Sechzehntes Kapitel

Der Privatjet landete fünf Stunden nach dem Start vom Flughafen Dulles in Denver. Kristen Kurcell und Senatorin Samantha Jordan waren die einzigen Passagiere. Auf das ausdrückliche Verlangen der Senatorin war niemand über ihr Ziel und ihre Absicht informiert worden. Sie hatten vor, mit einem Mietwagen zur Air-Force-Basis Miravo weiterzufahren.

Kristen kam die Entwicklung der Dinge unglaublich rasant vor. Sie hatte den Tod ihres Bruders noch nicht einmal richtig begriffen; der betäubende Schock ließ noch nicht zu, daß sie ihn verarbeitete. Und doch kehrte sie nun, keine vierundzwanzig Stunden nachdem sie seine Leiche identifiziert hatte, zu dem Ort zurück, an dem er etwas beobachtet hatte, das zu seiner Ermordung geführt hatte.

»Da vorn ist die Basis schon«, sagte Kristen zu der Senatorin, die das seltene Vergnügen, selbst zu fahren, so sehr genoß, daß sie darauf bestanden hatte, die gesamte Strecke hinter dem Steuer zu sitzen.

Die Fahrt hatte sich bis in den frühen Sonntagabend erstreckt, und nur aufgrund der beiden Stunden, die sie beim Überqueren der Zeitzonen gewonnen hatten, erreichten sie die Basis, die hinter der nächsten Kurve der Old Canyon Road lag, noch vor Sonnenuntergang. Kristen bereitete sich darauf vor, ähnliche Gefühle zu empfinden wie vor gut einem Tag, als sie und Farlowe sich der Basis genähert hatten.

Doch als Miravo in Sicht kam, verspürte sie lediglich einen unglaublichen Schock.

Die Air-Force-Basis wimmelte vor Aktivitäten. Wo erst gestern kein einziger Mensch gewesen war, fuhren nun Lastwagen hin und her oder wurden eingeparkt. Und überall waren Soldaten zu sehen, angefangen mit denen, die in zwei Allrad-Jeeps saßen, die quer vor dem Haupttor standen und die erste Verteidigungslinie bildeten.

»Ich muß ihren Passierschein sehen, Madam«, sagte einer der bewaffneten Soldaten zu Senatorin Jordan.

»Reicht Ihnen das?« fragte sie und zückte Ihren Paß, der sie als Senatorin auswies.

Der Soldat schaute zweimal hin, um sich zu vergewissern, daß sie tatsächlich die auf dem Foto abgebildete Person war. Er stand stramm, salutierte kurz und sagte, er würde den Kommandanten der Basis benachrichtigen.

»Ich bin Colonel Riddick«, begrüßte ein anderer Mann die beiden Frauen keine fünf Minuten später. Riddick war ein stämmiger, grobknochiger Mann mit einem Bauch, der über seinen Gürtel hinabhing. »Was kann ich für Sie tun, Frau Senator … äh …?«

Sie stieg aus und gab ihm die Hand. »Jordan, Colonel.«

»Es tut mir leid, daß Sie warten mußten, Frau Senator.«

»Macht doch nichts.«

»Ich fürchte, Ihr Besuch kommt etwas überraschend.«

»Das lag in meiner Absicht, Colonel.«

Kristen war mittlerweile ebenfalls ausgestiegen, blieb aber auf der Beifahrerseite des Wagens.

»Ich sehe mich vor ein gewisses Problem gestellt, Madam«, führte Riddick aus. »Miravo und weitere Basen dieser Art werden aus nicht zweckgebundenen Fonds finanziert. Sie sollten eigentlich gar nicht wissen, daß es unsere Einrichtung gibt. Niemand von Ihrem Ausschuß sollte es wissen. So hat der Präsident es gewünscht, und so sollte es gehandhabt werden.«

»Ich wette, nicht einmal die Bewohner der Städte in der näheren Umgebung wissen davon, nicht wahr, Colonel? Wenn Ihre zivilen Nachbarn herausfinden, was hier vor sich geht, werden sie schreiend nach Washington laufen.« Senatorin Jordan legte eine kleine rhetorische Pause ein. »Hören Sie, die nicht zweckgebundenen Fonds können Sie vergessen. Bevor ich genehmige, daß Milliarden Dollar ausgegeben werden, will ich, verdammt noch mal, wissen, wohin das Geld geht. In diesem Fall glaube ich zufällig an das, was Sie hier machen. Bei anderen Ausschußmitgliedern wird das nicht der Fall sein, sobald die Wahrheit erst einmal herausgekommen ist, und sie kommt immer heraus. Wenn der Aufruhr losgeht, will ich mit ein paar Argumenten gewappnet sein. Deshalb bin ich hier, Colonel.«

Riddick dachte eine Weile darüber nach. Dann nickte er, anscheinend zufriedengestellt.

»Dann erlauben Sie mir, Sie persönlich herumzuführen. Wir haben zahlreiche Kontrollteams in der Basis, und jede Phase des Demontageprozesses wird ein halbes Dutzend Male überprüft. All unsere Systeme haben redundante Sicherheitsvorkehrungen. Sie können sich darauf verlassen, wir gehen nicht das geringste Risiko ein.«

»Sie sprechen von der Demontage«, wandte die Jordan ein. »Was ist mit der Zerstörung der Sprengköpfe?«

»Das fällt nicht in unseren Aufgabenbereich, Frau Senator. Miravo wurde zu einem Zwischenlager für die in den Bundesstaaten stationierten Atomraketen umgebaut. Die Waffen, die hierher gebracht werden, sind weder jemals in Übersee stationiert noch einsatzbereit gemacht worden.«

»Einsatzbereit?«

»Zum Öffnen der Zündmechanismen der Sprengköpfe sind spezielle Kodes nötig, die nur der Präsident freigeben kann. Jedes Übersee-Bataillon hat seinen eigenen Freigabe-Kode.«

»Sie wollen damit doch nicht sagen, daß hier offene Sprengköpfe auseinandergebaut werden?«

»Keineswegs, Madam. Sie werden gesichert angeliefert, und wir bekommen die Kodes, mit denen man sie öffnen kann. Unmittelbar darauf werden die Sprengköpfe aus den Flugkörpern entfernt. Wir zerlegen jede Einheit in ihre Bestandteile und leiten diese Bestandteile dann an Basen weiter, die eigens dafür ausgestattet wurden, sich mit ihnen zu befassen.« Riddick hielt inne. »Sie werden alles verstehen, sobald Sie das Innere der Basis gesehen haben, Frau Senator.«

»Worauf warten wir dann?«

Riddick ging voran, und Kristen und Samantha Jordan schritten neben ihm aus. Er erwiderte den militärischen Gruß der Wachtposten und führte sie in die Anlage.

»Seit wann ist die Basis wieder in Betrieb?« fragte die Senatorin, nachdem sie durch das Tor getreten waren.

»Seit einem halben Jahr«, erwiderte Riddick und bestätigte damit, was Colonel Haynes im Pentagon ebenfalls behauptet hatte.

»Und Sie haben seitdem immer gut zu tun?«

»Nun ja, manchmal kommt es zwischen eintreffenden Lieferungen zu gewissen Unterbrechungen.«

»Wie lange dauern diese Unterbrechungen normalerweise?«

»Die bislang längste knapp eine Woche.«

»Und das Personal bleibt dann in der Basis?«

»Nur der unbedingt nötige Stammkader.«

Frag ihn, ob es in dieser Woche so eine Unterbrechung gegeben hat, bat Kristen sie mit den Blicken. Frag ihn, ob Donnerstag abend jemand hier war, als David umgebracht wurde.

Doch die Senatorin ignorierte sie.

»Wachen?« fragte sie statt dessen.

»Natürlich rund um die Uhr. Sie werden unsere Sicherheitsvorkehrungen gleich selbst kennenlernen.« Riddick ging weiter. »Wie vertraut sind Sie mit der Entsorgung von Atomwaffen, Frau Senator?«

»Ich weiß nur, daß wir beträchtliche Anstrengungen unternommen haben, um sie herbeizuführen.«

»Und mit der eigentlichen Prozedur?«

»Darüber weiß ich kaum etwas.«

»Dann möchte ich Ihnen ein paar Hintergrundinformationen geben, Madam. Zuerst eine Frage: Was glauben Sie wohl, welche Atomwaffen zuerst in Anlagen wie diesen entsorgt wurden?«

»Die großen?«

»Strategische Marschflugkörper?«

»Ja.«

»Nein, Frau Senator«, berichtigte Riddick sie. »Die großen Raketen mit extremer Reichweite und enormer Sprengkraft, die Rhode Island in Sekundenschnelle vernichten könnten, stellen gemäß unseres neuen Weltfriedens nicht die größte Bedrohung dar. Wir nehmen hier die kleineren taktischen Einheiten auseinander, weil sie praktisch wartungsfrei und leicht zu transportieren sind.«

»Wie werden Sie hierhergebracht?« warf Kristen plötzlich ein.

Riddick bedachte sie mit einem schiefen Blick, und als er antwortete, klang seine Stimme leicht verärgert. »In der Regel werden sie eingeflogen.«

»In der Regel«, echote sie. »Was ist mit Lastwagen? Werden Sprengköpfe auch mit Lastwagen antransportiert?« fragte sie und dachte dabei an die von der Old Canyon Road zur Basis führenden Spuren, die Sheriff Duncan Farlowe entdeckt hatte.

»Gelegentlich, Madam.«

»Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen?«

»Natürlich.«

»Normalerweise des Nachts, nicht wahr?«

Riddick setzte zu einer barschen Antwort an, doch Samantha Jordan kam ihm zuvor und bedeutete Kristen gleichzeitig mit den Blicken, von diesem Thema abzulassen.

»Ich glaube, Miss Kurcell versucht, sich einen Überblick zu verschaffen, wie diese Anlage arbeitet.«

Riddick schien die Erklärung zu akzeptieren. »Das möchte ich Ihnen ja gerade zeigen.«

Sie gingen zu einem Flugzeughangar, der von außen recht bescheiden aussah, einmal abgesehen von den bewaffneten Wachen, die ihn in einem Abstand von jeweils drei Metern zueinander umgaben. Des weiteren fiel Kristen auf – wie auch schon beiläufig am Vortag –, daß alle Fenster mit glänzenden Stahlverschalungen bedeckt waren.

Als sie sich dem Hangar näherten, stellte sie überrascht fest, daß er nur über eine ganz normale Tür verfügte. Rechts und links von ihr war je ein Soldat postiert. Sie salutierten, und Riddick erwiderte den Gruß und holte dann einen ganz gewöhnlichen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Er öffnete die Tür und bedeutete der Senatorin und Kristen, ihm hineinzufolgen.

Sie traten in einen engen Vorraum mit weißgetünchten Wänden. Direkt vor ihnen befand sich eine Stahltür, die ebenfalls von zwei Soldaten bewacht wurde. Hinter ihnen waren auf Hüfthöhe zwei mit Schlitzen versehene Stahlkästen in die Wand eingelassen. Erst jetzt bemerkte Kristen, daß in den Ecken des Raums zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete und bedrohlich dreinschauende Wachen standen.

»Guten Tag, Colonel«, grüßte der Posten, der rechts neben der Tür stand.

»Wer ist der wachhabende Offizier, Sergeant?«

»Ich, Sir.« Der Mann sah zu Kristen und Senatorin Jordan hinüber, stellte ihre Anwesenheit aber nicht in Frage.

»Dann mal los.«

»Zuerst der heutige Kode, Sir.«

Riddick trat zu einer Tastatur hinter der Schulter des Postens und tippte die entsprechende Ziffernfolge ein. Eine grüne Lampe leuchtete auf. Sowohl der Colonel als auch der Sergeant zogen dünne Kettchen über ihre Köpfe, an denen je ein flacher, rechteckiger Schlüssel baumelte. Kristen beobachtete, wie der Sergeant zu dem Schlitz links von der Tür ging, während der Colonel sich zu dem rechten begab. Sie schoben die Schlüssel fast gleichzeitig hinein.

»Auf mein Kommando«, befahl Riddick. »Eins, zwei, drei.«

Sie drehten die Schlüssel gleichzeitig nach rechts. Ein Läuten erklang, und dann glitt die Tür langsam auf. Kristen wollte schon hindurchgehen, als Colonel Riddick die Hand ausstreckte und sie festhielt.

»Das wäre keine gute Idee, Madam.«

Und sie sah auf und stellte fest, daß sich in einem viel größerem Vorraum ein gutes Dutzend Soldaten aufhielten und ihre Maschinenpistolen auf sie richteten. Riddick drehte sich zu Senatorin Jordan um.

»Die übliche Drei-Zonen-Sicherheitsvorkehrung, Frau Senator«, erklärte er. »In unseren Basen in Europa verwenden wir Stacheldraht. In Miravo haben wir uns entschieden, die bereits vorhandenen und sehr geräumigen Hangars zu nutzen.«

»Sie schießen ohne Warnung auf jeden, der den Raum betritt«, schloß die Jordan. »Habe ich recht?«

»Es ist viel komplizierter als das, Madam. Wir haben mehrere Zonen geschaffen, die durchdrungen werden müssen, bevor man Zugang zu den Sprengköpfen bekommt. Das Team in diesem Raum hat die Aufgabe, die Situation einzuschätzen und dann zu entscheiden, ob die Selbstzerstörung angeraten ist.«

»Und wenn sie es ist, Colonel?«

»Das will ich Ihnen gern zeigen.«

In einem Raum, der den Rest des Hangars beanspruchte, waren Dutzende rechteckiger Container aus grünem Fiberglas gelagert. Die Sicherheitsvorkehrungen in diesem Raum waren, verglichen mit denen in der vorausgehenden Zone, überraschend leicht.

»Neun Mann«, erklärte Riddick, während Kristen zählte. »Wäre ein Feind so weit vorgedrungen, wäre der Befehl zur Selbstvernichtung bereits erteilt worden. Drei der neun ständig Wachhabenden verfügen über den Kode, mit dem sie den Prozeß in einem mit Transistoren versehenen Kontrollpult aktivieren können. Diese drei Männer werden täglich ausgewechselt. Keiner der hier Diensttuenden weiß, um wen es sich handelt. Ein jeder kennt nur seine eigenen Befehle.«

»Ich bin beeindruckt, Colonel«, lobte Senatorin Jordan.

»Diese letzte, narrensichere Maßnahme ist eigentlich überflüssig, Madam, denn selbst wenn es jemandem gelänge, die taktischen Sprengkörper hinauszuschaffen – sie befinden sich übrigens in diesen grünen Containern –, brauchte er trotzdem noch den Kode, mit dem er sie schärfen kann.«

»Der wohl ebenfalls täglich gewechselt wird, vermute ich.«

»Jawohl, Madam. Aber Sie müssen noch etwas in Betracht ziehen: Da diese Sprengköpfe niemals nach Übersee gebracht worden sind, verfügen sie auch nicht über die Zünder, die man zum Schärfen benötigt. Selbst mit dem richtigen Kode könnte man sie also nicht abfeuern.«

Kristen verschränkte die Arme vor der Brust; plötzlich fröstelte sie.

»Die Temperatur in diesem Raum wird ständig auf zwanzig Grad gehalten, mit null Prozent Luftfeuchtigkeit, Madam«, erklärte Colonel Riddick. »Um das, was sich in diesen grünen Kisten befindet, stabil zu halten. Verstehen Sie, dieses Gebäude wurde eigens nach unseren Vorgaben und Erfordernissen umgebaut und ausgestattet. Die Wände wurden verstärkt und halten nun selbst einem Tornado stand, und es wurden für den unwahrscheinlichen Fall, daß die Basis angegriffen wird, selbstschließende sprengsichere Schotten eingebaut.«

»Aber selbst im Falle eines Falles besteht keine Möglichkeit, die Sprengköpfe explodieren zu lassen«, grübelte Senatorin Jordan.

»Nicht die geringste, Frau Senator.«

»Wie schwierig wäre es, sie zu schärfen?« fragte Kristen.

Riddick schaute verwirrt drein, beantwortete die Frage aber trotzdem. »Einmal vorausgesetzt, man hätte die Zünder, benötigte man trotzdem noch die Öffnungs-Kodes für beide Ladungen, um sie einzubauen und die Sprengköpfe zu aktivieren.«

»Das ist alles?«

»Das ist ein ganze Menge, Madam. Wie ich schon sagte, auf dieser Basis gibt es gar keine Zünder.«

»Welche Sprengkraft haben diese Waffen, Colonel?« fragte die Senatorin und berührte mit der Hand den nächsten grünen Container.

»Eine jede hat die zwei- oder dreifache Sprengkraft der Bomben, die gegen Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurden, Frau Senator. Was einen möglichen Schaden betrifft, sind zu viele Variablen im Spiel, als daß ich Ihnen eine genaue Beschreibung geben könnte. Zum Beispiel hat …«

Kristen hörte weiterhin zu, obwohl Riddicks Erklärungen immer technischer wurden. Alles, was er gesagt hatte, war völlig logisch und ergab Sinn – abgesehen davon, daß er einfach nicht erklären konnte, wieso diese Basis noch gestern völlig verlassen gewesen war. Und die einzige Erklärung dafür lag darin, daß er an dem üblen Spiel, das hier getrieben wurde, beteiligt war.

Und damit auch an dem, was zur Ermordung ihres Bruders geführt hatte.