampf bereitzumachen, der so lange verzögert worden war. Der Unterschied war nur der, daß sie jetzt die Regierung retten wollten, die sie einst zu stürzen entschlossen gewesen waren.

»Wie viele?« wollte Blaine von Cleese wissen.

»Ein paar hundert, mehr konnte ich nicht auftreiben.«

»Ich hatte auf mehr gehofft«, sagte er.

»Seien Sie froh, daß es überhaupt so viele sind, Mann!«

»Bewaffnung?«

»Keine großen Sachen. Viel Sprengstoff, Granaten, ein paar Raketen. Alles aus der Rumpelkammer der Rebellion. Die Busse sind mit Geheimfächern ausgerüstet. Genügend Platz, um jede Menge Krempel zu verstauen.«

»Habt Ihr das Zeug von den Alvarez gekauft?«

»Zumindest, was wir tragen konnten. Sie haben mir ja nicht besonders viel Zeit gelassen.«

»Ich glaube das einfach nicht«, murmelte Kristen.

»Nörgelt sie immer so viel rum?« sagte Cleese zu McCracken.

»Ich glaube, ihr gefällt nicht, in welchen Kreisen ich verkehre.«

Cleese starrte Kristen erneut an. »Vielleicht nimmt sie an, daß wir lieber zusehen würden, wie das Land in Flammen aufgeht.«

»Dieser Gedanke erscheint mir nicht ganz abwegig«, entgegnete Kristen.

»Das hängt ganz davon ab, wer das Streichholz an die Lunte hält, Schwester. Wenn wir die wahnsinnige Randszene sind … wie würdest du dann die Typen bezeichnen, die die Stadt abfackeln wollen? Alles ist relativ, und wir sind jetzt nicht mehr die eigentlichen Verrückten. Verdammt, das waren wir nie, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Wir wollten niemals die Kontrolle übernehmen. Wir wollten nur sicherstellen, daß die Leute, die das Land bereits unter Kontrolle hatten, unseren Standpunkt zur Kenntnis nehmen. Vielleicht lagen wir falsch, und vielleicht waren wir Idioten, aber wir haben an das geglaubt, was wir taten. Wir hatten einfach genug davon zuzusehen, wie das Land sich selbst ruiniert, und heute hatte es den Anschein, als hätten wir die ganze Zeit über recht gehabt.«

Cleese schob die Haare an der rechten Seite seines Kopfes zurück, wo eine häßliche Narbe zum Vorschein kam. »Das ist mein Andenken an die 68er Konferenz in Chicago. Von einem Bullen mit Schlagstock. Damals bin ich in die Knie gegangen. Und er hat nur gegrinst. Das genau ist die Mentalität, die die Dinge so lange beim Alten läßt, bis sie sich von selbst erledigen. Es ist wahrscheinlich das Höchste, was wir jemals erreichen werden, das Land vor diesem Bullen mit dem Schlagstock zu retten. Aber was soll's? Das ist schon genug.«

»Was soll das heißen, Häuptling?« fragte Sal Belamo, nachdem sich bei dem Anschluß, an den er und Johnny Wareagle den Bericht über ihre Fortschritte weiterleiten sollten, niemand meldete.

Sie hatten jetzt schon seit fast zwei Tagen daran gearbeitet und den Miravo-Luftwaffenstützpunkt in einem immer größeren Umkreis auf der Suche nach dem nuklearen Waffenlager von Delphi durchkämmt. Mit dem Hubschrauber, den man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, konnten sie ein sehr großes Terrain absuchen, bis jetzt jedoch ohne Erfolg. Als Johnny an diesem frühen und klaren Samstagmorgen zu dem kleinen Landeplatz zurückkehren mußte, um die Maschine wieder auftanken zu lassen, hatte er die Gelegenheit genutzt, den Stand der Dinge an die Nummer zu übermitteln, die man ihnen gegeben hatte. Daß am anderen Ende der Leitung niemand antwortete, ließ vermuten, daß der schlimmste Fall eingetreten war oder bald eintreten würde.

»Meinst du, wir sollten die Sache abblasen und nach Hause gehen, Häuptling?«

»Nein, Sal Belamo. Unsere Aufgabe ist nach wie vor, die Atomwaffen zu finden. Um das übrige kümmert sich Blainey.«

Sie liefen über das Rollfeld und bestiegen wieder den Hubschrauber.

»Schlechte Neuigkeiten«, berichtete Tom Wainwright, der Pilot, und blickte von seinen Instrumenten auf. »Da braust ein ziemlich heftiger Sturm durch die Rockies heran. Innerhalb einer Stunde wird genau über unserem Zielgebiet ein Blizzard toben.«

»Der nächste Flugplatz ist vierzig Minuten entfernt«, sagte Wareagle. »Bringen Sie uns dorthin.«

Der Sturm hatte bereits eine dünne Schneedecke über das Landefeld geweht, als sie dort eintrafen. Ein paar Minuten später, so sagte Wainwright, hätte der Wind eine Landung unmöglich gemacht.

»Wenn sie nichts dagegen haben, würde ich mich jetzt gern wieder auf die Socken machen.«

»Ihr Job ist noch nicht beendet«, sagte Johnny zu dem Piloten, während Sal aus dem Hubschrauber stieg, um nach dem Fahrzeug zu sehen, das hier auf sie warten sollte. »Sie müssen für mich eine Nachricht überbringen.«

Tom Wainwright sah Johnny an. »Nach Washington?«

»Nein«, sagte Wareagle und gab ihm einen Zettel. »Arizona.«

Wainwright studierte die Koordinaten, die auf dem Zettel standen. »Ich werde eine Ewigkeit brauchen, bis ich mit dem Hubschrauber dort bin.«

Johnny zeigte auf die drei Learjets, die direkt neben dem Rollfeld standen. »Man hat uns eine dieser Maschinen zur Verfügung gestellt. Wenn Sie die Koordinaten erreicht haben, geben Sie dem Verantwortlichen das hier.« Damit reichte er Wainwright einen Umschlag, in dem sich zwei Seiten befanden, die er mit der bestmöglichen Handschrift beschrieben hatte, die er während des unruhigen Fluges bewerkstelligen konnte.

»Sind Sie sicher, daß man mich dort landen läßt?«

»Geben Sie die Kennzeichnung durch, die unter den Koordinaten steht.«

Wainwright riß die Augen auf. »Was zum …« Er sah Wareagle an. »Ich war schon mal dort. Diese Kennzeichnung ist fünfundzwanzig Jahre alt!«

»Genau deshalb wird man Sie auch landen lassen.«

Als Sal Belamo in einem GMC Jimmy mit Vierradantrieb auf das Rollfeld gefahren kam, war Wainwright bereits auf dem Weg zu den Learjets.

»Was jetzt?« fragte Sal durch das Fenster.

Der feine Schnee auf Johnnys Schultern und Haar brachte die kupferfarbene Farbe seiner Haut noch mehr zur Geltung. »Wir machen uns in südwestlicher Richtung auf den Weg in die Berge, die wir noch nicht gecheckt haben.«

Belamo seufzte, als er sich umdrehte und feststellte, daß der Blizzard den Himmel in dieser Richtung beherrschte, soweit er sehen konnte. »Ich hatte befürchte, daß du das sagen würdest.«

Das Colorado-Pfadfinderfähnlein 116 befand sich gerade auf Exkursion in der Wildnis der Rocky Mountains, als der Sturm einsetzte. Der plötzliche Temperatursturz um zehn Grad hatte einige von ihnen in ihren Schlafsäcken geweckt. Als die ersten Schneeflocken fielen, waren alle wach.

Zuerst war dieser überraschende Frühlingsschneesturm ein großer Spaß. Schneeballschlachten im Zwielicht eine Stunde vor Sonnenaufgang waren der Stoff, aus dem großartige Geschichten entstanden. Doch es dauerte nicht lange, bis das Lachen der Jungen von fröstelndem Wimmern abgelöst wurde. Der eiskalte Wind gefror die dünne Schweißschicht, die sich auf ihren Gesichtern und Händen gebildet hatte. Nur wenige hatten Handschuhe dabei, und die anderen vergruben ihre Finger tief in den Jackentaschen, doch es nutzte nicht viel.

Der Fähnleinführer, ein Marineveteran namens Frank Richter, versuchte die Situation möglichst sachlich einzuschätzen. Er erkannte an den ersten Windböen, daß sich ein schwerer Sturm zusammenbraute. Er erkannte auch, daß einige seiner jungen Schützlinge den Rückweg nicht lebend überstehen würden, wenn er nicht schnell etwas unternahm. Richter probierte sein Funkgerät aus, das er auf jeder Wildnisexkursion bei sich trug. Wie er erwartet hatte, war durch den Sturm jede Hoffnung auf Kontaktaufnahme vereitelt worden. Also mußte er sein unmittelbares Ziel darin bestehen, wieder in Funkreichweite zu gelangen, während er gleichzeitig nach einem Unterschlupf für die Pfadfinder suchte.

Als Richter sein Funkgerät wieder sicher verstaute, brach die volle Gewalt des Sturmes über sie herein. Er befahl den Jungen, sich die Schlafsäcke um die Schultern zu legen und alles zurückzulassen, was nicht unmittelbar für ihr Überleben wichtig war. Die Ausführung seiner Befehle half den Jungen, die Ruhe zu bewahren, aber Richter erkannte bereits die Furcht, die in ihren Augen aufzublitzen begann, während er sie inspizierte.

Die Pfadfinder des Fähnleins 116 waren zwölf bis fünfzehn Jahre alt. Wenn sie losmarschierten, war Richters Platz an der Spitze der Gruppe. Dadurch wäre das Ende ungeschützt, so daß einige seiner Schützlinge unbemerkt im Sturm zurückbleiben konnten. Die letzten Befehle, die er durch den heulenden Wind brüllte, bestanden darin, daß die Jungen die Kordeln aus ihren Schlafsäcken ziehen sollten. Richter sammelte sie ein und band sie zusammen. Dann führte er die so entstandene Leine durch die Gürtelschlaufen aller Pfadfinder, bevor sie aufbrachen.

Die schnellste Route in die Sicherheit führte nach Südwesten. Doch ein Marsch in Richtung des Sturms war unter den gegebenen Umständen undenkbar. Richter war klar, daß die einzige Hoffnung des Fähnleins 116 darin bestand, sich mit dem Wind im Rücken in nordöstliche Richtung zu halten.

Dem Sturm schien es gleichgültig zu sein, in welche Richtung sie sich wandten. Der heftige Wind zerrte unaufhörlich an den Pfadfindern. Nach einem halben Kilometer kam Richter sich wie ein Ochse vor, der eine tote Last hinter sich herzog. Er kämpfte sich einen Weg hinab, der kaum noch von der riesigen weißen Decke zu unterscheiden war, die die Rockies überzogen hatte. Er konnte nur noch ein paar Meter weit sehen, und seine Hände und Füße wurden allmählich taub.

Richter knirschte mit den Zähnen und zwang sich zum Weitergehen, um das Blut in seine erschöpften, steifen Muskeln zurückzutreiben. Als er ein paar Minuten später nach oben sah, stellte er fest, daß er die Berggipfel schon nicht mehr ausmachen konnte. Unter ihm hatte sich der Weg jedoch verbreitert und sah wieder einigermaßen vertraut aus.

So vertraut, daß Richter plötzlich stehenblieb.

Einen knappen Meter vor ihm zeichnete sich der Rand einer steilen Klippe ab. Wenn er noch zwei Schritte weitergegangen wäre, hätte er sämtliche Jungen in einen weißen Tod gerissen. Der Abgrund war von seiner Position aus kaum zu erkennen.

Sie waren auf einer Straße! Auf einer breiten, gewundenen Straße, die sich durch die Berge hinabschlängelte!

Wenn sie ihr folgten, würden sie irgendwann sicheren Unterschlupf finden. Er rief den Jungen ermutigende Worte zu und sagte den ersten in der Reihe, daß sie die Neuigkeit nach hinten weitergeben sollten.

Schon kurz darauf entdeckte er etwas, das wie ein riesiges schwarzes Loch in einer Bergflanke rechts von der Straße aussah. Wenn Richters Orientierungssinn ihn nicht täuschte, war dies der Eingang zu einer verlassene Silbermine, und zwar eine von den größeren, bei denen es sich eher um eine von Menschen geschaffene Höhle handelte.

Frank Richter führte das Fähnlein 116 in die Höhle und befahl den Jungen, mit den Dingen, die sie hatten mitnehmen können, so gut es ging ein Lager aufzuschlagen. Zwei der älteren Jungen schickte er mit Taschenlampen los, um die Mine zu erkunden. Richter schaltete sein Funkgerät ein.

»Hier ist Zwo-Neun-Bingo«, sprach er in das Mikrophon. »Kann mich jemand hören? … Hier ist Zwo-Neun-Bingo. Ist jemand auf Empfang? … Dies ist ein Notruf. Kann mich jemand hören? Ende.«

Richter ließ das Mikrofon sinken und betete, daß im statischen Rauschen eine Stimme hörbar wurde.

Nichts.

»Hier ist Zwo-Neun-Bingo«, wiederholte er. »Ich bin mit einem Pfadfinderfähnlein vom Sturm überrascht worden. Falls mich jemand hören kann, bitte bestätigen! Ende.«

Wieder nur statisches Rauschen.

»Frank«, rief einer der älteren Jungen, die er auf Erkundung geschickt hatte.

Richter blickte halbherzig von seinem Funkgerät auf.

»Da ist etwas, das Sie sich lieber ansehen sollten!«

»Glauben Sie, daß wir damit rausfahren können?« fragte einer der Jungen, als Richter vor den zwei schweren Transportlastern stand.

Die Jungen hatten sie im hinteren Teil der Mine unter schwarzen Planen entdeckt, die sie weggezurrt hatten, so daß die Zugmaschinen jetzt freilagen. Richter hatte seine letzten Jahre bei den Marines auf einem Stützpunkt in Deutschland verbracht, wo er in der Frachtabteilung beschäftigt gewesen war. Dadurch kannte er solche Laster und war um so mehr über ihre Anwesenheit verblüfft.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

»Frank«, rief ein anderer Junge, doch Richter ging bereits zwischen die Laster hindurch und zwängte sich hinter den linken.

»Bleib zurück«, sagte Richter zu ihm und zog die Plane weg, die die Ladetür bedeckte. Die Tür war unverriegelt, so daß Richter keine Probleme hatte, sie nach oben zu schieben. Dann richtete er seine Taschenlampe in den Laderaum.

»O mein Gott!« stöhnte er und riß die Augen auf. Der Lichtstrahl erhellte mindestens ein Dutzend olivgrüner Container aus Fiberglas, die 1,5 mal 1,2 Meter groß waren. Richter mußte gar nicht die Aufschrift lesen, um zu wissen, was sich darin befand.

»Frank, was ist los? Frank?« rief ihm einer der Jungen nach, als er an ihnen vorbeihetzte.

Sie folgten ihm zurück zum vorderen Teil der Höhle, wo Richter sich wieder zum Funkgerät begab. Mit zitternder Hand hob er das Mikrophon auf.

»Hier ist Zwo-Neun-Bingo«, sagte er hektischer als beim ersten Mal. »Bitte melden! Bitte unbedingt melden! Dies ist ein Notfall! Ich wiederhole: ein Notfall! Ende.«

Er ließ die Sprechtaste los, und das statische Rauschen setzte wieder ein. Er sah wieder zum Hintergrund der Mine.

»Zwo-Neun-Bingo«, meldete sich eine schwache Stimme im Rauschen.

»Ich höre! Wer ist da? Ende.«

Diesmal wurde die Antwort von Störgeräuschen überlagert.

»Bitte wiederholen! Mein Empfang ist sehr schlecht. Ende.«

Wieder war die Antwort unverständlich. Er wartete, bis nur noch Rauschen zu hören war, bevor er das Mikrophon wieder aufnahm.

»Okay. Ich gehe davon aus, daß Sie mich besser empfangen als ich Sie. Ich stecke mit einer Pfadfindergruppe in einer verlassenen Silbermine irgendwo in den Bergen zwischen Weaver und Kendall Gap fest. Wir brauchen jemanden, der uns hier rausholt.« Richter sah verstohlen zu seinen Schützlingen, die sich hoffnungsvoll um ihn geschart hatten, dann sprach er mit gesenkter Stimme weiter. »Und da ist noch etwas. Wir haben in der Mine etwas gefunden.«

Obwohl Richter es noch immer nicht richtig glauben konnte, schaffte er es, eine Mitteilung über die zwei versteckten Laster zu machen, die mit nuklearen Sprengköpfen beladen waren, als ein plötzlicher Schrei ihn herumfahren ließ. Er sah nur noch etwas Dunkles und Glänzendes, das auf ihn zuschoß, bevor ein Schlag gegen seinen Schädel ihm das Bewußtsein nahm.

Nachdem die Stimme ihren Standort durchgegeben hatte, wurde sie immer schwächer, und Duncan Farlowe drückte sein Ohr gegen den Lautsprecher des Kurzwellenempfängers, um sie besser zu verstehen. Ein plötzlicher Schrei, gefolgt von einem dumpfen Knall, beendete die Übertragung und versetzte ihm einen solchen Schreck, daß er den Kopf zurückriß. Während der Sheriff von Grand Mesa mit einer Hand seinen gezerrten Nacken massierte, dachte er gar nicht über den Schrei nach. Ihn beschäftigte nur das, was der Sprecher angeblich in den zwei Transportlastern entdeckt hatte.

Hatte er richtig gehört?

Wenn Kristen Kurcell und der Miravo-Luftwaffenstützpunkt nicht gewesen wären, hätte Duncan Farlowe es niemals geglaubt. Farlowe hatte jetzt eine ziemlich gute Vorstellung davon, was Kristens Bruder gesehen und was ihm das Leben gekostet hatte. Und in Anbetracht der Tatsache, wie die Nachricht des Pfadfinderführers unterbrochen worden war, bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß die Gruppe bald dasselbe Schicksal wie David Kurcell erleiden würde.

Farlowe ging zum Fenster und öffnete es, um in den Sturm hinauszusehen. Der Schnee, der sich auf dem Fenstersims angesammelt hatte, wehte in den Raum. Diese Hütte, die in der Nähe eines ehemaligen Skigebiets lag, hatte ihm seit Dienstag, als das Rathaus von Grand Mesa in die Luft gesprengt worden war, sichere Zuflucht gewährt. Er hatte damit gerechnet, daß ihn die Ereignisse der Außenwelt irgendwann wieder einholen würden, aber nicht damit, daß es auf diese Weise geschehen würde. Die Ironie der Situation entlockte ihm ein Lächeln.

Doch nach einem Blick aus dem Fenster setzte er ein Stirnrunzeln auf. Inzwischen würde es keine freie Straße mehr geben, über die ein Rettungsteam zu diesen Pfadfindern gelangen konnte. Vielleicht war er sogar der einzige, der ihren Notruf empfangen hatte. Nicht viele Leute ließen dieser Tage ihre Funkgeräte eingeschaltet.

Somit war Farlowe die einzige Hoffnung des Pfadfinder-Fähnleins. Er brauchte zehn Minuten, um sich die geeignete Kleidung anzuziehen, und weitere zehn Minuten, um zur Garage hinüberzustapfen. Die Schneekatze, die vor der Reihe übriger Fahrzeuge stand und wie ein kleiner Panzer mit einer Fahrerkabine statt eines Geschützturmes aussah, würde für seine Zwecke genügen. Er würde das Gefährt mit so vielen Vorräten beladen, wie er auftreiben konnte, und dann losfahren.

»Und da ist noch etwas. Wir haben in der Mine etwas gefunden.«

»Heute scheint mein Glückstag zu sein«, murmelte Duncan Farlowe.

Die Stimme kam über das Funkgerät des Hubschraubers, als Tom Wainwrights Learjet noch fünfundzwanzig Kilometer von den Koordinaten in Zentralarizona entfernt war, die er von Johnny Wareagle erhalten hatte.

»Identifiziertes Luftfahrzeug, Sie sind in gesperrten Luftraum eingedrungen. Bitte kehren Sie unverzüglich um!«

»Tower, ich habe eine Nachricht an Ihren kommandierenden Offizier abzuliefern. Erbitte Landegenehmigung!«

»Ihre Kennzeichnung, bitte!«

Wainwright gab ihm durch, was Johnny Wareagle ihm aufgetragen hatte, in der Hoffnung, daß es für den Mann am anderen Ende der Leitung mehr Sinn ergab als für ihn. Es folgte eine kurze Pause, und als die Stimme sich wieder meldete, klang sie wesentlich freundlicher als zuvor.

»Genehmigung erteilt. Halten Sie weiter auf Zwo-Fünf-Null zu! Wir liegen genau auf Ihrem Kurs.«

Wainwright setzte zum Landeanflug an und überflog einen dichten Nadelwald. Als er sah, was sich einen halben Kilometer dahinter befand, riß er ungläubig die Augen auf.

»Verdammte Scheiße!« stöhnte er.

Worauf er hinuntersah und zuflog, war … einfach unmöglich.

»Der kommandierende Offizier erwartet Sie auf dem Rollfeld«, dröhnte die Stimme in seinen Kopfhörern. »Sie haben Landeerlaubnis.«