Viertes Kapitel

»Danke, daß du dir Zeit für mich nimmst«, lautete Kristen Kurcells Begrüßung, als Paul Gathers aus seinem Büro im J.-Edgar-Hoover-Gebäude kam.

»Kein Problem. Du wirst mir dafür bestimmt einen Gefallen tun, wenn meine Abteilung das nächstemal wegen der Geldmittel beim Bewilligungskomitee deiner Senatorin vorstellig wird.«

Er umfaßte mit beiden Händen ihre ausgestreckte Hand, und sie reagierte nervös auf den Händedruck.

»Du zitterst ja«, sagte er und berührte ihre Schulter.

Sie zuckte mit den Schultern. Mit einem Meter siebzig war Gathers nur ein paar Zentimeter größer als sie. Sie hatten sich zum ersten Mal getroffen, nachdem ein Bildbericht über ›Frauen auf dem Hügel‹ im Washington Magazine erschienen war und er sie daraufhin angerufen hatte. Kristen war eine der Frauen gewesen, die darin herausgestellt wurden, und viele, die die Unterschriften nicht lasen, hatten sie für ein professionelles Modell gehalten. Das war kein Wunder. Sie war groß und schlank und hatte sich sowohl ihre jugendliche Vitalität als auch ihre athletische Figur erhalten. Ein gewinnendes Lächeln ergänzte ihre blühende Wangenfarbe, die sie ständig aussehen ließ, als wäre sie gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt. Ihre Haare waren eine kastanienfarbige Komposition von Locken und Wellen, die adrett auf ihre Schultern herabfielen und die sie sich manchmal anmutig aus dem Gesicht wischte. Eine der Aufnahmen in dem Bildbericht zeigte diese Geste. Sie benötigte wenig Make-up. Sie trug gerade genug Lidschatten auf, damit ihre großen braunen Augen nicht zu sehr auffielen.

Gathers hatte sie vor sechs Monaten im Büro von Senatorin Jordan unter dem Vorwand angerufen, er brauche Informationen über die Bewilligung von Mitteln. Er eröffnete sich ihr unbeholfen, noch während sie sich in dem Restaurant die Hände schüttelten. Obwohl diese erste Begegnung fast als Katastrophe geendet hätte und sie seine ständigen Annäherungsversuche unentwegt zurückwies, waren Kristen und Paul Freunde geworden, die ab und an zusammen essen gingen oder einen Drink nahmen. In jedem Fall war er der einzige FBI-Agent, den sie gut genug kannte, um direkt mit ihm Kontakt aufnehmen zu können. Gathers war als Spezialagent in der Terrorismusabwehr tätig. Er war oft auf Reisen, doch zum Glück hatte er sich an diesem Freitag morgen in seinem Büro befunden. Gathers wirkte stämmiger als bei ihrem letzten Treffen. Er war ein Mann, der dazu verdammt war, ständig auf sein Gewicht zu achten. Er trug sein krauses, schwarzes Haar kurz geschnitten.

»Du hast das Band dabei?« fragte Gathers und löste seine Hand von ihrer Schulter.

Kristen tippte gegen ihre abgenutzte Aktentasche aus weichem Leder.

Paul Gathers führte sie in sein Büro. »Keine Anrufe«, wies er seine Sekretärin an, bevor sie die Tür hinter ihm schloß.

»Mein Bruder ist der einzige, der von meiner Familie übrig ist, Paul. Es gibt niemanden außer ihm. Wenn ihm etwas passiert ist …«

»Ein Schritt nach dem anderen, Kris. Setz dich.«

Kristen legte ihre Aktentasche auf einen Stuhl vor Pauls Schreibtisch. Sie zog das Band heraus und hielt es kurz in der Hand, bevor sie es dem Agenten überreichte.

Kristen hatte die Nachricht vor neunzig Minuten zum erstenmal abgehört, nachdem sie vom Büro aus gegen zehn Uhr vormittags zu Hause angerufen hatte, um sich die auf Band gesprochenen Nachrichten anzuhören. Zuvor hatte sie schon drei hektische Stunden damit verbracht, Notizen zu überprüfen und Anrufe zu erwidern. Dieser Freitag hatte als ein besonders geschäftiger Tag begonnen. Die einzigen wirklich dringenden Anrufe hätten von der Senatorin sein können, und da sie über Nacht bei ihr geblieben war, hätte sie den Anrufbeantworter eigentlich den ganzen Tag nicht abhören müssen.

Die einzige Nachricht auf der Maschine war von ihrem Bruder gewesen.

Der Telefonhörer fiel ihr fast aus der Hand, als sie von ihrem Büro aus die Nachricht abhörte. Sie fühlte sich schwach, einen kurzen Augenblick war ihr kalt, dann ganz heiß. Sie stand zitternd auf, hielt sich am Rand ihres Schreibtisches fest. Benommen ging sie in den Vorraum und hielt am Tisch der Empfangsdame an. Die Senatorin war in einer wichtigen Besprechung und durfte nicht gestört werden. Sie hatten vereinbart, sich unmittelbar danach zu treffen. Das mußte jetzt warten.

»Sally.« Die Empfangsdame drehte sich überrascht zu ihr um. Kristen hatte gar nicht bemerkt, wie laut sie gesprochen hatte.

»Könnten Sie der Senatorin bitte sagen, daß ich kurz weg muß. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Eine Art Notfall.«

»Natürlich«, sagte Sally mit ehrlicher Anteilnahme. »Es ist doch hoffentlich niemandem etwas passiert?«

»Nein. Ich hoffe jedenfalls nicht. Es ist nur, daß …«

Der letzte Satz blieb unvollendet, da Kristen bereits die Tür erreicht hatte.

In ihrer Wohnung, die nur zwei Blocks vom Senatsgebäude entfernt lag, hörte sie die Nachricht ihres Bruders drei weitere Male ab, bevor sie Paul Gathers anrief. Paul würde ihr helfen. Paul war ein Freund. Wie sie ihn jetzt vor sich sah, während er sich anschickte, die Kassette in das Abspielgerät auf seinem Tisch zu stecken, kehrte etwas von ihrer inneren Ruhe zurück. Vielleicht war wirklich alles in Ordnung. Vielleicht reagierte sie nur zu nervös.

Gathers ließ die Abdeckung des Kassettengeräts aufspringen und steckte das Band hinein. Dann drückte er WIEDERGABE. Kristen setzte sich nicht, ebensowenig wie Gathers. Einen Augenblick später erfüllte die Stimme ihres Bruders den Raum.

»Kristen, bist du da? Kristen, hier ist David. Wenn du da bist, nimm bitte ab. Nimm ab!«

Seine Stimme war fast schon in ein Schreien übergegangen. Es folgte ein Geräusch, das ihr wie ein tiefes Atemholen vorkam, während er seine Fassung wiedergewann.

»Na schön, ich habe Probleme, Kris, große Probleme. Du wirst es nicht glauben, aber vor einer Stunde habe ich gesehen …«

Geräusche, als würde etwas zerbrochen oder eingeschlagen, schnitten seine Stimme ab.

»Nein!«

Ein Murmeln.

»Nein!« Ein Schrei.

Dann nichts mehr, nur noch ein wiederholtes leises Pochen, als klopfe jemand gegen ein Fenster. Ein paar Sekunden vergingen, bevor der Hörer am anderen Ende aufgelegt wurde. Es klickte, und die Aufnahme war zu Ende.

»Fünf Uhr dreizehn morgens«, leierte die synthetische Stimme herunter, die sich am Ende einer jeden Nachricht meldete.

Kristen sah von dem Kassettenspieler zu Paul hoch. »Ich glaube, diese Geräusche am Schluß waren Schüsse«, sagte sie, nachdem er auf die Stopptaste gedrückt hatte. »Das waren doch Schüsse, oder nicht?«

»Kris, setz dich bitte.«

»Sag mir, daß ich mich täusche, Paul. Bitte, sag mir, daß es nicht stimmt.«

Er ließ sich in seinem Sessel nieder, und sie hockte sich steif auf den vorderen Rand des Besucherstuhls vor seinem Schreibtisch. Ihr Körper berührte den Stuhl kaum.

Gathers beugte sich vor. »Wir haben die nötige Ausrüstung, um alle Geräusche zu verstärken, und Computer, die sie identifizieren können. Ich bringe es den Jungs im Labor. Sollen sie es versuchen.«

»Du brauchst sie nicht, um herauszufinden, von wo der Anruf gekommen ist. Du hast die genaue Zeit und die Vermittlungsstelle, über die der Anruf kam.«

»Ein Schritt nach dem anderen.«

Kristen sprang auf und strich sich mit einer Hand über das Kinn. »Tu mir das nicht an, Paul, nicht du.«

Gathers stand auf und ging um den Tisch zu ihr. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und spürte, daß sie erneut zitterte.

»Du warst nicht zu Hause, als der Anruf kam.«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Glaubst du, daß es eine Rolle gespielt hätte, wenn du zu Hause gewesen wärst?«

Sie wich seinem Blick aus. »Zumindest hätte ich gewußt, wo er war. Vielleicht hätte er genug Zeit gehabt, um mir zu sagen, was er gesehen hat. Ich hätte etwas tun können.«

»Du tust etwas. Du bist zu mir gekommen, oder nicht?« Als Kristen keine Antwort gab, drückte er ihren Arm etwas fester. »Oder nicht?«

Sie nickte willenlos. Dann wanderten ihre Blicke wieder zu dem Kassettenrecorder. »Du hast seine Stimme gehört, Paul. Er klang so verängstigt. Ich habe David noch nie so gehört.«

»Wir reden über deinen Bruder, nicht wahr?«

»Was zum …«

»Antworte mir.«

»Ja.«

»Der vorzeitig vom College abgegangen ist, der seine Unabhängigkeit viel höher schätzt als seine Schwester, die ihre Karriere sicher im Griff hat. Vor zwei Monaten hast du mir erzählt, daß er mit einem Jeep quer durch das Land fährt. Es hat dich unheimlich genervt.«

»So?«

»Vielleicht nervt es dich noch immer. Oder vielleicht vergißt du auch all die Scherze, die er sich von Kindesbeinen an mit dir erlaubt hat.«

»Du glaubst, daß das ein Witz ist? Mein Gott, Paul, seine Stimme.« Sie deutete mit einem Finger auf den Kassettenrecorder. »Hör dir seine Stimme an!«

»Das werde ich, Kris, und das werden auch die Experten. Aber beantworte mir eine Frage: Hält dein Anrufbeantworter die Anzahl der Anrufer fest, die aufhängen, bevor der Pfeifton kommt?«

»Nein, er speichert nur diejenigen, die eine Nachricht hinterlassen.«

»Dann ist es möglich, daß David wiederholt angerufen hat, vielleicht sogar ein paarmal, und dir nur keine weiteren Nachrichten hinterlassen wollte.«

»Nein, das würde er mir nicht antun.«

Er zog eine Grimasse. »Wir reden doch von David, nicht wahr?«

»Ja, zugegeben.«

»Ich erinnere mich daran, wie du mir erzählt hast, daß er sich einbildet, ein Journalist zu sein.«

»Ich hatte ihm angeboten, ihm hier oben eine Praktikantenstelle zu besorgen, als er mir sagte, daß er die Schule wieder verlassen will.«

»Aber er war natürlich zu sehr der einsame Kämpfer, um es anzunehmen.«

»So hat er sich selbst gesehen.«

»Vielleicht hat er dann die falschen Leute geärgert. Das passiert. Er wird sich wieder melden, wenn er es nicht bereits getan hat.« Gathers zögerte, bevor er fortfuhr, als wolle er seine Worte besonders sorgfältig wählen. »Hätte er wissen können, wo er dich letzte Nacht erreichen konnte?«

»Nein«, sagte Kristen leise.

»Na also.«

»Deshalb ist es um so wichtiger, daß du mir sagst, von wo aus er angerufen hat. Ich muß herausfinden, wo er ist.«

Gathers nickte. Er hielt ihren Arm, als wolle er ihr zeigen, daß sie sich auf ihn verlassen konnte. »Bist du heute nachmittag in deinem Büro zu erreichen?«

»Ja.«

Gathers wirkte ein wenig verlegen. »Ich brauche eine Nummer, unter der ich dich nach der Arbeit erreichen kann.«

»Ich werde zu Hause sein.«

»Vielleicht kannst du mir für alle Fälle eine andere Nummer geben? Ich habe gehört … nun, was über dich und die Senatorin so erzählt wird.«

»Glaubst du alles, was du hörst, Paul?«

»Sollte ich, Kris?«

»Ich werde zu Hause sein. Belassen wir es dabei.«

»Ich werde dich anrufen, sobald ich mehr weiß.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Komm schon. Ich bringe dich nach unten.«

»Sobald du irgend etwas weißt.«

»Wir werden David finden, Kris. Ich verspreche es dir.«

Das Taxi, mit dem sie zum Senatsgebäude zurückfuhr, blieb in einer dieser Protestdemonstrationen stecken. Kristen hatte es schon vor Monaten aufgegeben, sie zu zählen, aber in letzter Zeit liefen sie mehr und mehr auf ein einziges Thema hinaus. Sie kurbelte ihr Fenster herab, um den rhythmischen Sprechchor der Teilnehmer besser verstehen zu können:

»Wen brauchen wir?«

»Sam Jack Dodd!«

»Wann brauchen wir ihn?«

»Jetzt!«

Bis auf den letzten Marschierer trugen sie alle Plakate von Samuel Jackson Dodd, dem charismatischen Milliardär, auf den sich die Hoffnungen der Nation nach den katastrophalen ersten achtzehn Monaten des neuen Präsidenten konzentrierten. Kongreß und Senat hatten ihm immer weniger Spielraum gelassen, und eine Menge gebrochener Versprechen hatten die Zustimmung in der Bevölkerung auf einen Prozentsatz von unter dreißig Punkten abstürzen lassen. Nach einer kurzen Erholung kam die wirtschaftliche Entwicklung wieder ins Trudeln, und alle Maßnahmen der Regierung konnten den Abschwung nicht aufhalten. In der internationalen Politik stolperte und stotterte der Präsident sich durch die Lage, die sich nach verläßlichen Geheimdienstberichten ergeben hatte, denen zufolge der Iran jetzt im Besitz strategischer Nuklearwaffen war. Die Waffen waren offenbar von früheren Sowjetrepubliken geliefert worden, die sich gemeinsam geweigert hatten, die START-II-Vereinbarungen zu unterzeichnen.

Diesen Stürmen hätte die Regierung trotzen und sie überleben können. Nicht jedoch den beiden Ereignissen, die in einer einzigen Woche vor drei Monaten passiert waren und die praktisch zur Auflösung der Regierung geführt hatten. Der Präsident hatte ein großes Kontingent amerikanischer Bodentruppen zur Friedensmission nach Bosnien befohlen, gegen eine öffentliche Protestwelle, die zur Flut anschwoll, als eine Kompanie von dreihundert US-Soldaten in ein Blutbad außerhalb der Stadt Vitez geriet. Nur Tage später gerieten die Männer der Nationalgarde, die bei einer riesigen Kundgebung in Houston zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt wurden, in Panik und schossen in eine Menschenmenge, die sich plötzlich in ihre Richtung geschoben hatte. Elf Menschen wurden getötet, darunter drei College-Studenten und zwei Schüler.

Ein zweites Blutbad, diesmal zu Hause.

Es spielte keine Rolle, daß sich Vitez nur ereignet hatte, weil der amerikanische Truppentransport die falsche Abzweigung genommen hatte. Es interessierte auch nicht, daß zwei der Toten in Houston Pistolen bei sich getragen hatten. Das Land brauchte jemanden, auf den es die Schuld schieben konnte. Der Präsident nahm die Verantwortung auf sich, und seine ungeschickte Entschuldigung ließ ihn zur Zielscheibe von nie dagewesenem Ärger und Zorn werden. Eine politische Karikatur nannte ihn ›Halbzeit-Harry‹ und zeigte ihn, wie er sich mit gepackten Koffern durch die Hintertür aus dem Weißen Haus (oder dem ›Roten‹ Haus, wie es inzwischen oft genannt wurde) verdrückte. Eine andere, vielleicht prophetischere Karikatur zeigte eine Gestalt in einem Superman-Kostüm, die die Treppe des Weißen Hauses nach oben eilte, eine jubelnde Menge hinter sich.

Diese Gestalt war Samuel Jackson Dodd.

Die lächelnde Menge auf den Plakaten strahlte Vertrauen aus. Das Gesicht war gleichmäßig und angenehm wie das eines Filmstars. Die adrett frisierten braunen Haare wirkten zu füllig für einen Mann in seinen Mittvierzigern, und sie waren gesprenkelt mit aristokratischem Grau. Es war ein Bild der Stärke, der Hoffnung.

»Wen brauchen wir?«

»Sam Jack Dodd!«

»Wann brauchen wir ihn?«

»Jetzt!«

Die Sprechchöre waren weiterhin zu hören, während die Demonstranten in die Constitution Avenue drängten. Kristen bemerkte, daß ein paar Plakate unterhalb des Bildes mit dem Wahljahr versehen waren. Nur war es diesmal nicht 1996; da stand 1994.

Die aufbrodelnde Unzufriedenheit hatte sich zu einem kochenden Kessel des militanten Protestes gesteigert. Jeder, der sein eigenes Süppchen kochen wollte, meldete sich lautstark zu Wort. Und es sah so aus, als wollte jeder sein eigenes Süppchen kochen. Da sie jemanden brauchten, um den sie sich scharen konnten, wandten sie sich Sam Jack Dodd zu, der nichts tat, um ihre Anstrengungen abzuleiten oder zu entmutigen. Er verhöhnte öffentlich jene Politiker, die es zugelassen hatten, daß die Nation in die gegenwärtigen Tiefen abgesunken war. Er sprach von einer Maschine, die einfach nicht mehr gut genug arbeitete und gründlich überholt werden mußte, bevor sie völlig zusammenbrach. Das Land nahm diese Botschaft bereitwillig auf, war bereit, die drastischen Veränderungen zu akzeptieren, die er in groben Umrissen skizzierte, alle Veränderungen.

»Wen brauchen wir?«

»Sam Jack Dodd!«

»Wann brauchen wir ihn?«

Kristen kurbelte das Fenster hoch, schnitt damit den Sprechchor ab und sah nachdenklich auf die Gesichter derjenigen, die Dodd-Plakate hochhielten, während sie langsam an dem Taxi vorbeizogen. Durch mehr als ein Jahrzehnt in Washington, ihre Jahre in Georgetown eingeschlossen, hatte Kristen die Fähigkeit erworben, das Anliegen einer Gruppe schon an ihrer Zusammensetzung zu erkennen. Das klappte nicht mehr. Diese Gruppe war überhaupt nicht homogen, ließ sich nicht bestimmen. Alles war vertreten, als wäre es der zufällige Durchschnitt aus dem ganzen Land, wie er von Meinungsforschern benötigt wird. Das war einfach nicht fair – oder vielleicht doch. Seit Generationen hatte Washington die Gesetze für die Leute geändert. Jetzt wollten die Leute die Gesetze für Washington ändern.

Der Verkehr kam wieder in Bewegung, doch die ständigen Stopps waren zum Verrücktwerden. Der Anruf ihres Bruders hatte all die Befürchtungen, die sie in der letzten Zeit belastet hatten, weiter gesteigert. Es galt jetzt mehr denn je, daß nichts mehr einen Sinn ergab. Und es würde nicht wieder besser werden, das wußte sie, bevor sie ihren Bruder gefunden hatte.

Ihre Eltern waren vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, kurz vor Davids erstem Jahr im College. Kristen sah in dieser Tragödie die Ursache für den ziellosen Verlauf, den Davids Leben seither genommen hatte. Er verließ die Schule für ein Semester, war dann auf eine andere gegangen und nahm jetzt wieder ein Semester frei. Um seinen Kopf frei zu bekommen, hatte er ihr gesagt. Es hatte sie rasend gemacht, daß er keine vernünftigen Ratschläge annehmen wollte. David war schlau, sogar wirklich gut. Senatorin Jordan hatte angeboten, ihm den Weg nach Georgetown zu ebnen; dann wäre er wenigstens in ihrer Nähe gewesen. Doch David hatte das nicht gewollt. Sie waren immer völlig entgegengesetzte Persönlichkeiten gewesen, und der Tod ihrer Eltern hatte das noch verstärkt. David, immer der unabhängige Geist, suchte seine Freiheit. Kristen, immer diszipliniert, suchte Sicherheit in einem reglementierten Leben.

Für Senatorin Jordan zu arbeiten war ihre einzige Bestimmung geworden. Sie hatte eine Aushilfstätigkeit mit soviel Schwung und Ausdauer hinter sich gebracht, daß sie in nur drei Jahren zur Bürochefin des Senators aufgestiegen war, eine Position, die sie seit der Wahl von 1992 einnahm. Der Sechzehn-Stunden-Tag, die ununterbrochene Kette von Anrufen, die Reiseroute der Senatorin so auszuknobeln, daß alles paßte – Kristen genoß das alles. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß sie ebenso wie David nur davonlief – nur eben in eine andere Richtung.

Der Rest des Nachmittags verging wie im Flug. Es gab zwei Konferenzschaltungen und drei Presseerklärungen zu verschiedenen Themen für unterschiedliche Medienbereiche. Kristen brachte alles ohne viel Anteilnahme hinter sich, die Augen immer wieder auf das Telefon gerichtet.

»Ein Mr. Gathers auf 410«, verkündete schließlich die Stimme der Empfangsdame über die Sprechanlage.

Kristen schnappte sich den Hörer. »Paul?«

»Ja, ich bin es tatsächlich, Kris.«

»Was sind das für Geräusche? Du klingst wie von weit weg.«

»Ich bin nicht im Büro. Hör mal, kannst du weg, vielleicht in etwa einer Stunde?«

»Natürlich.« Ihr Herz raste. Ein Kloß steckte in ihrem Hals, und sie hatte Mühe, die Worte herauszubringen. »Was ist los? Was hast du herausgefunden?«

»Ich muß noch einige Dinge nachprüfen. Davids Anruf kam aus Colorado. Aus einer Ortschaft namens Grand Mesa.«

»Colorado?«

»Du hattest keine Ahnung, wo er war?«

»Er hat mir nicht von jeder Zwischenstation Postkarten geschickt. Was noch, Paul?«

»Ich werde es dir sagen, wenn wir uns treffen, wenn ich mir sicher bin. In einer Stunde, wie ich schon sagte. Kennst du das L'Escargot?«

»Ein Restaurant in der Connecticut Street.«

»Ich werde um fünf dort sein. Nein, sagen wir besser fünf Uhr dreißig. Ich muß noch woanders vorbei, und dort werde ich vielleicht etwas länger brauchen.«

»Was ist los, Paul?«

Er hatte bereits aufgelegt.

Kristen kam eine Viertelstunde früher im L'Escargot an, da sie unbedingt vermeiden wollte, zu spät zu kommen. Es war nicht überraschend, daß Gathers noch nicht angekommen war. Daher wählte sie einen kleinen Tisch rechts vom Eingang und versuchte sich die Zeit mit einer Morgenausgabe der Post zu vertreiben, die sie von der Bar mitgenommen hatte. Die Artikel glitten wie der ganze vergangene Tag an ihr vorbei, wie hinter einem Schleier und ohne jede Bedeutung. Kristen starrte auf die Überschriften, vermochte sich nicht auf die Geschichten darunter konzentrieren. Sie blätterte Seiten um und nippte Ingwerlimonade, nur um nicht untätig zu sein.

Grand Mesa, Colorado …

In einer gewissen Weise beruhigte sie, was Gathers herausgefunden hatte. Grand Mesa hörte sich nicht nach einem Ort an, an dem es zu heißen Auseinandersetzungen kommen konnte. Eine große Stadt, jede Stadt, hätte Kristen sehr viel mehr beunruhigt. Sie sah auf ihre Uhr.

5 Uhr 31. Sie hatte jedesmal zum Eingang geblickt, wenn die Tür aufging. Jetzt starrte sie ununterbrochen in diese Richtung. Ein paarmal schlug ihr Herz schneller, wenn ein Mann auftauchte, den sie zunächst für Gathers hielt. Aber sie wurde jedesmal enttäuscht. Es hatte zu regnen begonnen, und die meisten Stammgäste des L'Escargot kamen direkt von ihrer Arbeit, waren in Mäntel gehüllt und ließen in der Vorhalle ihre Regenschirme abtropfen. Kristen dachte daran, daß sie keinen mitgebracht hatte.

5 Uhr 47.

Sie versuchte, ruhig zu bleiben. Gathers hatte gesagt, daß er noch ein paar Dinge zu überprüfen hatte und woanders vielleicht aufgehalten werden konnte. Wahrscheinlich hatte er einfach länger gebraucht, als er angenommen hatte.

Warum hatte er sie nicht aus seinem Büro angerufen?

Kristen versuchte sich den Klang seiner Stimme ins Gedächtnis zu rufen. War sie angespannt, angsterfüllt gewesen? Sie dachte über die Hintergrundgeräusche nach. Von wo aus hatte er angerufen?

Hör auf! Hör auf damit!

Sie machte sich selbst verrückt. Aber es ging auf sechs Uhr zu, und von Paul Gathers war noch immer nichts zu sehen. Er hätte sie wenigstens angerufen, wenn es für ihn so spät geworden wäre. Es sei denn, er konnte nicht anrufen.

Die Tür wurde erneut aufgestoßen, und Kristens Herz beschleunigte sich wieder. Ein weiterer Mann trat ein, vor Nässe tropfend, die Krempe seines Hutes völlig durchgeweicht.

Es war nicht Gathers.

Kristen ging zum Münztelefon hinüber. Ein Mann telefonierte gerade. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und wandte sich dann ab, verschloß sein freies Ohr mit einem Finger. Kristen war wütend. Es sah danach aus, daß er das Telefon nur besetzt hielt, um sie gegen sich aufzubringen. Sie war so verzweifelt, daß sie ernsthaft überlegte, ob sie ihm nicht einfach den Hörer entreißen sollte, als er endlich auflegte. Der Hörer hatte kaum die Gabel berührt, als Kristen ihn schon ergriffen und an ihr Ohr gedrückt hatte. Sie wählte Gathers Durchwahl und umging damit die Zentrale. »Mr. Gathers Büro«, begrüßte sie eine weibliche Stimme.

»Ja. Könnten Sie mir bitte sagen, ob Mr. Gathers bei Ihnen angerufen hat?«

»Verzeihung?«

»Wir hatten eine Verabredung, und er ist reichlich verspätet.«

»Wer spricht dort, bitte?«

»Kristen Kurcell. Ich war heute morgen bei ihm im Büro. Wir haben vereinbart, uns später zu treffen, und ich habe mir Gedanken gemacht, ob er es vielleicht vergessen hat.«

Die Frau am anderen Ende hielt einen Augenblick inne. »Es tut mir leid, aber Mr. Gathers ist unterwegs. Er hat einen überraschenden Auftrag bekommen.«

»Sie wissen nicht, wie Sie ihn erreichen können?«

»Er wird hier anrufen und nachfragen, ob jemand etwas für ihn hinterlassen hat. Soll ich eine Nachricht für ihn notieren?«

Es fiel Kristen schwer, den Hörer ruhig in der Hand zu halten. »Nein, ich denke nicht. Wann mußte er eigentlich weg?«

»Am frühen Nachmittag, glaube ich. Er hatte es plötzlich sehr eilig.« Noch eine kurze Pause. »Sind Sie sicher, daß ich Ihnen nicht …«

Kristen legte den Hörer benommen auf die Gabel. Soweit seine Sekretärin Bescheid wußte, hatte Paul Gathers wegen eines Auftrags das Büro verlassen, bevor er Kristens Büro um vier Uhr von außerhalb des Hoover-Gebäudes angerufen hatte!

»Ich muß noch ein paar Dinge nachprüfen … Ich werde es dir sagen, wenn wir uns treffen, wenn ich mir sicher bin.«

Und jetzt war er verschwunden. Nicht unterwegs, nicht mit einem Auftrag beschäftigt. Einfach verschwunden.

Wie ihr Bruder.

Aber Gathers hatte ihr etwas hinterlassen: den Ort, von dem aus David in der Nacht zuvor angerufen hatte.

Grand Mesa.

Colorado.