Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die Teilnehmer der an diesem Montagnachmittag im Weißen Haus stattfindenden Konferenz trafen in genau berechneten Abständen ein und benutzten verschiedene Eingänge, um kein Aufsehen zu erregen. Zwei weitere waren zu dem inneren Zirkel hinzugekommen, der bislang aus dem Präsidenten, Stabschef Charlie Byrne und FBI-Direktor Ben Samuelson bestanden hatte.

Steven Trevor Cantrell, der Vorsitzende der Stabschefs, war einer der wichtigsten Berater, die der Präsident nach einer langen und schwierigen Suche um sich geschart hatte. Der Präsident hatte ihn nicht persönlich gekannt, doch seine Reputation als Mann, der durchzugreifen verstand, gleichzeitig aber im Team arbeiten konnte, hatte ihn über andere Kandidaten hinausgehoben. Cantrell war von unterdurchschnittlicher Größe, aber gebaut wie eine Bulldogge. Er hatte praktisch keinen Hals, wenngleich die Tage, in denen seine Marine-Corps-Uniformen maßgeschneidert werden mußten, um seine Leibesfülle aufnehmen zu können, mittlerweile der Vergangenheit angehörten. Er hielt sich in Form, und nur die sanfte Überzeugungskraft des Präsidenten hatte bewirkt, daß er sein zuvor extrem kurz geschnittenes Haar nun etwas länger trug.

Die zweite neu hinzugekommene Teilnehmerin war Angela Taft, die Beraterin in Fragen der Nationalen Sicherheit. Die vielen Feinde des Präsidenten hatten ihre Ernennung als Konzessionsentscheidung abgetan. Schließlich war sie nicht nur eine Frau, sondern obendrein eine Farbige. In Wahrheit war sie für diesen Posten jedoch durchaus qualifiziert. Die Taft, eine ordentliche Professorin für Politologie der Universität Harvard, war während des Wahlkampfs zur Mannschaft des Präsidenten gestoßen und hatte in erster Linie für die Ausarbeitung seines außenpolitischen Programms verantwortlich gezeichnet. Sie war eine Pragmatikerin, die weder einer Partisanenpolitik noch den Medien verpflichtet war.

In der vergangenen Nacht hatte der Präsident auf ein paar Stunden Schlaf verzichtet und sich einige Videos über Samuel Jackson Dodd angesehen, die sein Stab für ihn zusammengetragen hatte. Er hatte dabei nicht versucht, Dodd mit den Augen eines Politikers, ja des amtierenden Präsidenten zu sehen, sondern so, wie ein ganz normaler, frustrierter Amerikaner ihn sehen würde. Zweifellos verfügte Dodd über eine gewisse primitive Logik, die die vielen Bürger ansprechen würde, die verarmt waren und sich keinen Illusionen mehr hingaben. Damit wurde er für jeden, der sich über die Folgen seiner Vorschläge im klaren war und begriff, was das Land aufgeben würde, wenn es seine schnellen Lösungen akzeptierte, zu einer noch erschreckenderen Gestalt. Hitler, Stalin und Mussolini hatten vor ihren jeweiligen Machtergreifungen ähnliche Argumente vorgebracht. Solange alles gut lief, würde niemand sich beschweren. Und wenn es nicht mehr gut lief und die Leute anfingen, sich zu beschweren, würde es keine Möglichkeit mehr geben, eine Kursänderung herbeizuführen.

»Na schön«, begann der Präsident. Charlie Byrne und den anderen kam er wie ein anderer Mensch vor. Plötzlich war er wieder voller Kraft und Entschlossenheit, nicht mehr am Boden zerstört. Als hätte er eine Wiedergeburt vollzogen. Vor vier Tagen hatte er noch aufgeben wollen. Jetzt lag ihm das fern. »Sie alle kennen den Inhalt des Tonbands, das in Direktor Samuelsons Besitz gelangte. Ben, warum fangen wir nicht mit Ihnen an? Das heißt, fangen wir mit dem Mann an, der anscheinend versucht, diese Regierung aus den Angeln zu heben.«

Samuelsons Gesichtsausdruck war ernst. »Sir, dreißig Agenten haben alle Daten gesammelt und untersucht, die es über Sam Jack Dodd gibt, und nichts, nicht der geringste Beweis, bringt ihn in einen Zusammenhang mit irgendeiner monströsen Gruppe von Verschwörern.«

»Sie sprechen natürlich von eindeutigen Beweisen«, vermutete Charlie Byrne.

»Eigentlich von allen Beweisen.«

»Wir haben das Tonband«, sagte Byrne. »Mir reicht das.«

»Wozu reicht dir das?« fragte der Präsident.

»Um das Arschloch zu verhaften!«

»Und wie soll die Anklage lauten?« fragte Ben Samuelson.

»Aufruhr oder Verrat. Suchen Sie sich etwas aus.«

»Ohne Beweise, Charlie, kommen wir damit nicht durch«, warf der Präsident ein. »Wir können ihm einfach nichts anhängen. Vergiß nicht, wir sprechen von einem der beliebtesten Männer unseres Landes. Was glaubst du, wie sich dein Vorwurf im Kongreß machen würde? Dort sind mir nicht mehr viele Freunde geblieben, und wenn wir Dodd verhaften würden, hätten meine Feinde endlich den Vorwand, den sie brauchen, um eine Amtsenthebung zu beantragen. Hinter vorgehaltener Hand sprechen schon zahlreiche Abgeordnete darüber. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß er nicht allein hinter dieser Sache steckt.« Der Präsident sah Samuelson an. »Ben, Ihr Bericht über den Mord an Cliff Jardine läßt darauf schließen, daß er niemals auf die Art und Weise hätte durchgeführt werden können, auf die er durchgeführt wurde, wenn es nicht …«

»… eine Lücke in unseren Sicherheitsvorkehrungen gäbe.«

»Und das bedeutet?«

»Mein Verdacht beschränkt sich auf eine Handvoll Agenten.«

»Aber wie viele andere in diesem Land sind, von der Company einmal ganz abgesehen, bereits zur anderen Seite übergelaufen? Im Militär, im Verteidigungs- und Innenministerium, im Kapitol. Wie viele Leute fressen Dodd schon aus der Hand?«

»Ich habe das Gefühl, Sir«, erwiderte Samuelson, »daß es genau andersherum sein könnte. Daniels' auf Tonband aufgenommene Aussagen lassen darauf schließen, daß Dodd nur das letzte Stück eines großen Puzzles ist, die ›fehlende Variable‹. Dieser Begriff fiel doch, wenn ich mich recht entsinne.«

»Und warum auch nicht?« warf der Präsident ein. »Das Volk liebt ihn. Mit seiner gottverdammten Bekanntheitsrate von neunzig Prozent hat er die Hand am Puls der Nation.«

»Warum müht er sich mit einem gewaltsamen Umsturz ab, wenn er die nächste Wahl gewinnen kann?« fragte Angela Taft.

»Weil eine Wahl ihm nicht die Machtbefugnisse geben wird, die er haben will, nach denen er sich geradezu sehnt. Es geht hier nicht darum, eine Wahl zu gewinnen oder zu verlieren; es geht darum, neu festzulegen, wie dieses Land geführt wird Dodd und diejenigen, die hinter ihm stehen, sind davon überzeugt, daß das, was wir zustande bringen wollen, einfach nicht mehr funktioniert. Er hat es auf eine Veränderung abgesehen die ihm die Verfassung niemals zugestehen würde.«

»Die Verfassung ist ein ziemlich großes Hindernis«, stellte Angela Taft fest.

»Genau deshalb hat sein Plan das Ziel, sie einfach aufzuheben und einen Grund dafür zu schaffen, daß Dodd auf dem weißen Pferd, das in seiner Scheune bereitsteht, herangeritten kommen kann, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.«

»Trotzdem, Mr. President«, hielt Angela Taft dagegen, »wir sind doch kein Land in der Dritten Welt, in dem ein Staatsstreich schon gelingt, wenn es vier Panzer bis zu den Palasttoren schaffen.«

»Herr General?«

Cantrell ergriff das Wort. »Wir mögen zwar nicht die Dritte Welt sein, Dr. Taft, doch bei einem zentralisierten Sitz der Macht sind wir zahlreichen ähnlichen Begrenzungen und Zwängen unterworfen. Das trifft besonders dann zu, wenn die Opposition zusätzlich über den Vorteil des Überraschungsmoments verfügt. Unter diesem Szenario wäre unsere Reaktionszeit das größte Problem. Wenn die Opposition über die richtigen Männer und Waffen verfügt, hat sie den Staatsstreich durchgeführt, bevor wir eine angemessene Abwehr gefunden haben.« Cantrell hielt inne. »Angesichts dieser Umstände möchte ich Ihnen einige Vorschläge machen.«

»Fahren Sie fort, Trev.«

»Spekulationen über unbekannte Variablen kommen mir unergiebig vor. Wir sollten uns auf die Aspekte konzentrieren, über die wir einigermaßen sichere Erkenntnisse vorliegen haben.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt welche davon haben.«

»Zumindest ist eins klar, Sir: Die Regierung kann nicht gestürzt werden, solange Präsident und Kongreß amtieren. Der Plan der Opposition wurde mit dieser Einsicht im Hinterkopf ausgearbeitet und nahm Gestalt an, als die Gegenseite Mittel und Wege fand, die Regierung auszuhebeln.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Herr General?«

»Der militärische Fachbegriff lautet Evac – also eine Evakuierung. Ich schlage vor, daß wir die Mitglieder der amtierenden Regierung an bestimmte sichere Orte schaffen.«

Cantrell beschrieb kurz die drei Einrichtungen, die für diesen Zweck entstanden, bislang aber kein einziges Mal benutzt worden waren. Mount Weather, achtzig Kilometer nordwestlich von Washington, sollte im Fall eines Atomkriegs dem Präsidenten, Mitgliedern des Höchsten Gerichtshofs, Kabinettsmitgliedern und anderen ausgewählten Beamten Schutz bieten. All diesen Personen waren bereits Treffpunkte zugeteilt worden, von denen aus sie im Ernstfall mit Hubschraubern zu der angeblich uneinnehmbaren und unsichtbaren Festung geflogen werden sollten.

Die genauso geheime Site R, nur zehn Kilometer vom Camp David entfernt und an der Grenze von Maryland und Pennsylvania gelegen, war die größte der drei Einrichtungen. Ihre neunzigtausend Quadratmeter waren in den Raven Rock Mountain eingelassen. Site R sollte das behelfsmäßige Kommunikationszentrum beherbergen. Sie sollte im Kriegsfall die Aufgaben des Pentagon übernehmen.

Die letzte Einrichtung hatte keine eingängige Kodebezeichnung und war schlicht und einfach als Greenbrier bekannt. Im Gegensatz zu den beiden anderen wurde sie nicht von gewaltigen Bergen oder Felsmassen geschützt. Greenbrier war einfach eine große Höhle in der Nähe des luxuriösen Greenbrier Hotels in White Sulpher Springs, West Virginia, eine Höhle, die man vergrößert und gegen eventuelle Angriffe verstärkt hatte. In ihren Betonmauern sollten der Senat und das Repräsentantenhaus Unterschlupf finden. Dazu waren nicht nur weitläufige Räumlichkeiten erforderlich, sondern auch Säle, in denen die beiden Körperschaften tagen konnten. Einer davon, die Exhibit Hall, war so groß, daß darin Vollversammlungen beider Häuser abgehalten werden konnten.

Nach der Auflösung der Sowjetunion glaubte in Washington natürlich niemand mehr daran, daß man jemals auf eine der drei Einrichtungen würde zurückgreifen müssen. General Cantrells Vorschlag, sie nun wegen einer Gefahr von innen ihrer vorbestimmten Nutzung zuzuführen, mutete wie die höchste Ironie an. Vielleicht würde sich nun eine der größten Verschwendungen von Steuergeldern in der Geschichte der Nation doch noch als sinnvoll erweisen.

»Das grundlegende Problem«, ergriff Angela Taft das Wort, nachdem Cantrell geendet hatte, »liegt im Timing, Herr General. Da wir im Augenblick nicht die geringste Ahnung haben, wie der Zeitplan des Feindes aussehen könnte, können wir auch nicht wissen, wann wir auf den Panikknopf drücken müssen.«

»Und selbst, wenn wir es wüßten«, warf Charlie Byrne ein, »käme ein Rückzug in diese Richtung einer Kapitulation gleich. Wir würden den Schwanz einziehen und davonrennen.«

»Sie glauben wirklich, daß es darauf hinauslaufen wird?« fragte der Präsident.

»Sir, ich bin der Ansicht, daß unsere Widersacher ein völliges Chaos schaffen müssen. Sie allein werden dann imstande sein, die Ordnung wiederherzustellen. Daraus folgt, daß sie versuchen müssen, die Kommando- und die Befehlskette zu unterbrechen.«

»Von diesem Unternehmen Evac einmal abgesehen, Herr General … können Sie noch weitere Abwehrmaßnahmen vorschlagen? Vielleicht militärische Präventivmaßnahmen?«

»Keine, die einigermaßen akzeptable Erfolgsaussichten haben, Sir. Darüber hinaus setzen solche Maßnahmen voraus, daß wir unsere Befürchtungen offen eingestehen.« Cantrell beugte sich über den Tisch vor. »Die Siebente Leichte Infanterie wurde für solch einen Fall ausgebildet. Wir könnten einige Einheiten nach Washington verlegen und sie mit einer oder zwei bewaffneten Divisionen verstärken.«

»Wenn wir Washington in ein bewaffnetes Feldlager verwandeln …«

»Ich würde den Ausdruck ›Verteidigungsring‹ vorziehen.«

»Ich bin nicht der Ansicht, daß die Öffentlichkeit die Errichtung eines Verteidigungsrings gegen eine Macht, deren Existenz wir nicht einmal beweisen können, einfach so hinnehmen wird. Außerdem … wie lange können wir das Militär aufmarschieren lassen, während die Öffentlichkeit uns Paranoia und Unfähigkeit vorwirft? Wenn die Entwicklung genug Schwung bekommt, könnte sie uns genauso zu Fall bringen wie eine Kugel.«

»Na schön«, schlug Charlie Byrne vor, »dann habe ich eine andere Idee: Wir wenden uns an die Öffentlichkeit, ohne Namen zu nennen und die Kavallerie zu rufen.«

General Cantrell schüttelte demonstrativ den Kopf. »Mr. Byrne …«

»Einen Augenblick, lassen Sie mich ausreden. Dodd und seine Hintermänner müssen unter allen Umständen vermeiden, bloßgestellt zu werden. Deshalb mußten sowohl Jardine als auch Daniels sterben. Deshalb haben wir die einzige Kopie von seinem Bericht nicht gefunden, und deshalb wurde sogar das Farbband seiner alten Olivetti ausgewechselt. Danach mußte die Opposition davon ausgehen, alle Spuren verwischt zu haben, und ohne unsere Freunde in der russischen Botschaft wäre dies auch der Fall gewesen.«

»Worauf willst du hinaus, Charlie?« fragte der Präsident.

»Darauf, daß die Furcht vor einer Bloßstellung diese Bastarde dazu bewegen könnte, ihren Plan aufzugeben. Sie haben niemals damit gerechnet, vorzeitig aufzufliegen.«

»Du schlägst also vor, das Tonband freizugeben.«

»Es ist alles, was wir haben«, gestand Byrne ein.

»Aber es ist nicht genug«, sagte der Präsident mit grimmiger Überzeugung. »Jedenfalls nicht, um Schaden und Spott von uns zu wenden. Sicher, wir könnten ihren Plan damit für eine Weile verzögern, aber wir würden dann so lachhaft schwach dastehen, daß sie nicht einmal die Hauptstadt erstürmen müssen, um über kurz oder lang die Macht zu übernehmen.«

»Diese Möglichkeit erscheint mir immerhin besser als die, uns irgendwo zu verkriechen oder Panzer durch die Hauptstadt fahren zu lassen.«

»Versteh mich nicht falsch, Charlie«, schlichtete der Präsident, »ich glaube, du bist auf dem richtigen Weg. Aber um diesen Weg einzuschlagen, brauchen wir mehr Informationen, mehr Beweise. Und deshalb brauchen wir McCracken.« Er sah Samuelson an. »Aber Sie haben ihn wahrscheinlich noch nicht gefunden, Ben?«

»Wir konnten lediglich bestätigen, daß es McCracken war, der am Samstag abend die Bombe von diesem Airbus der American Airlines mit Zielflughafen Miami abgeworfen hat.«

»Die unsere Feinde natürlich dort versteckt hatten, um ihn zu beseitigen.«

»Sie sind auch seine Feinde, Sir. Aber nachdem er Miami erreicht hatte, hat er keine Spur hinterlassen, der wir folgen konnten. Wir haben in all seinen toten Briefkästen Nachrichten deponiert und erfolglos versucht, mit einem ehemaligen Geheimdienstagenten Kontakt aufzunehmen, der gelegentlich als sein Verbindungsmann fungiert. Wir haben sogar ein Team in die Wälder Maines geschickt, das nach einem Indianer suchen sollte, mit dem er in Vietnam gedient und anscheinend auch später zusammengearbeitet hat … ebenfalls ohne den geringsten Erfolg.«

»Er ist ihnen auf der Spur«, sagte der Präsident, und in seiner Stimme lag plötzlich ein Fünkchen Hoffnung.

»Das wissen wir nicht genau.«

»Ich bin mir dessen sicher. Und jeder, der so viel über McCracken nachgelesen hat, wie ich es in den letzten paar Tagen getan habe, wäre sich genauso sicher. Wir werden ihn finden, und wir werden auch etwas finden, das uns hilft, diese Nation vor Dodd und seinen Hintermännern zu retten.«

Charlie Byrne verlagerte unbehaglich sein Gewicht.

»Außer, sie finden ihn zuerst, Sir.«