Sechsundzwanzigstes Kapitel

»Na, wen haben wir denn da«, begrüßte Sal Belamo sie, als sie die Sandburg Eins verließen. Dann sah er wieder zu den Helikoptern hinüber, die sich über die Wüste näherten. »Willkommen auf der Party, Großer. Kein Wunder, daß ich dich nicht aufspüren konnte.«

Er wartete mit zwei Maschinenpistolen in den Händen neben einem Humvee, den er in der unterirdischen Garage erbeutet hatte, die von der westlichen Seite des Komplexes zugänglich war. Derselben Garage, aus der der noch immer brennende Konvoi gekommen war.

»Sieht so aus, als hättet ihr eine Gefangene befreit«, fügte Sal mit einem Blick auf Kristen hinzu, während er hinter das Steuer des geländegängigen Fahrzeugs rutschte. »Wenn ihr mich fragt, es geht nichts über einen altmodischen Gefängnisausbruch.«

McCracken gesellte sich zu Belamo auf den Vordersitz, Wareagle und Kristen Kurcell sprangen in den Fond. Mit jeder Sekunde rissen die Scheinwerfer der sich nähernden Hubschrauber der Dunkelheit immer größere Stücke weg.

»Wie viele, Johnny?« fragte McCracken.

»Drei, Blainey. Bell Jet Rangers.«

Sal gab Gas. »Keine Angst, Boß. Diese Dinger wurden eigens für so einen Mist konstruiert. Wir werden verschwunden sein, bevor die Idioten auch nur nach uns suchen können.«

Bevor McCracken Belamo fragen konnte, wie er fahren wollte, ohne die Scheinwerfer einzuschalten, was die Hubschrauber ja sofort auf sie aufmerksam gemacht hätte, zog Sal eine Nachtsichtbrille aus der Jacke und befestigte sie vor den Augen.

Sal hielt die Geschwindigkeit anfangs niedrig, um leichter durch das Feld der noch immer qualmenden Trümmer der Jeeps und des Lastwagens zu kommen, die sie in die Luft gesprengt hatten. Vor dem Tor im Zaun lagen sie so dicht, daß Sal keine andere Wahl hatte, als über sie hin wegzufahren. Der Humvee bockte etwas und schüttelte seine Passagiere kräftig durch, bewältigte die Hindernisse aber problemlos und zwängte sich schließlich behend an den Trümmern des Lastwagens vorbei.

Belamos Lob war nicht übertrieben gewesen. Der Humvee mochte zwar eckig und seltsam aussehen, doch das Nachfolgemodell des vertrauenswürdigen Jeeps war stark und flink und konnte sich auch im unwirtlichsten Gelände bewegen. Nachdem es im Golfkrieg seine Feuerprobe überstanden hatte, würde es sie nun aus den White Sands bringen. Da keine Trümmer mehr vor ihnen standen, gab Sal etwas mehr Gas und preschte in die Wüste.

»Wer sind Sie?« fragte die Frau plötzlich, als der Humvee über eine Unebenheit im Gelände polterte.

»Die drei Musketiere«, erwiderte Sal Belamo grinsend, den Blick auf den Rückspiegel gerichtet.

»Die bessere Frage wäre, Miss«, sagte Blaine und sprach für sie alle, »wer sind Sie?«

»Ich habe zuerst gefragt.«

»Es tut mir leid, aber die Regeln des Anstandes gelten hier nicht.«

Kristen zuckte mit den Achseln. »Das habe ich gesehen.«

»Wir haben Ihnen das Leben gerettet«, erinnerte McCracken sie. »Das sollte Ihnen doch etwas wert sein.«

»Nicht so viel, wie es mir wert wäre, die Mörder meines Bruders zu finden.«

»Die was?«

Kristen seufzte. »Ich will es einmal anders ausdrücken: Haben Sie schon mal von der Air-Force-Basis Miravo gehört?«

»Sal?«

»SAC. Ist eingemottet worden. Seit ein paar Jahren ist dort in keine Toilettenschüssel mehr gepinkelt worden.«

»Tja«, erwiderte Kristen, »jemand hat dort stinksauer reagiert, als mein Bruder auftauchte und ihm die Überraschung verdarb.«

»Die Überraschung?« fragte McCracken.

»Das könnte eine Weile dauern. Zum Glück haben wir ja die ganze Nacht.«

Obwohl Kristen nichts ausließ, benötigte sie nicht die ganze Nacht, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie fing mit der Tonbandaufzeichnung ihres Bruders und der Kontaktaufnahme mit Paul Gathers an und fuhr dann damit fort, wie sie selbst nach Colorado geflogen war, nachdem der FBI-Mann verschwunden war. Mit einem Kloß im Hals berichtete sie von Duncan Farlowe und ihrer Suche in den Hügeln vor Miravo. Der Kloß wurde noch größer, als sie schilderte, wie sie die Leiche ihres Bruders gefunden hatten und in welchem Zustand sie gewesen war.

»Das hat dieser Mann getan, dieses Ungeheuer in dem Gebäude.«

»Traggeo«, sagte Wareagle zu McCracken. »Er behauptet noch immer, zu meinem Volk zu gehören, und beschmutzt damit unseren kollektiven Geist.«

»Und du hast ihn bis hierher verfolgt.«

»Ein Köder, der uns zusammenführen sollte, damit wir einer viel schlimmeren Angelegenheit nachgehen können.«

»Das können Sie laut sagen«, warf Kristen ein und setzte ihre Geschichte mit ihrer Rückkehr nach Washington und dem Besuch im Pentagon in Begleitung von Senatorin Jordan fort. Dann erzählte sie, wie sie mit der Senatorin zum zweitenmal nach Miravo gefahren war und die Basis voll funktionsfähig aufgefunden hatte.

»Aber nicht für das SAC«, erklärte sie. »Sie haben sie umgebaut und zerlegen dort jetzt angeblich Atomsprengköpfe.«

»Angeblich?«

Kristen schluckte schwer. Der Kloß wollte sich nicht auflösen. »Ich bin davon überzeugt, daß mein Bruder sterben mußte, weil er herausgefunden hat, daß die Sprengköpfe gar nicht auseinandergenommen werden. Ich glaube, er hat gesehen, wie sie mit dem Lastwagen oder Flugzeug von der Basis weggeschafft wurden.«

McCracken wechselte einen Blick mit Sal Belamo. »Aber als Sie mit Senatorin Jordan nach Colorado zurückgekehrt sind, herrschte auf der Basis ganz normaler Betrieb. Alles entsprach dem Status quo.«

»Natürlich«, gestand Kristen verbittert ein. »Sie haben genug Zeit gehabt, um ihre Spuren zu verwischen. Die Senatorin hat sie rechtzeitig gewarnt.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, die Senatorin …«

»Ich habe sie getötet, nachdem wir Miravo verlassen hatten. Nicht weit von der Stelle entfernt, an der man meinen Bruder umgebracht hat. Ich mußte sie töten, sonst hätte sie mich umgebracht.«

»Also hat sie zur anderen Seite gehört.«

»Nach allem, was ich weiß, trifft das auch auf Sie zu.«

»Nein, das müßten Sie eigentlich besser wissen.«

»Ach ja?«

»Gehörten wir zur anderen Seite, wären Sie jetzt tot«, sagte Blaine und musterte sie genauer.

Die Hoffnungslosigkeit, die ihren Tonfall so unerklärlich gleichmäßig hielt, konnte ihrer Schönheit allerdings kaum etwas anhaben. Obwohl ihr langes, welliges Haar zerzaust und verfilzt war, blieb das Gesicht, das es umgab, strahlend und lebendig. Ihre braunen Augen weigerten sich, ihre Furcht zum Ausdruck zu bringen, und kündeten statt dessen von Entschlossenheit. Ihre Wangen waren gerötet und strahlten vielleicht den Glanz innerer Stärke und Beharrlichkeit aus. Blaine schätzte sie als eine jener Personen ein, die bis zum Ende kämpfen und niemals aufgeben würden; davon zeugte auch alles, was sie bereits durchgemacht und verkraftet hatte.

»Hat die Senatorin Ihnen sonst noch etwas gesagt? Etwas über die Verschwörung, der sie angehört hat?«

»Warum sagen Sie mir nicht, worum es sich dabei handelt? Ich meine, diese Verschwörung hat Sie doch nach … wie haben sie es genannt? … Sandburg Eins geführt.«

»Ich habe herausbekommen, daß Sandburg Eins ein Gefängnis ist.«

»Aber ich war die einzige Gefangene.«

»Zur Zeit, ja.«

»Wessen Gefängnis, Mr. McCracken? Ich glaube, ich habe Ihnen genug erzählt. Jetzt möchte ich etwas von Ihnen erfahren. Ich bin in Washington ein paarmal Leuten wie Ihnen begegnet. Zweifelhafte Gestalten, die nach dem Ende des Kalten Krieges nichts mehr zu tun haben.«

»Ich bin schon lange vor dem Ende des Kalten Krieges ausgestiegen, Kris.«

Sal Belamo fuhr zu schnell über eine holprige Stelle, und der Humvee machte einen Satz und prallte unsanft wieder auf den Boden.

»CIA?« fragte sie.

»Früher mal.«

»Und jetzt?«

»Selbständig. Ich habe aber genug zu tun.«

»Und einer dieser Aufträge hat Sie zu diesem Gefängnis geführt.«

Blaine mußte den Kopf verrenken, um ihr in die Augen sehen zu können. »Diesmal hat es jemand auf die Regierung abgesehen. Man will sie stürzen.«

»Ein Putsch?«

»Alles deutet darauf hin. Und uns bleibt bis zu dem Umsturzversuch nur noch eine Woche.«

Kristens Gesichtsausdruck wurde etwas weicher. »Gerade habe ich zum erstenmal gehört, daß Ihre Stimme zittert.«

»Weil die Aussichten mir angst machen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie vor irgend etwas Angst haben.«

»Der Anschein kann trügen. Nur die Angst treibt mich an.«

»Und jetzt haben Sie Angst?«

»Vielleicht mehr denn je.«

»Und würden Sie mir vielleicht auch sagen, wieso?«

»Weil ich diesmal nicht sicher bin, daß ich es verhindern kann.«

»Diesmal? Es hat andere solcher Zwischenfälle gegeben?«

»Mehr, als ich zählen kann. Alle haben mit Macht und Kontrolle zu tun. Jeder hat eine Vision, und manchmal kommen die Leute, die über die Mittel verfügen, die ihre zu verwirklichen, zum Schluß, daß sie am besten wissen, was für alle anderen Menschen gut ist. Das Unheimliche daran ist, daß sie von dem was sie tun, überzeugt sind. Deshalb kann man sie nur schwer aufhalten.«

»Und doch versuchen Sie es immer wieder?«

»Ich bin noch mehr von dem überzeugt, was ich tue.«

»Aber diesmal ist es anders«, schloß Kristen Kurcell.

»Allerdings. Und wegen Ihnen verstehe ich allmählich wieso.«

»Wegen mir?«

»Die Atomwaffen, deren Abtransport auf Miravo Ihr Bruder ihres Erachtens beobachtet hat. Wenn ich recht habe, sollen sie eingesetzt werden, und zwar bald.«

»Und wie finden wir heraus, wann?«

McCracken zögerte nicht. »Wir kehren nach Washington zurück und suchen denjenigen, der es vielleicht weiß.«