Elftes Kapitel

Die Limousine setzte Samuel Jackson Dodd am Samstag nachmittag zu seiner eilends einberufenen Pressekonferenz vor dem Grand Hyatt an der H Street ab. Die Medien hatten sich schon an diese überraschend angesagten, aber stets präzise durchgeführten Spektakel gewöhnt; wann immer Dodd sich mitteilsam fühlte, rief er sie zusammen. Ursprünglich waren jeweils nur ein paar Reporter erschienen und so gut wie keine Vertreter vom Fernsehen. Nun reichte eine kurzfristige Ankündigung von mitunter nicht einmal einer Stunde, um einen Presseraum zu füllen, und alle großen Fernsehsender waren vertreten.

Dodd hatte die Limousinentür geöffnet, bevor der Wagen richtig angehalten hatte. Er sprang hinaus und näherte sich dem Hoteleingang, während seine privaten Leibwächter hinter ihm herhetzten. Er öffnete die Tür und betrat das Hyatt, eine große, elegante Gestalt in einem mittelgrauen Anzug. Er glitt wie ein erfahrener Politiker durch die Halle, begrüßte ein paar gaffende Zuschauer per Handschlag und war so schnell weitergegangen, daß sie sich fragten, ob er sie tatsächlich berührt hatte. Sein Gesicht hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem, das im ganzen Land auf Broschüren und Schildern von Demonstranten abgebildet war. Das ständig gegenwärtige Lächeln strahlte Wärme und Zuversicht aus. Diesem Mann würde alles gelingen, und jeder wußte, daß er schon sehr viel zustande gebracht hatte.

Seine Leibwächter holten ihn vor den Rolltreppen ein und nahmen ihn in die Mitte. Die Gruppe fuhr auf der ersten von drei Treppen hinab und ging an einem riesigen Springbrunnen vorbei; in der Mitte des Wasserspiels befand sich eine Insel, auf der ein Pianist auf seinem Klavier eine leise, gefällige Melodie spielte. Dodd fuhr mit den nächsten beiden Rolltreppen zur untersten Etage des Hyatt hinab, in der die Presse sich in den Franklin Square Room gezwängt hatte. Einige Mitarbeiter von Fernsehsendern hatten ihre Vorbereitungen noch nicht ganz abgeschlossen und machten hektisch weiter, als Dodd eintrat. Scheinwerfer flammten auf, Videokameras surrten. Samuel Jackson Dodd ging zur Rückwand des Konferenzraums, wo ein Videorecorder und ein Fernsehgerät mit riesigem Bildschirm aufgebaut worden waren.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er anstelle einer Begrüßung.

Ohne weitere Erklärungen schaltete Dodd den Fernseher und den Videorecorder ein und bedeutete seinen Mitarbeitern, das Licht zu dämpfen. Augenblicklich erschienen schreiende Demonstranten auf dem Bildschirm. Sie reckten Schilder in die Luft, während sie auf ein geschlossenes Tor zustürmten, hinter dem Polizisten Stellung bezogen hatten. Die Kamera zeigte ein Schild in Großaufnahme. Darauf stand einfach: LEBEN!

Dodd hielt das Bild an und ergriff das Wort. Sein Körper zeichnete sich vor dem hellen Bildschirm als unheimlich wirkende Silhouette ab. »Wissen Sie, wo diese Bilder aufgenommen wurden, meine Damen und Herren? Vor dem Gefängnis San Quentin, in dem Billy Ray Polk morgen bei Sonnenaufgang hingerichtet werden soll. Die Menschenmenge, die Sie hier sehen, will nicht, daß Billy Ray Polk stirbt. Diese Leute behaupten, eine Hinrichtung durch eine tödliche Injektion sei eine grausame und unwürdige Strafe.«

Dodds große Gestalt trat ein paar Schritte zur Seite.

»Eine grausame und unwürdige Strafe? Ist Ihnen aufgefallen, daß niemand dagegen protestiert hat, was er mit diesen beiden Kindern gemacht hat? Wie er sie gefoltert hat, bevor er sie umbrachte, und wie sie zuerst um ihr Leben und dann um den Tod bettelten? Und trotzdem gibt es Menschen in den USA, die nicht wollen, daß er stirbt. Es gibt Menschen in den USA, denen es gleichgültig ist, ob jemand für diese beiden Kinder und deren Rechte eintritt.«

Dodd schlug mit der Faust auf sein Rednerpult, um seine Worte zu unterstreichen. »Aber ich spreche für sie, und ich spreche für alle anderen Opfer von Verbrechen, die ungesühnt bleiben, weil unser Justizsystem zu überfordert ist, um mit den Fällen nachzukommen, und weil die Polizei sich an zu viele Vorschriften halten muß, um manche Fälle überhaupt zur Anklage bringen zu können. Das System ist außer Kontrolle geraten. Das System stinkt.«

Ein leises Murmeln hob sich unter den Reportern.

»Wir haben die höchste Verbrechensrate in der Welt. Wissen Sie, warum? Weil irgendwo und irgendwann die Dinge in diesem Land auf den Kopf gestellt worden sind. Wir scheren uns mittlerweile mehr um die Rechte der Verbrecher als um die der Opfer. Wir verlieren den Kampf, weil wir auf der falschen Seite spielen. Wir müssen die Dinge ändern. Wir müssen dafür sorgen, daß ein Verbrechen wieder bestraft wird. Wir müssen dafür sorgen, daß unsere Bürger wieder ohne Angst ihre Häuser verlassen können. Die Polizei schafft es allein nicht mehr. Wir brauchen eine nationale Miliz, die mit ihr zusammenarbeitet, eine vom Bund autorisierte und finanzierte Truppe, die die Crackhäuser aushebt und die Gangs zerschlägt.«

»Mr. Dodd?« rief eine Stimme aus dem Halbdunkel der Presseempore.

»Ja. Sie da drüben.«

»Es hat den Anschein, Sir, daß Sie zu einem Vorgehen raten, das gegen mehrere Verfassungszusätze verstößt.«

»Ist das eine Frage, mein Sohn?«

»Nur, wenn Sie darauf zu antworten wünschen.«

»Das wünsche ich«, sagte Dodd und näherte sich dem Fragesteller. »Ich weiß genau, was die Verfassung besagt und garantiert. Ich weiß alles über die Freiheit, auf der dieses Land aufgebaut wurde. Zum Beispiel die Freiheit, des nachts ohne Angst auf die Straße gehen zu können. Die Freiheit, ein Kind auf eine Schule schicken zu können, ohne daß an jeder Straßenecke ein Drogenhändler mit seiner Ware in einem Rucksack steht. Über neunzig Prozent der Gesetze, nach denen wir leben, sind über hundert Jahre alt. Es sind Gesetze für eine andere Zeit, eine andere Epoche. Wir brauchen Gesetze für diese Zeit, für diese Epoche, für das Heute.«

»Könnten Sie uns ein Beispiel nennen?« fragte eine Reporterin.

Dodd drehte sich zu ihr um. »Wir haben Schulen in diesem Land, in denen die Kinder mehr Handfeuerwaffen als Pausenbrote bei sich haben. Ich schlage vor, daß jedes Kind, das mit einer solchen Waffe erwischt wird, für ein Jahr in ein Erziehungsheim eingewiesen wird. Keine Ermahnungen. Keine zweite Chance.«

»Was ist mit den Rechten der Kinder?«

»Was ist mit den Rechten der anderen Kinder auf dieser Schule?« stellte Dodd die Gegenfrage.

»Glauben Sie, daß dieses Land über eine ausreichende Anzahl von Heimen verfügt, um all diese jugendlichen Straftäter aufzunehmen?«

»Ich glaube, mein Sohn, wenn diese Kinder wüßten, welche Strafe sie erwartet, würden sie gar nicht erst straffällig werden.«

»Trotzdem«, fuhr der Reporter fort, »scheinen Sie in vielen Reden zu einem großangelegten Wandel zu raten.«

»Ich rate zu Veränderungen, wo sie nötig sind. Ich rate zu Veränderungen, bevor es zu spät ist.«

»Zu spät wofür?« warf eine neue Stimme ein.

»Zu spät für uns, die wir nicht wollen, daß unsere Gesellschaft von den Billy Ray Polks beherrscht wird. Wann werden wir lernen? Wann werden wir aufhören, uns selbst etwas vorzumachen? Diese Nation nähert sich dem freien Fall, und keiner der Leute hier in Washington scheint sich auch nur einen Dreck darum zu scheren und etwas dagegen zu unternehmen.«

»Warum sind Sie hier?« rief eine junge Reporterin.

»Madam?«

»In Washington, meine ich, Mr. Dodd. Was führt Sie in die Hauptstadt?«

»Ich versuche noch immer, irgend jemanden auf der Pennsylvania Avenue zu finden, der bereit ist, mich anzuhören.«

Die Reporterin stand noch immer. »Bereiten Sie Ihre Präsidentschaftskandidatur vor?«

»Die nächste Wahl findet erst in über zwei Jahren statt. Ich bin mir nicht sicher, ob das Land noch so lange warten kann.«

»Welche Alternative gibt es?« fragte der Korrespondent eines Washingtoner Fernsehsenders.

»Warum sagen Sie mir das nicht?« erwiderte Dodd und ging mit geballten Fäusten auf und ab. »Oder noch besser, warum klären wir das nicht gemeinsam?« Er trat wieder vor den Fernsehschirm, auf dem das Schild der Demonstranten abgebildet war. »Es kommt mir vor, als wäre alles in diesem Land auf den Kopf gestellt worden. Für jede Person, die so ein Schild hält, gibt es Hunderttausende, die einfach umschalten, wenn Billy Ray Polk im Fernsehen auftritt. Aber wo sind sie? Warum hören wir nie von ihnen? Viele Leute wählen schon gar nicht mehr, weil sie glauben, damit sowieso nichts mehr bewirken zu können. Die Leute sind frustriert. Die Leute werden wütend.«

»Was unterscheidet die Demonstranten vor San Quentin von denen, die gestern zum Kapitol gezogen sind, um Sie zu unterstützen?« fiel die Stimme eines Reporters ein.

Dodd drehte sich um und blieb stehen. Abgesehen vom Surren der Kameras wurde es totenstill im Raum.

»Sehr viel. Die Leute, die mich unterstützen, wollen, daß dieses Land wieder aufgebaut wird. Diese da«, sagte er und deutete mit der Hand wütend auf das erstarrte Bild auf dem Schirm, »wollen, daß es noch weiter zerfällt, als es sowieso schon der Fall ist. Und da draußen gibt es noch mehr von diesen Leuten, viel mehr, als wir ahnen. Ich spreche von Leuten, denen jede Entschuldigung recht ist, dieses Land zugrunde zu richten, mein Sohn. Ich habe sie gesehen und mit ihnen zu tun gehabt. Ein zerfurchter Untergrund, der alles haßt, was Amerika ist und wofür es steht. Sie warten nur auf ihre Chance, endlich das tun zu können, was sie schon immer tun wollten. Und wenn wir die Sache nicht schnell in den Griff bekommen, werden sie es auch schaffen.«

Ein kollektives Murmeln drang durch die Menge, und die Reporter fragten sich, ob es ihnen endlich gelungen war, den unzugänglichen Sam Jack Dodd bei einem Perotismus zu erwischen.

»Sprechen Sie von einer Revolution, Sir?«

»Nein, ich spreche von willkürlicher Gewalt«, sagte Dodd und wetzte die Scharte damit wieder aus. »Ich spreche von den Unruhen in Los Angeles im Jahre 1992, aber in einem nationalen Maßstab. Glauben Sie, daß unser Land imstande ist, darauf zu reagieren? Natürlich nicht. Welche andere Wahl haben wir also, wenn nicht die, Schritte zu ergreifen, um so etwas zu vermeiden?«

»Mit Schritten meinen Sie …«

»Meine ich, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, und zwar sofort. Wir brauchen ein funktionsfähiges System. Schluß mit den Ausflüchten. Schluß mit den Kompromissen, die unsere Politik lähmen.«

»Sie sprechen wie ein Präsidentschaftskandidat, Mr. Dodd.«

Sam Jack Dodd ließ das berühmte knabenhafte Grinsen aufblitzen, das zu seinem Markenzeichen geworden war. »Zu schade, daß wir kein Wahljahr haben, nicht wahr, mein Sohn?«