Sechsunddreißigstes Kapitel

McCracken und die Gruppe aus fünf Midnight Riders näherten sich dem Turm des alten Postamts aus verschiedenen Richtungen. Das ehemalige Hauptpostamt der Vereinigten Staaten und die spätere Verrechnungsstelle für Regierungsüberschüsse war zu einem großzügigen Einkaufszentrum namens Pavillon umgebaut worden. Das riesige Gelände im Innenhof bot jede Menge Raum zum Einkaufsbummel, viele Tische im Restaurantbereich des Pavillon luden zum Imbiß oder zur Mahlzeit ein, während durch das restaurierte Glasdach neun Stockwerke höher Tageslicht hereinströmte.

Gleichzeitig hatte man sich mit der Aussichtsplattform auf dem zwölften Stockwerk und den berühmten Kongreßglocken um eine historisch gerechte Restaurierung bemüht. Das melodische Geläut war in der ganzen Stadt zu hören, wenn der Anlaß es verlangte. McCracken fragte sich unwillkürlich, ob die Glocken um neunzehn Uhr als Signal für den Beginn des Angriffs von Delphi eingesetzt wurden.

Doch bevor es dazu kam, hatte er noch eine Überraschung für seine Gegner parat.

Die große Fläche des Pavillon machte das Zentrum zu einem idealen Versammlungsort für eine beträchtliche Delphi-Truppe. McCracken war sich ebenfalls sicher, daß die Aussichtsplattform bereits besetzt worden war; von dort aus konnten alle strategisch wichtigen Punkte der Hauptstadt durch Scharfschützen überwacht werden. Auf diese Weise ließ sich jeder Polizist oder Marinesoldat der achten Kompanie oder Leichten Infanterie in Schach halten, der Widerstand zu leisten versuchte. Dementsprechend durfte die Bedeutung dieses Gebäudes nicht unterschätzt werden.

Es war 6 Uhr 50, als Blaine und die fünf von Arlo Cleese handverlesenen Midnight Riders das Pavillon betraten. Für McCracken war es kinderleicht, die Angehörigen der Delphi-Truppen aus der Menge herauszupicken. Ihre Alltagskleidung konnte nicht ihre entschlossenen Blicke verbergen. Ebenso sprachen ihre nicht vorhandenen Einkaufstaschen oder die leeren Teller auf den Tischen vor ihnen Bände. Besonders jetzt, wo die Aktion in wenigen Minuten starten würde, waren sie so leicht zu erkennen, daß Blaine sie genauso gut hatte bitten können, sich durch Handzeichen zu identifizieren.

Sein Problem bestand darin, daß sie nur die Hälfte der Anwesenden im Pavillon ausmachten.

McCracken und die fünf Midnight Riders trafen sich auf verschiedenen Wegen in einer Nische, wo die Touren zur Aussichtsplattform und den Kongreßglocken begannen. Alle sechs zwängten sich in den Lift, der sie zum neunten Stock brachte, wo sich die Kontrollen der Glocken befanden. Dort stieg einer der Midnight Riders aus. McCracken und die übrigen blieben in der Kabine und fuhren zur Aussichtsplattform auf dem zwölften Stockwerk weiter, wo sich fünf Männer in grünen US-Ranger-Uniformen überrascht zu ihnen umdrehten, als die Türen zur Seite glitten.

»Ich muß Ihnen sagen, daß der Turm heute leider geschlossen ist«, sagte einer von ihnen bedauernd.

»Ach, das versaut mir den ganzen Tag.«

McCracken und die vier Riders zogen ihre schallgedämpften halbautomatischen Pistolen und eröffneten das Feuer. Die fünf Delphi-Männer gingen zu Boden. Die Riders hatten gerade begonnen, die Toten wegzuschaffen, als der Feueralarm ertönte, der drei Stockwerke tiefer vom fünften Midnight Rider ausgelöst worden war.

Blaines Uhr zeigte 6 Uhr 54 an.

Das bedeutete, daß die Zivilisten im Pavillon noch sechs Minuten hatten, um das Gebäude zu verlassen. Er konnte nur noch hoffen, daß diese Zeitspanne ausreichte.

Blaine eilte zur westlichen Seite der Aussichtsplattform, von wo aus man auf das schräge Glasdach des eigentlichen Turms hinunterblicken konnte. Er nahm seine harmlos aussehende Umhängetasche von der Schulter und holte die vier C-4-Plastiksprengstoffkapseln mit Detonationszünder heraus.

In der Kommandozentrale von Mount Weather waren die Leute an den Computern zwischen der Vorderwand und der Galerie mit der Überwachung verschiedener Sektoren von Washington beschäftigt. Einer von ihnen drehte sich in seinem Stuhl zu General Cantrell um, wobei er seine Hand gegen seinen Kopfhörer gedrückt hielt.

»Sir, im Turm des alten Postamts wurde Feueralarm ausgelöst. Die Zivilisten verlassen das Gebäude.«

Cantrell warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, die 6:55:30 anzeigte, und drückte ein paar Tasten auf seiner Fernbedienung. Auf dem großen Wandbildschirm war nun ein Luftbild des Gebäudes zu sehen, in dem die meisten ihrer Truppen konzentriert waren.

»Sir«, meldete sich wieder der Mann, der für den entsprechenden Sektor zuständig war, »die Verbindung mit der Aussichtsplattform ist abgebrochen.«

»Was, zum Teufel …?«

Cantrell trat näher an den Bildschirm heran.

»Die Evakuierung der Zivilisten ist im Gange, Sir. Es werden Truppen zur Plattform geschickt.«

»Stellen Sie mir eine Verbindung mit jemanden dort her«, befahl Cantrell.

Das geneigte Glasdach des Turms war so konstruiert, daß es im Zentrum in einer Spitze auslief. Die zerschmetterten Glasscherben des zwei Tonnen schweren, siebeneinhalb Zentimeter dicken Dachs würden zwar wirksame und tödliche Waffen abgeben, aber nur, wenn sie nach unten fielen. Um mit der Explosion eine solche Wirkung zu erzielen, mußte Blaine dafür sorgen, daß der Sprengstoff an den tragenden Stützen der vier Ecken detonierte. Pünktlich um 6 Uhr 59 warf er die Kapseln mit äußerster Präzision. Zwei fanden genau ihr Ziel, die anderen beiden trafen in unmittelbarer Nähe auf.

»Runter!« schrie er den Riders zu.

Auf seinen Befehl hin warfen sich alle auf der östlichen Seite der Plattform zu Boden, wobei sie das erhöhte Podest mit dem Wachhäuschen der Ranger als Deckung benutzten.

Die Explosion erfolgte wenige Sekunden vor sieben Uhr.

Obwohl sich Blaine die Arme über den Kopf hielt, war das durchdringende Kreischen von zwei Tonnen zerberstendem Glas ohrenbetäubend. Das Sicherheitsnetz vor der Aussichtsplattform, das die Vögel abhalten sollte, konnte nicht verhindern, daß ein Sturm aus tödlichen Scherben hereinwehte. McCracken und seine Leute blieben in Deckung, bis sie sicher waren, daß der Scherbenregen vorbei war.

Blaine hörte die Todesschreie und das Jammern der Verletzten aus dem Pavillon. Er schüttelte die Trümmerschicht von seinem Rücken und sprang auf. Der Blick vom Turm nach unten war schockierend. Das Glasdach war zum größten Teil weggesprengt, so daß er einen deutlichen Einblick in den Pavillon und die Folgen seiner Tat hatte. Die Scherben hatten ihre tödliche Aufgabe besser erledigt, als er erwartet hatte.

Überall langen Leichen verstreut. Verletzte rührten sich und riefen um Hilfe. Die meisten waren jedoch stumm. Der kupferne Geruch des vielen Blutes stieg in die Luft auf und vermischte sich mit dem Gestank des C-4-Plastiksprengstoffs, McCracken versuchte nicht daran zu denken, wie viele der Toten Zivilisten sein mochten, die das Gebäude nicht rechtzeitig hatten verlassen können. Er hoffte, daß es nicht allzu viele waren, aber er mußte sich jetzt um andere Dinge kümmern.

Er machte zehn M21-Waffen für Scharfschützen aus, die aus modifizierten M14-Gewehren bestanden, die mit Zeupold-Zielfernrohren ausgestattet worden waren. Delphi hatte sich mit dem besten vorhandenen System ausgerüstet. Es lag eine gewisse Ironie darin, daß es nun gegen sie eingesetzt wurde.

»Ihr wißt, wie unsere Feinde aussehen«, sagte Blaine zu den Riders. Drei von ihnen hatten sich Cleese angeschlossen, nachdem sie desillusioniert aus Vietnam zurückgekehrt waren, und zwei von ihnen waren Scharfschützen. Die beiden übrigen kannten sich durch ihre Arbeit im Weather-Underground mit Waffen und Zieleinrichtungen aus. »Wenn es soweit ist, tötet sie alle und überlaßt es Gott, sie nach gut und böse zu sortieren.«

Mit diesen Worten verschwand McCracken im Treppenhaus.

Die Menschen in der Kommandozentrale von Mount Weather registrierten schockiert die Explosion. Die Satellitenübertragung lief ohne Ton, aber die Vorstellungskraft konnte diesen Mangel problemlos ausgleichen, als das Glasdach des Turms mit einem hellen Blitz explodierte und nach unten verschwand. Cantrell wich unwillkürlich von dem Bildschirm zurück. Der Präsident sprang erschrocken und mit neu erwecktem Interesse auf.

»McCracken«, murmelte er. »McCracken …«

Cantrell ging aufgeregt die Reihe der Monitore entlang und brüllte seine Befehle. Es überraschte ihn nicht, daß man den Kontakt mit dem Gebäude verloren hatte. Inzwischen versuchte das Personal, Verbindung mit anderen Leuten in der Nähe zu bekommen. Verzweifelte Stimmen schrien in seinem Kopfhörer durcheinander, bis er ihn herunterriß.

In der allgemeinen Aufregung vergaß der General, auf die Digitaluhr an der Wand zu sehen, und als er schließlich wieder einen Blick darauf warf, war es bereits zwei Minuten nach sieben.

»Anweisung für den Beginn der Aktion in allen Sektoren«, brüllte er in Richtung der Monitore, die mit den Delphi-Truppen in Washington in Verbindung standen. »Sofort!«

»Ist etwas Unerwartetes eingetreten?« spöttelte der Präsident.

Cantrell hatte sich gerade zum Oberbefehlshaber umgedreht, als die Stimme von Samuel Jackson Dodd durch den Raum dröhnte.

»Was ist los, General?« fragte Dodd in einem merkwürdig tiefen Tonfall, obwohl ihm die gleichen Bilder in seine Raumstation übertragen wurden.

Cantrell blickte zur Kamera hoch, die Dodd auch auf Olympus einen Blick in die Kommandozentrale ermöglichte.

»Ich … weiß es nicht, Sir.«

»Aber ich. McCracken! Es ist McCracken.« Dodds Stimme klang immer noch ungewöhnlich tief. Seit er von McCrackens verfrühter Flucht aus Whiteland gehört hatte, hatte er mit etwas Ähnlichem gerechnet.

»Sir, wir haben keinerlei Möglichkeit …«

»General, ich will von Ihnen keine Erklärungen oder Entschuldigungen hören. Instruieren Sie alle Delphi-Truppen, auf jeden zu achten, auf den seine Beschreibung paßt.« Dodd machte eine Pause, während über den unsichtbaren Lautsprecher seine Atemzüge zu hören waren. »Wir haben noch nicht gewonnen.«

Die nächsten Augenblicke veranlaßten den Präsidenten, Dodds letzten Ausspruch zu bezweifeln. Cantrell hatte den Bildschirm in acht Ausschnitte unterteilt, auf denen Delphi-Truppen zu sehen waren, die sich auf den Weg zu den in der Nähe ihres Einsatzortes geparkten Lieferwagen machten.

Da die Fahrzeuge unauffällig postiert worden waren, hatten die Wachen nur wenig auf Passanten geachtet. Weder die Wachen noch die Männer an den Satellitenkameras hatten die Frau mit dem Kinderwagen bemerkt, die ein Paket mit Plastiksprengstoff an einem der Lieferwagen befestigt hatte. Oder das Pärchen, das Hand in Hand ging und quasi im Vorbeigehen ihre Bomben an zwei weiteren Lieferwagen deponieren konnte. Insgesamt waren sieben der feindlichen, mit Waffen beladenen Fahrzeuge aufgespürt und von den Midnight Riders sabotiert worden.

Die Logistik der Aktion erforderte es, ferngesteuerte Zünder statt Zeitschalter zu verwenden. Um einer möglichen Durchsuchung vorzubeugen, trug jeweils ein Rider, der nicht mit dem Bombenleger identisch war, den Fernzünder bei sich. Die Saboteure waren mit der Durchführung solcher Aktion bestens vertraut, nachdem sie ihr tödliches Geschäft bereits in den sechziger Jahren bei den Weathermen, den Studenten für eine Demokratische Gesellschaft oder den Black Panthers praktiziert hatten. Unglücklicherweise waren die Leute, die für die Zündung der Bomben verantwortlich waren, nicht so gut ausgebildet. So drückten sechs von den sieben vorzeitig auf die roten Knöpfe ihrer Zünder, nämlich beim ersten Anzeichen einer Annäherung der Delphi-Truppen. Die heftigen Explosionen zerstörten die Lieferwagen und die Waffen darin vollständig. Doch nur in einem Fall, wie der Satellit nach Mount Weather übermittelte, vernichtete die Explosion gleichzeitig die sich nähernden Delphi-Truppen.

Dennoch wechselte der Präsident hoffnungsvolle Blicke mit Charlie Byrne und Angela Taft aus.

»Weiter so, Bruder!« murmelte die Nationale Sicherheitsberaterin. Sie meinte Blaine McCracken.

Cantrell schaltete auf eine Gesamtübersicht des Washingtoner Stadtzentrums zurück, um den angerichteten Schaden besser einschätzen zu können. Deutlich waren sieben schwarze Rauchwolken zu erkennen, die je einen verlorenen Lieferwagen anzeigten. Im Kopfhörer, den er sich gerade wieder übergestreift hatte, ging es erneut hektisch zu, als seine Verbindungs-Offiziere in der Hauptstadt ihre Einsatztruppen neu formierten.

»Sie verlieren, General«, sagte der Präsident zuversichtlich.

»Dann wollen wir uns etwas anderes ansehen«, entgegnete Cantrell.

Mit der Fernbedienung zoomte er einen Ausschnitt heran, der von der modernen M-Street in Georgetown dominiert wurde. Bei diesem Anblick verlor der Präsident den Mut. Eine Formation Bewaffneter in Zivilkleidung mit Automatikgewehren fächerte aus und nahm alles unter Beschuß, was sich bewegte. Windschutzscheiben und Reifen parkender Autos explodierten, Schaufenster lösten sich in Glassplitter auf. Viele unschuldige Menschen wurden niedergestreckt, während sie zu fliehen versuchten. Es war ein entsetzliches Gemetzel. Überall lagen Tote. Die Überlebenden des ersten Ansturms sprangen durch die zertrümmerten Fenster teurer Boutiquen und Restaurants, um Deckung zu suchen. Das Schnellfeuer war gnadenlos, und trotz der Lautlosigkeit konnte der Präsident die Szene kaum noch ertragen.

Cantrell schaltete wieder an seiner Fernbedienung. »Und das ist noch nicht alles …«

Er hatte die große Bildfläche in der Mitte geteilt. Auf der linken Seite war ein Sturmangriff auf das Polizeipräsidium in der Nähe des Gerichtsgebäudes zu sehen. Das Innere des Präsidiums war nicht zu erkennen, aber das war auch nicht nötig. Kein einziges Fenster war noch heil. Vier Einsatzwagen lagen zertrümmert auf der Seite, nachdem sie entweder von kleinen Raketen oder Granaten getroffen worden waren. Dort, wo einmal der Haupteingang gewesen war, befand sich nur noch ein riesiges gähnendes Loch mit gezackten Rändern. Rauch quoll durch die Fensteröffnungen heraus. Uniformierte Tote lagen auf dem Rasen vor dem Gebäude und auf den Treppen. Die Räder eines umgestürzten Motorrads, das seinen Fahrer unter sich begraben hatten, drehten sich noch immer. Obwohl nur das Polizeigebäude gezeigt wurde, war klar, daß sich ähnliche Szenen an allen strategisch wichtigen Stellen der Stadt abspielten.

Der Präsident rang um Atem. Die rechte Hälfte des Bildschirms sah genauso schlimm aus. Die 8. Marinekompanie, die als Bewachung des Weißen Hauses, des Kapitols, der Botschaften und hoher Beamter eingesetzt war, marschierte ebenfalls in voller Ausrüstung auf. Obwohl sie auf den ersten Blick nur mit dem Protokoll beschäftigt schienen, waren sie dennoch kompetente Kämpfer und eine Bedrohung, die Delphi nicht ignorieren durfte. Dementsprechend beobachtete der Präsident voller Schrecken, wie eine fünfzig Mann starke Schwadron Delphi-Truppen durch das Eingangstor in den Hof vor den Kasernen vorstieß, wo gerade der Aufmarsch stattfand. Vereinzeltes Gewehrfeuer streckte die Teilnehmer nieder, deren Paradewaffen zur Verteidigung ungeeignet waren. Die Schützen wandten sich auch den aufgeschreckten Zuschauern zu und mähten sie reihenweise nieder, während sie von der Tribüne zu fliehen versuchten. Dann wurden die Kasernen, die den Hof umgaben, von einer Reihe heftiger Explosionen erschüttert. Gebäude und Fahrzeuge gingen in Flammen auf. Ein paar Soldaten der 8. Kompanie, die schnell genug reagiert hatten, um sich zu bewaffnen, wurden mühelos niedergemetzelt.

General Cantrell schaltete den Bildschirm um, so daß nun vier Ansichten von Delphi-Fahrzeugen zu sehen waren, die den Kundschaftern der Midnight Riders entgangen waren. Die Fahrzeuge kreuzten auf den Straßen zwischen Georgetown, der L'Enfant Plaza, der Union Station und dem Gebäude des Außenministeriums. An ausgesuchten Punkten wurden Delphi-Einheiten abgesetzt, um sich zu verteilen und die Straßen zu sichern.

»Es sieht ganz so aus«, sagte Cantrell zum Präsidenten, »als hätte sich das Glück der Schlacht bereits gewendet.«

Von seinem verdunkelten Büro aus hatte Ben Samuelson, der Direktor des FBI, seit Beginn der Schlacht mit jedem verfügbaren Kommunikationsmittel versucht, die Außenwelt zu erreichen. Die auf dem Dach stationierten Kundschafter übermittelten ihm genügend Vorgänge, um zu erkennen, daß die Siebente Leichte Infanteriedivision, mit der er angeblich den ganzen Nachmittag lang in Verbindung gestanden hatte, nicht mehr als eine Stimme am anderen Ende der Leitung gewesen war. Er war übertölpelt worden – das ganze Land war übertölpelt worden. Die Siebente war gar nicht in Washington und auch nicht unterwegs in die Stadt. Der Feind hatte freie Hand in Washington.

Zum ersten Mal, seit das J.-Edgar-Hoover-Building eröffnet worden war, hatte Samuelson eine hermetische Abriegelung befohlen. Hoover, der für seine Paranoia bekannt war, hatte seinerzeit veranlaßt, daß ein paar ungewöhnliche Details in den Bauplänen berücksichtigt wurden. Dazu gehörten sprengstoffsichere Fensterläden aus Stahl, die Raketenbeschuß standhielten und über alle Eingänge und die Fenster der leitenden Büros heruntergelassen werden konnten. Hinzu kamen getarnte Schießscharten, die sich an allen vier Seiten des Gebäudes befanden, vier auf jeder Seite, also insgesamt sechzehn. Nachdem die Wahrheit über den Betrug bekanntgeworden war, hatte Samuelsons erster Befehl darin bestanden, Mitglieder der Geiselrettungseinheit des FBI an diesen Schießscharten zu stationieren. Samuelson hatte diese Truppen wegen ihrer Treffsicherheit den SWAT- und Antiterroreinheiten vorgezogen. Wenn das Gebäude angegriffen wurde, brauchte er auf jeden Fall Leute, die auf hundert Meter Entfernung die Spitze eines Kugelschreibers treffen konnten.

Nachdem sie stationiert war, leistete die Einheit den Delphi-Fahrzeugen, die durch die Straßen kreuzten, den ersten direkten Widerstand. Hinter den gut befestigten Schießscharten leerten die Scharfschützen eine Patronenhülse nach der anderen und hielten so zunächst das wahllose Gewehrfeuer auf, bis sie selbst zum Zentrum der Aufmerksamkeit und des Beschusses wurden. Zwei Minuten nach dem Beginn der Vergeltung mußten die übermäßigen Sicherheitsvorkehrungen des Hoover-Gebäudes ihre erste Feuerprobe bestehen. Granaten und leichtes Feuer schlugen Kerben in die schwere Betonkonstruktion. Das Personal duckte sich und ging in Deckung, als sich die Stahlfensterläden unter dem Feuer von M40-Granaten eindellten. Es war klar, daß die Stahlmäntel keinem schweren Raketenbeschuß standhalten konnten, zum Beispiel von Stinger-Raketen. Die wenigen Leute, die mit Samuelson im Gebäude geblieben waren, waren sich dessen zähneknirschend bewußt. Doch sie wußten auch, daß ihr Widerstand im Stadtzentrum, der letztlich zum Scheitern verurteilt war, einen entscheidenden Zeitgewinn für eintreffende Verstärkung bedeuten konnte.

Natürlich wußten zu diesem Zeitpunkt nicht alle von ihnen, daß sämtliche Kommunikationskanäle des Landes lahmgelegt waren.

Ein Spezialagent hastete geduckt in Samuelsons Büro und hielt etwas in den Armen, das in eine Decke gewickelt war, »Hab' es heil rübergeschafft«, sagte er atemlos und legte das Bündel auf den Teppich.

Samuelson riß die Decke zur Seite und betrachtete das altertümliche MARS, das Militärische Amateur-Radio-System. Der Direktor kniete sich hin und schaltete es ein. Dann hob er das klobige Standmikrophon an die Lippen.

»FBI an alle einsatzbereiten Militärstützpunkte!« begann er, ohne zu warten, bis die Röhren warm geworden waren. »FBI an alle einsatzbereiten Militärstützpunkte! Ende.«

Samuelson wußte, daß alle Stützpunkte bei einem Kommunikationsausfall automatisch auf dieses System zurückgreifen würden. Er konnte jedoch nicht wissen, daß die Stützpunkte die sich im Umkreis von hundert Kilometern um die Hauptstadt befanden, einschließlich der SEALS in Virginia, durch eine von General Cantrell kurzfristig angeordnete Übung so gut wie kein Personal mehr hatten. Der erste, der innerhalb von Sekunden auf Samuelsons Anruf reagierte, war ein Stützpunkt in North Carolina.

»Achtung, Anrufer, hier ist das Zentralkommando von Fort Bragg«, erklärte eine ernste Stimme. »Sie benutzen einen Kanal, der nur für militärische Zwecke vorbehalten ist. Bitte machen Sie den Kanal sofort frei! Sie verletzen bundesstaatliche Kommunikationsrestriktionen, die von der Federal Communications Commission festgelegt wurden. Ende.«

»Bragg«, antwortete Samuelson, »hier spricht Direktor Ben Samuelson vom FBI. Kennzeichnung Vier-Null-Box-Neun. Ich melde einen Angriff auf die Innenstadt von Washington. Wir fordern sofortige Unterstützung an. Ende.«

»Sagten Sie Angriff, Sir? Bitte wiederholen Sie! Ende.«

»Sie haben völlig richtig gehört.« Samuelson nahm einfach den Finger von der Ruftaste und ließ bewußt die übliche Ansage für das Ende der Übertragung aus.

»FBI, bitte wiederholen Sie noch einmal zur Bestätigung. Wir haben ›Meldung eines Angriffs auf die Innenstadt von Washington‹. Ende.«

»Verdammt noch mal, hier sterben Menschen!« brüllte Samuelson, während draußen weiterhin das Feuer gegen das J.-Edgar-Hoover-Building schlug. »Bewegt eure Ärsche und schickt uns Hilfe!«

Kaum eine Minute später hatte Lester Kerwin, der kommandierende General von Fort Bragg, über das MARS einen offenen Kanal zu Ben Samuelson eingerichtet. Samuelson berichtete ihm hastig, in welcher Form der Angriff stattfand, und auch, daß der Präsident und sämtliche hohen Regierungsmitglieder aus der Stadt evakuiert worden waren. Samuelson konnte nicht sagen, ob sie in Sicherheit waren.

Für den Anfang konzentrierte General Kerwin seine Bemühungen auf Washington. Er konnte entweder Kommandos der Delta Force einsetzen oder einen aufwendigeren Gegenschlag in Form der 82. Luftlandetruppen riskieren. Der Nachteil der letzteren Möglichkeit lag darin, daß die 82. ausschließlich eine Angriffstruppe war. »Wenn es sich bewegt, tötet es!« war das Credo der 82. und auf dem Konfliktschauplatz Washington waren höchstwahrscheinlich jede Menge friedlicher Zivilisten unterwegs. Die Delta Force hingegen ging wesentlich rücksichtsvoller vor; allerdings war ihre Truppenstärke erheblich geringer als die der 82. Hinzu kam, daß die Delta Force darauf trainiert war, umfangreiche Aufklärungen und geheimdienstliche Ermittlungen durchzuführen, um ihre Vorgehensweise zu bestimmen, wofür heute jedoch keine Zeit blieb. Und da sie auf schnelle Angriffe spezialisiert war, hatte sie keine Erfahrung mit bewaffneter Rückendeckung, und die Art der Belagerung der Hauptstadt deutete darauf hin, daß auch schwere Einheiten benötigt wurden.

Schließlich entschied sich Kerwin für die einzige realistische Möglichkeit. Er würde die 82. nach Washington schicken und die Delta Force darauf ansetzen, falls nötig Greenbrier, Site R und Mount Weather zurückzuerobern.

»Direktor Samuelson, die 82. Luftlandetruppen machen sich bereit. Ende.«

»Wie lange brauchen Sie? Ende.«

»Geschätzte Ankunft an Ihrem Standort in vier Stunden. Ende.«

»Vier Stunden! In vier Stunden ist hier vielleicht niemand mehr am Leben. Ende.«

»Sir, wir haben das Optimum bereits um zwei Stunden reduziert. Ende.«

»General, hier geht es um die Hauptstadt des Landes! Ende.«

»Es ist auch mein Land, Direktor. Wir werden so schnell wie möglich eintreffen. Ende der Durchsage.«

Als Samuelson das Mikrophon sinken ließ, erschütterte ein Raketenhagel das Hoover-Gebäude. Die Beleuchtung setzte aus, doch die Notstromaggregate schalteten sich sofort ein und tauchten sein Büro in ein trübes Licht.

»Ich gehe nach oben zu den Scharfschützen«, sagte er zu seinem Krisenstab, der sich gemeinschaftlich auf den Boden gekauert hatte, so weit wie möglich von den Fenstern entfernt. »Ich will mir selbst ansehen, was da draußen vor sich geht.«

Die Heftigkeit des Angriffs der Opposition überraschte sogar McCracken. Er mischte sich unbemerkt unter die Verwundeten im Pavillon, und um sich eine Tarnung zu verschaffen, half er mit, ein paar blutende Verletzte durch den fußtiefen Scherbenhaufen zu tragen.

Das Geräusch mehrerer kleiner Explosionen aus der Stadt versicherte ihm, daß Arlo Cleeses Midnight Riders seinen Instruktionen Folge geleistet hatten. Die kleinen Gruppen der Riders würden jetzt auf Cleeses Signal zum Ausrücken warten. Diese Gruppen wurden von den Männern und Frauen angeführt, denen Gewalttaten in den Sechzigern nicht schwergefallen waren und auch heute nicht schwerfallen würden. In Anbetracht der zahlenmäßigen Überlegenheit der Delphi-Truppen würden sie die Guerillataktik anwenden, um den Feind so lange hinzuhalten, bis von irgendwo Hilfe eintraf. Selbst wenn Delphi alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, wußte Blaine, daß sie höchstens auf eine Verzögerung von fünf Stunden hoffen konnten, und sein Plan fußte darauf, daß sie die Stadt zumindest so lange hielten.

McCracken erreichte die Mall über die 12 Street, wo er feststellte, daß bis zum Lincoln Memorial Chaos herrschte. Bewaffnete, die von Delphi-Lastern hergebracht worden waren, jagten die vielen tausend Passanten, die sich vom Lincoln Memorial und dem Washington Monument entfernten. Etliche landeten im veralgten Wasser des Spiegelteichs, nachdem ihnen der Fluchtweg in andere Richtungen abgeschnitten war. Blaine trug nur seine SIG-Sauer und mußte sich zusammenreißen, sie nicht zu benutzen. Wenn er sich bloßstellte, würde ihm das nur ins Zentrum des Gewehrfeuers bringen. Er hielt sich im Hintergrund und hob sein Funkgerät.

»McCracken an Turm. Bitte kommen!«

»Hier Turm«, antwortete einer der Midnight Riders, die er auf der Aussichtsplattform des alten Postamts zurückgelassen hatte.

»Sehe hier unten auf der Mall viele feindselige Truppen. Schafft sie mir vom Hals!«

Sekunden später fielen die angreifenden Truppen seinen Scharfschützen zum Opfer. Das gezielte Feuer war so behutsam, daß die Delphi-Leute vor Blaines Augen zusammenbrachen, während die übrigen Truppen verzweifelt nach dem Ursprung des unsichtbaren Widerstands suchten.

»Heh, Mac!« krächzte Arlo Cleeses Stimme über Blaines Funkgerät. Der Midnight Rider stand mit Kristen Kurcell hinter einem VW-Bus, der an der Pennsylvania Avenue geparkt war.

»Hier bin ich.«

»Die Brüder und Schwestern haben Stellung bezogen.«

»Dann schicken Sie sie ins Rennen!«