Neunzehntes Kapitel

Der große Truck schwankte leicht, als McCracken ihn am späten Sonntagmittag auf den Hof fuhr. Es kam ihm seltsam angemessen vor, daß Arlo Cleese sich ausgerechnet einen Schlachthof als Versteck für seine Waffen ausgesucht hatte.

Blaine hatte den Lastwagen an einem knapp hundert Kilometer entfernten Schnellimbiß abgefangen. Der ursprüngliche Fahrer würde sich bis zum Anbruch der Dunkelheit von seinen Fesseln befreit haben, doch bis dahin würde Blaine schon längst über alle Berge sein.

Manuel Alvarez hatte die Waffen, die er Arlo Cleese geliefert hatte, zu diesem Ort mitten in Oklahoma zurückverfolgen können, und McCracken hatte sich in der Hoffnung herbegeben, hier einen Hinweis auf Cleeses Aufenthaltsort finden zu können. Seine Midnight Riders waren die militanteste aller radikalen Zellen der sechziger Jahre gewesen. Sie hatten auf die üblichen Entführungen, Banküberfälle und kleinen Sprengstoffattentate verzichtet und sich direkt einer Zerstörung im großen Maßstab zugewandt. Zu diesen Zielen hatten unter anderem ein Gerichtsgebäude gehört, ein Bürogebäude, für das man zahlreiche Mietshäuser hatte abreißen müssen, und eine Kirche, die regelmäßig von führenden Mitgliedern des Washingtoner Establishments besucht wurde. Allein diese drei Bombenattentate hatten ein Dutzend Opfer gefordert. Weitere zehn Menschen waren bei mehreren Schußwechseln mit FBI-Agenten gestorben, nachdem diese die Schlupfwinkel der Midnight Riders entdeckt hatten; Cleese selbst hatte bei solch einem Feuergefecht einen Treffer in den Oberschenkel abbekommen und humpelte seitdem.

Cleese war auch immer zuvor wieder mal untergetaucht, doch Anfang der siebziger Jahre war er dann – gemeinsam mit zahlreichen Randfiguren seiner Szene – endgültig verschwunden. Es gelang ihm, sich der Festnahme zu entziehen, obwohl er Anfang der Siebziger drei Jahre hintereinander auf der Liste der meistgesuchten Verbrecher des FBI stand und auch danach noch intensiv nach ihm gefahndet wurde. McCracken wußte, daß Cleese und andere Fanatiker seiner Couleur in einer ureigenen Schicht unter der amerikanischen Gesellschaft operierten. Dieser Untergrund war eine Welt für sich und bot Cleese den idealen Nährboden, die revolutionäre Raserei weiterzuentwickeln, die er in den sechziger Jahren mitbegründet hatte.

Vor McCrackens Truck waren noch drei andere an der Reihe, mit frischen Rinderhälften aus dem Schlachthaus beladen zu werden. Blaine stellte seinen Laster auf dem ihm zugewiesenen Platz ab und stieg aus. Den Motor schaltete er nicht ab, um die Kühlung des Laderaums nicht zu unterbrechen. Die Schlachthausarbeiter trugen lange weiße Mäntel und Handschuhe. Ein paar Arbeiter hatten ihre Atemschutzmasken auch auf dem Ladehof anbehalten; im Schlachthaus selbst würde zweifellos jeder eine tragen, um den unerträglichen Gestank abzuhalten. Wenn Blaine sich so eine Montur besorgen konnte, würde er das gesamte Gelände durchsuchen und auch das Hauptbüro betreten können, um vielleicht dort einen Hinweis auf Arlo Cleeses derzeitigen Aufenthaltsort zu finden.

Blaine schlenderte gemächlich zum Gebäude, drückte sich um die Ecke und lief zur Rückseite. Dort bemerkte er eine Tür mit der Aufschrift PERSONALEINGANG. Sie war von innen verschlossen, doch eine halbe Minute später hatte er sie geöffnet und war in einen dunklen Gang geschlüpft, in den zahlreiche Türen eingelassen waren. Hinter der vierten hingen mehrere weiße Overalls an Haken an den Wänden.

McCracken brauchte keine Minute, um eine der Schlachthaus-Monturen überzustreifen. Er fand eine Maske, die den Großteil seines Gesichts bedeckte, und befestigte sie vor Mund und Nase. Die beiden Handschuhe kamen zuletzt, nachdem er die SIG-Sauer in dem weißen Overall verstaut hatte.

Der Gang führte direkt in den Schlachthof weiter. Die Maske hielt den Gestank kaum ab, und gegen die Geräusche half sie natürlich überhaupt nicht. Blaine kämpfte gegen die Übelkeit an, die durch das Geschehen ausgelöst wurde, das nötig war, wollte man im ganzen Land Fleisch auf den Tellern haben. Er hielt sich so nahe wie möglich an der Wand und blieb den Pferchen mit den verängstigten Tieren und den anderen Arbeitern fern. Als er eine Tür mit der Aufschrift AUSGANG sah, öffnete er sie und fand sich auf einer Plattform wieder, von der aus er den gesamten Schlachthof-Komplex überblicken konnte.

Bis zum Horizont dehnten sich große Verschlage mit Tieren aus. Dahinter erhoben sich einige Gebäude und kleine Häuser, die den Rand des Schlachthofs wie eine kleine, altmodische Vorstadt aussehen ließen. Dieser Eindruck wurde von Feldern verstärkt, die sich so weit erstreckten, wie er sehen konnte.

In nahegelegenen Pferchen waren Arbeiter, die ähnlich wie er gekleidet waren, damit beschäftigt, Futter in lange, schmale Tröge zu schütten. Die zum Tode verurteilten Tiere keilten sich um ihre wahrscheinlich letzte Mahlzeit und spitzten die Ohren, wenn besonders laute Geräusche aus dem Hauptgebäude drangen.

Blaines Blick fiel auf einen Pferch direkt neben dem Schlachthaus, vor dem ein Mann, der über seiner weißen Montur eine hüftlange Jeansjacke trug, Futter schaufelte. Der Mann hatte sein braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der allerdings einzelne grauen Strähnen nicht verbergen konnte. Seine Gesichtshaut hatte das dunkle, faltige Aussehen von jemandem, der einen Großteil seines Lebens an der frischen Luft verbracht hatte. Seine Schultern waren schmal, aber sogar unter der Jacke waren feste Muskelschichten auszumachen. Er ging zu einigen aufgestapelten Futtersäcken, und Blaine bemerkte, daß er humpelte. Es war zwar unglaublich, aber sowohl das Alter des Mannes als auch die Beinverletzung deuteten darauf hin, daß es sich um Arlo Cleese handelte!

Das war wirklich ein Glückstreffer, aber er hatte Cleese zwar gefunden, doch wie sollte nun sein nächster Schritt aussehen? Blaine hatte noch nie jemanden einfach so getötet, und wenn er Cleese jetzt exekutierte, hätte sich ihm sowieso kein vernünftiger Fluchtweg geboten. Außerdem bestand die Frage, wie weit das alles über Cleese hinausging. Wenn der Plan auch ohne den Anführer der Midnight Riders ausgeführt werden konnte, war es sinnlos, ihn auszuschalten. Nein, jetzt war ein gründliches Verhör vonnöten, und dann konnte er Cleese an Manuel Alvarez ausliefern, der schon dafür sorgen würde, daß er seinen gerechten Lohn bekam.

McCracken stieg von der Plattform hinab und ging auf den Pferch zu, wobei er in das Blickfeld von zwei mit Gewehren bewaffneten Wächtern geriet, die auf dem Gelände patrouillierten. Er ging weiter, als würde er einfach eine ihm angewiesene Aufgabe ausführen. Er hatte bemerkt, daß hier draußen niemand eine Atemmaske trug, und so hatte er seine heruntergezogen, bevor er die Plattform verlassen hatte.

Als er sich dem Pferch näherte, wurde der strenge Geruch der Tiere stärker. Der Boden unter seinen Füßen war naß und mit Schlamm und Kuhscheiße bedeckt. Blaine stellte fest, daß der Dung Arlo Cleeses hohe Gummistiefel bis zu den Knöcheln bedeckte. Auf einem Brett vor dem Pferch stand ein zweites Stiefelpaar. Die Wachen verstohlen aus den Augenwinkeln beobachtend, stützte Blaine sich an dem Zaun ab und zog die Gummistiefel über seine Schuhe. Er fühlte sich zwar in seinen Bewegungen behindert, konnte nun aber wenigstens durch den Schlamm gehen, ohne Aufsehen zu erregen.

Blaine zog das Tor auf und trieb die Rinder in dessen Nähe auseinander. Er ging durch die Masse der schnaubenden Tiere direkt auf Cleese zu, der ihn gar nicht zu beachten schien und weiterhin mit regelmäßigen Bewegungen Futter in einen Trog schaufelte. Am anderen Ende des Pferches war ein Gatter geöffnet worden, und mehrere Tiere zwängten sich hindurch, um ihren letzten Gang anzutreten. Um noch unauffälliger zu wirken, griff McCracken sich eine einsam herumstehende Schaufel. Er war bis auf zwei Meter an Cleese herangekommen, als der sich endlich umdrehte.

»Fang du auf der anderen Seite an. Ich mache die Tröge hier fertig und …« Cleese musterte McCracken genau und hielt inne. »He, ich kenne Sie gar nicht.«

»Nein, Sie kennen mich nicht.«

Cleeses Blick senkte sich auf die Pistole, die Blaine in Hüfthöhe verborgen hielt. »Wenn Sie mich töten wollen … ich bin bereits tot.«

»Wir werden jetzt einen kleinen Spaziergang machen.«

»Meinen Leibwächtern würde das gar nicht gefallen.«

McCracken folgte Cleeses Blick zu den beiden bewaffneten Posten, die gut fünfzig Meter entfernt waren. »Sie müssen nichts davon mitbekommen.«

»Ich habe jemanden wie Sie erwartet.«

»Wirklich?«

»Es überrascht mich nur, daß es so lange gedauert hat«, fuhr Cleese fort, zog einen Futtersack zu sich heran und riß ihn auf. »Das bedeutet wohl, daß ihr Arschlöcher so langsam auf den Trichter gekommen seid.« Er richtete sich auf und blieb starr stehen. »Wenn Sie ein Tänzchen machen wollen, können wir es hier und jetzt hinter uns bringen. Ich gehe nirgendwo hin.«

Die SIG fühlte sich in Blaines Hand plötzlich ganz schwer an. Hier stimmte irgend etwas nicht. Zwei Meter vor ihm stand ein militanter Terroristenführer, von dem er angenommen hatte, er wollte eine Revolution anzetteln, bis zu den Knien im Dreck und klang eher so, als wäre er ein Opfer.

Die Unentschlossenheit mußte sich auf Blaines Gesicht gezeigt haben.

»Augenblick mal«, murmelte Cleese, »warten Sie mal … Verdammte Scheiße! Sie gehören gar nicht zu denen!« Nun wirkte er argwöhnisch, nicht mehr resigniert, sondern mißtrauisch. »Was, zum Teufel, haben Sie dann hier zu suchen?«

»Ich dachte, ich rette unser Land mal eben vor einem alten Arschloch, das nicht weiß, wann es aufhören muß.«

Cleese beförderte die erste Schaufel Futter aus dem neuen Sack in den Trog. Die Tiere, die sich davor zusammengedrängt hatten, liefen auseinander, um sich daran gütlich zu tun.

»Sie liegen völlig falsch, Mann.«

»Nicht unbedingt. Zumindest weiß ich, daß Manuel Alvarez Ihr Waffenlieferant war. Und daß Sie so gut ausgerüstet sind, daß Sie jetzt zu Ende bringen können, was Sie vor fünfundzwanzig Jahren mit den Midnight Riders und dem Rest dieser verrückten Randszene angefangen haben.«

Cleese lächelte. »Sie glauben, ich hätte die beiden Alvarez umgebracht?«

»Würde doch Sinn ergeben.«

»Ja, für jemanden, der mir diese Sache in die Schuhe schieben will, diese und noch jede Menge andere. He, ich hätte die nötigen Leute und die Ausrüstung, aber was soll die Scheiße? Ich und all die anderen alten Arschlöcher … wir haben uns gewissermaßen zur Ruhe gesetzt. Die verrückte Randszene ist noch immer eine Randszene, klar, aber wir sind nicht mehr besonders verrückt.«

»Zwei davon doch. In Miami. Coconut Grove.«

»Wenn die beiden in meinem Auftrag gehandelt hätten, hätte ich dafür gesorgt, daß keine Spuren zu mir zurückführen. Genau wie Sie, oder?« Cleese musterte McCracken eindringlich; die Schaufel hielt er wie einen Speer in der ausgestreckten Hand. »Und jetzt behaupten Sie ja nicht, die Waffen, die im Grove benutzt wurden, hätten zu einer meiner Lieferungen gehört.«

Blaine machte sich nicht die Mühe, Cleeses Vermutung zu bestätigen.

»Haben Sie einen Namen?« fragte Cleese ihn.

»McCracken.«

Cleese rammte die Schaufel in den Futtersack, ließ sie aber nicht los. »Wir haben im ganzen Land ein paar hübsche kleine Gemeinden wie diese errichtet. Ich ziehe ständig zwischen ihnen hin und her. Ich würde Sie ja einladen, mal bei uns zu wohnen, habe aber das Gefühl, daß Sie nicht der Typ dafür sind.«

»Und in jeder haben Sie einen Teil Ihrer Lieferungen von Alvarez gelagert?«

»Ganz genau.«

»Für die Revolution, die sowieso nicht mehr kommt?«

»Jetzt nur noch, um am Leben zu bleiben.«

»Daddy!«

Der fröhliche Ruf eines Kindes hinderte Cleese daran, diesen Satz näher zu erklären. Hinter McCracken lief ein Junge von vielleicht sechs Jahren durch den Schlamm; die Stiefel von Erwachsenengröße reichten ihm fast bis an die Taille. Er glitt an Blaine vorbei und sprang in Arlo Cleeses Arme.

»Du hast gesagt, du bist in zehn Minuten fertig, Daddy. Du hast gesagt, du kommst nach Hause.«

Cleese setzte den Jungen ab. »Ich habe Besuch.«

Der Kleine sah Blaine an. »Bleibt er bei uns?«

»Nein.«

»Eine Menge Leute bleiben nämlich bei uns«, sagte der Junge zu McCracken.

»Lauf zurück. Warte auf der Veranda auf mich«, sagte Cleese zu seinem Sohn, und der Junge war genauso schnell wieder weg, wie er gekommen war.

»Seine Mutter hat uns vor drei Jahren verlassen«, fuhr Cleese fort. »Ich habe noch mehr Kinder, aber er ist der einzige, der noch bei mir ist.«

»Sie scheinen sich ja wirklich zur Ruhe gesetzt zu haben.«

»Und das gefällt mir bislang gar nicht schlecht. Ich habe mein Leben lang Schwierigkeiten gehabt. Hielt es für eine gute Idee, ihnen mal eine Weile aus dem Weg zu gehen.«

»Und wieso brauchen Sie dann so viele Waffen?«

»Wir müssen bereit sein, deshalb. Sie sind hier, weil Ihnen jemand gequirlte Scheiße erzählt hat, Mac. Leute, die wollen, daß Sie und alle anderen glauben, ich würde hinter dem stecken, was demnächst geschehen wird. Ich habe gedacht, einer dieser Leute hätte Sie geschickt. Das gehört alles zum Plan.«

»Zu welchem Plan?«

»Da Sie vor mir stehen, müssen Sie das doch wissen.«

»Warum erzählen Sie mir nicht Ihre Version, wenn ich schon einmal hier bin?«

Cleese zog die Schaufel aus dem Futtersack und stützte sich auf ihr ab. Um ihn herum drängten die Tiere sich ungeduldig zusammen.

»Ich habe den Eindruck, in den sechziger Jahren waren Sie nicht oft zu Hause, Mac. Zwei Dienstzeiten in Vietnam?«

»So ungefähr.«

»Und keinerlei Akten, die Auskunft darüber geben?«

»Könnte schon sein.«

Cleese stieß die Schaufel wieder in das Futter. »Sie und ich, Mac, wir beide sind in den Krieg gezogen, und wir beide haben ihn überlebt. Aber damals in den sechziger Jahren kam einem das Überleben gar nicht so wichtig vor. Wichtig war nur der Krieg, und ich meine damit nicht den in dem Land, in das man Sie geschickt hat. Ich spreche von der Heimat. Während Sie für die Freiheit gekämpft haben, habe ich miterlebt, wie sie in den guten alten USA selbst bedroht wurde. Subtile, aber konzertierte Bemühungen, daß alle schön im Gleichschritt marschieren. Das hat mir ganz schön Angst eingejagt, und wir haben getan, was wir konnten, um dagegen anzukämpfen, bis sie dann Druck machten und wir weggepustet wurden. Wir waren nicht so verrückt, die Sache bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Aber die wirklich verderbten Leute waren es. Sie haben nie aufgehört. Und sie werden nicht aufhören, bis sie bekommen haben, was sie wollen.«

»Und das wäre?«

»Sie werden sich erst zufriedengeben, wenn ihnen das Land selbst gehört. Daran arbeiten sie. Deshalb wollten sie uns schon damals aus dem Weg schaffen.«

McCracken wurde ganz schummrig. Es war durchaus denkbar, daß der im Sterben liegende Tom Daniels mit der Erwähnung der Operation Gelbe Rose ihn gar nicht auf die Midnight Riders aufmerksam machen wollte, sondern auf die Macht hinter der Gelben Rose: William Carlisles geheimnisvollen Unterausschuß der Trilateralen Kommission. Carlisle hatte angedeutet, daß es erst aufgrund des Versagens dieses Unterausschusses, Leute wie Cleese zu eliminieren, als sich die Gelegenheit dazu geboten hatte, zu der derzeitigen Krise gekommen war. Aber was, wenn dieses Scheitern zu einer ganz anderen Entwicklung geführt hatte, zu einem wesentlich vielschichtigeren Plan, die Kontrolle zu erlangen, nach der sie es gelüstete? In diesem Fall wären die ehemaligen Mitglieder der verrückten Randszene hereingelegt worden, und man wollte ihnen die Schuld an der Verschwörung in die Schuhe schieben, deren wahre Urheber Daniels entlarvt hatte.

»Operation Gelbe Rose«, murmelte Blaine.

Cleese runzelte überrascht die Stirn. »Wie ich schon sagte, wenn Sie mich gefunden haben, müssen Sie ja einiges wissen.«

»Fahren Sie fort.«

»Die Arschlöcher der Trilateralen Kommission hätten nicht den Mumm, die Gelbe Rose durchzuziehen. Also ließ man erst mal Gras über die Sache wachsen, bis ein neuer Boß kam. Ein wirklich guter. Hat eine Tagesordnung, gegen die die alte wie eine Einkaufsliste wirkt. Weiß ganz genau, wie er bekommt, was er will, ohne daß jemand schnallt, daß er es ihm gegeben hat.«

»Zum Beispiel …?«

»Sehen Sie sich mal die Kongreß-Resolution 4.079 an. Lassen Sie sich von dem ganzen Drumherum nicht blenden und finden Sie heraus, was sie wirklich besagt und wofür sie den Weg ebnet.«

»Wie wäre es mit einem kleinen Hinweis?«

»Sehen Sie sich die Resolution lieber selbst an.«

McCracken fiel ein weiterer rätselhafter Hinweis ein, den Tom Daniels ihm gegeben hatte. »Sagt Ihnen das Wort ›Prometheus‹ etwas?« fragte er.

»Sollte es das?«

»Wenn Ihnen die Operation Gelbe Rose etwas sagt, ja. Die beiden Begriffe stehen im Zusammenhang.«

»Wie?«

»Das weiß ich nicht. Noch nicht.« Blaine dachte kurz nach. »Was ist mit ›Delphi‹?«

Cleese schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts, Mann. Am besten halten Sie sich daran, was Sie wissen und was ich Ihnen gesagt habe. Wenn Sie wissen wollen, wer den Zug fährt, müssen sie damit anfangen, was sie im Dienstwagen verstecken.«

»Diese Kongreß-Resolution …«

Cleeses nächste Schaufel mit Futter landete hinter dem Trog. Das Vieh zerstreute sich schnell und fiel darüber her.

»Sie wird beweisen, daß ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, denn …«

Cleeses Satz endete in einem gequälten Schrei. Er brach zusammen und faßte sich an die Schulter. McCracken ließ sich blitzschnell fallen und entsicherte die SIG, während er zwei weitere schallgedämpfte Schüsse hörte. Er sah zu den beiden Wachmännern hinüber, die sie die ganze Zeit über beobachtet hatten. Einer war außer Sicht verschwunden, der andere lag reglos im Schlamm. »Scheiße!« schrie Cleese, rollte sich herum und suchte hinter den Tieren Deckung.

»Bleiben Sie unten.«

»Wenn das Ihre Leute sind, Sie Arschloch, kommen Sie lebend hier nicht raus!«

»Das sind nicht meine Leute, Cleese.«

Weitere Schüsse erklangen. Der Rhythmus, die Abstände, die Kadenz … Blaine ging ein Licht auf. All diese Wachen, sowohl sichtbar als auch unsichtbar, und trotzdem waren Cleeses Sicherheitsmaßnahmen durchdrungen worden, ohne daß es Alarm gegeben hatte.

»Sondern Ihre«, sagte Blaine.

»Sie haben sie nicht mehr alle …«

»Zumindest ein paar. Sie haben die Angreifer auf das Gelände gelassen.«

McCracken war ein Stück von ihm weggerobbt und hielt nach den Schützen Ausschau. Zumindest hatte die Illusion sich deutlich von der Realität getrennt; seine wahren Gegner hatten sich enthüllt.

Bill Carlisle hatte völlig falsch gelegen. Es war nicht zu diesen Ereignissen gekommen, weil sein Unterausschuß sein Mandat nicht erfüllt hatte; ganz im Gegenteil, der noch immer gedeihende Ableger der Trilateralen Kommission verfolgte ein anderes Mandat.

Blaine vermutete, daß sie Cleese jederzeit hätten töten können, aber bis jetzt gewartet hatten. Nachdem die Bombe an Bord des Flugzeugs mit dem Ziel Miami ihre Aufgabe nicht erfüllt hatte, hatten sie ihm eine neue Falle gestellt. Sie hatten ganz genau gewußt, wohin die Spur McCracken letztlich führen würde.

»Kommen Sie allein hier raus?« fragte Blaine.

»Ich bin nicht all die Jahre lang auf freiem Fuß geblieben, um jetzt so zu sterben«, erwiderte der Anführer der Midnight Riders mit schmerz verzerrtem Gesicht. »Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel.«

»Dann benutzten Sie sie. Hauen Sie ab.«

»Ich laufe nicht einfach davon«, sagte Cleese starrköpfig. Der Atem kondensierte vor seinem Gesicht.

»Denken Sie an Ihren Sohn.« Blaine wußte, daß er ihn damit am Wickel hatte. »Robben Sie schon los. Bleiben Sie unten, zwischen dem Vieh.«

Cleese nickte. »Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer. Merken Sie sie sich. Abhörsichere Leitung. Für den Fall, daß Sie mich eines Tages erreichen müssen. Ich bin Ihnen jetzt was schuldig.«

Cleese sagte die Nummer auf. Blaine prägte sie sich ein.

»Und jetzt verschwinden Sie von hier«, befahl er dann.