Fünfundzwanzigstes Kapitel

In der Sandburg Eins hüpfte das zerlumpte Haar, das nicht das seine war, auf Traggeos Kopf auf und ab, als er den Korridor entlanglief, der aus dem Zellenblock B führte. Obwohl die doppelten Betonwände alle Geräusche dämpften, hatte jeder, der das Geräusch kannte, sofort gewußt, daß es draußen eine Explosion gegeben haben mußte.

Er hatte das Kontrollsystem fast erreicht, als die Sirenen aufheulten.

»Scheiße!« murmelte er. »Verdammte Scheiße!«

Er riß sich das Haar des Jungen, den er in dem Motel umgebracht hatte, vom Kopf und schmiß es gegen eine Wand. Teile des Klebstoffs und der verfaulten Kopfhaut des Jungen blieben an seiner Haut kleben und hinterließen ein Flickwerk dunkler, schmieriger Stellen. Er hatte keine Zeit gehabt, seine Kopfhaut chemisch zu behandeln, wie es eigentlich notwendig gewesen wäre, und freute sich auf das neue Haar, das ihn bald schmücken würde. Natürlich würde er die Locken der Frau nicht in ihrer vollen Pracht tragen. Er würde sie zu den Zöpfen seines Volkes flechten – gleichzeitig ein Kopfschmuck und eine Trophäe.

Der erste Skalp, den Traggeo getragen hatte, war das strohfarbige Haar des Indianers gewesen, der ihn nach Miravo verfolgt hatte. Traggeo würde niemals in Erfahrung bringen, wie dem Indianer dies gelungen war. Er kannte auch nicht die genaue Natur der Operation, an der er seit seiner Befreiung aus dem Gefängnis beteiligt war. Es war ihm gelungen, mehrere andere Mitglieder der Salvage Company zu rekrutieren, wobei er allerdings sorgfältig darauf geachtet hatte, daß er der einzige Offizier unter ihnen war. An dem Tag, an dem er die drei Vietcong-Kollaborateure skalpiert hatte, um ein Exempel zu statuieren, war er Sergeant und damit Zugführer gewesen. Solche Nachrichten verbreiteten sich in den Dörfern des Deltas schnell. Er hatte lediglich etwas verdeutlichen wollen.

Der Segen daran war, daß die Salvage Company ihm ermöglicht hatte, seine wahre Natur zu erkunden und einen Einklang mit ihr zu finden. Die normale Army bestand hauptsächlich aus Protokollen und Vorschriften. Die Salvage Company erfüllte ihre Aufgaben. Brutal. Wirksam. So, wie Traggeo es gefiel.

Er wußte, daß in seinen Adern kein indianisches Blut floß; das war eine spirituelle Sache. Er spürte, daß der Geist eines großen Kriegers in ihm wiedergeboren war und ihn führte. Er hatte den Krieger in einer Traumvision gesehen und sein Äußeres seinem Aussehen angeglichen, so gut es ihm möglich gewesen war.

Aber das war nicht genug gewesen. Der Krieger aus seiner Traumvision konnte die Größe, nach der er sich sehnte, nicht erreichen, solange ein anderer in seinem Weg stand:

Johnny Wareagle.

Das riesige Echtblut, das mit Traggeo im Krieg gedient hatte, war eher ein Mythos denn ein Mensch. Eine Legende, die Traggeo würde überwinden müssen, wenn er erreichen wollte, was der Krieger seiner Vision ihm vorgeschrieben hatte. Indem er die Skalps seiner Opfer trug, wollte er ihre Energie aufnehmen, ihre Aura absorbieren, so daß er der Aufgabe gewachsen sein würde, wenn der Tag kam, an dem er Wareagle entgegentreten mußte.

Doch jetzt mußte er eine Aufgabe erledigen. Traggeo war sehr stolz darauf, daß man ihm dieses Vertrauen entgegenbrachte. Er wollte denjenigen beweisen, die ihn befreit und seinem Schicksal zugeführt hatten, daß sie eine gute Wahl getroffen hatten; er wollte sich als würdig erweisen. Wer auch immer seine Freilassung arrangiert hatte, mußte gewußt haben, daß er bei der Salvage Company gewesen war. Doch während diese Jahre dazu beigetragen hatten, seine körperlichen Fertigkeiten feinzuschleifen, würde diese Aufgabe dazu beitragen, daß Traggeo seinen Geist weiterentwickeln und nach dem gewünschten Bild formen konnte.

Er erreichte die Kontrollzentrale und tippte die richtige Kombination in die Tastatur. Die Tür glitt auf. Er stürmte hindurch und wandte sich direkt an den Sicherheitschef.

»Was ist los?«

Der Sicherheitschef drückte einen Stöpsel seines Kopfhörers gegen sein Ohr. »Wir haben den Kontakt mit dem Jeep verloren.«

»Die Explosion, Sie Idiot.«

»Unsere Männer sind bereits unterwegs.«

Traggeo packte den Mann am Hemd. Ein Namensschild, auf dem CAROSI stand, flog durch die Luft. »Sie haben sie rausgeschickt?«

»Ich … ich konnte nicht anders!«

»Verdammt!«

Carosis Kopfhörer war hinabgerutscht, und Traggeo hörte einen verstümmelten Bericht, der aus der Hörmuschel kam. Das Kontrollzentrum befand sich hoch oben in dem als Sandburg Eins bekannten Komplex, und er sah weit hinter dem Hof den tageshellen Feuerschein.

»Schalten Sie die Scheinwerfer aus!« befahl Traggeo.

»Aber …«

Traggeo hob Carosi hoch und warf ihn gegen eine Wand, die vollständig aus Fernsehmonitoren bestand. »Begreifen Sie nicht, was hier passiert? Wir werden angegriffen! Schalten Sie die verdammten Lichter aus!«

Johnny Wareagle hatte gerade den Zaun im Osten des Komplexes erreicht, als die Scheinwerfer wieder erloschen. Sein Gerber-M-2-Messer durchschnitt die Stahlglieder wie Kitt, und innerhalb von ein paar Sekunden war er auf dem Gelände. Bevor er weiterging, befestigte er die durchschnittenen Zaunteile, so gut es ihm möglich war, um vor jemandem, der die Augen offenhielt, die Tatsache zu verbergen, daß hier jemand eingedrungen war.

Als Johnny sich zu der dunklen Wüste umdrehte, sah er, daß die restlichen Sicherheitskräfte eine gründliche Durchsuchung des Geländes begannen. Er erkannte die schwarzen, grobschlächtig aussehenden Geräte, die sie vor ihre Gesichter geschnallt hatten, als Nachtsichtbrillen der Marke AN/PVS-7. Aber die Männer hielten nicht nach ihm Ausschau.

Sie suchten nach demjenigen, der ein Stück die Straße entlang die Explosion ausgelöst hatte. Eine andere Gruppe – vielleicht sogar eine von beträchtlicher Größe – versuchte, sich Zutritt zu dem Komplex zu verschaffen. In Johnny war die Hoffnung, Traggeo zu erwischen, zu solch einer Besessenheit geworden, daß er bislang gar nicht darüber nachgedacht hatte, in was für eine Verschwörung der Killer verwickelt sein mochte. Auf jeden Fall war eine Machtgruppierung daran beteiligt, die die Mittel hatte, eine Anlage von dieser Größe entweder zu erbauen oder zu übernehmen. Und die Feinde dieser Gruppierung waren zur selben Zeit wie Johnny eingetroffen, ein Umstand, der sich zu seinen Gunsten auswirken konnte.

Wareagle legte sich flach auf den Boden und rieb seine Haut und Kleidung mit Wüstensand ein. Als er sich wieder erhob, konnte man ihn kaum von der Umgebung unterscheiden. Wie der Gebäudekomplex war auch Johnny mit der Wüste verschmolzen. Nach ein paar Metern ließ er sich wieder auf Knie und Ellbogen hinab, verlor sich zwischen Beifuß und Steppenläufern und konnte noch nicht einmal von denen ausgemacht werden, die direkt in seine Richtung sahen.

Belamo und McCracken benutzten Drahtscheren, um durch den Zaun zu kommen. Kaum befanden sie sich auf dem Gelände, erloschen die Scheinwerfer wieder, und Blaine winkte Sal zurück.

»Jemand weiß, daß wir hier sind.«

»Was?«

»Deshalb haben sie die Scheinwerfer wieder ausgeschaltet.«

»Ihre erste intelligente Tat, wenn du mich fragst.«

»Ganz genau. Angreifer würden das Licht nutzen, um einen Wachtposten nach dem anderen auszuschalten. In der Dunkelheit sind die Chancen gleichmäßig verteilt.«

»Oder liegen auf ihrer Seite, wenn sie diesen Nachtsicht-Scheiß haben.«

»Genau.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir ändern die Spielregeln.«

»Boß?«

»Sie erwarten einen Angriff, also eine beträchtliche Truppe, Sal. Aber nicht uns.«

»Ich habe unseren Status gemeldet«, sagte Carosi, der den Kopfhörer wieder zurechtgerückt hatte. »Nur zur Vorsicht ist Verstärkung unterwegs, aber es wird eine Weile dauern, bis … Sir?«

Traggeo machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu dem Mann umzudrehen. Statt dessen hielt er den Blick durch das Fenster des Kontrollzentrums auf den Boden draußen gerichtet. Das Glas war von außen völlig undurchsichtig, so daß niemand ihn sehen konnte. Die Nacht gab nichts preis, abgesehen von dem einen oder anderen Wachtposten, der nach Eindringlingen Ausschau hielt.

»Es war der Jeep«, fuhr Carosi fort, nachdem er den Bericht der Gruppe erhalten hatte, die er zum Schauplatz der Explosion geschickt hatte.

Diesmal drehte Traggeo sich zu ihm um. »Beordern Sie die Männer zurück.«

»Zwei unserer Leute werden noch vermißt.«

»Entweder sind sie tot, oder sie sind in Gefangenschaft geraten. Beordern Sie die Männer zurück. Sofort.«

Carosi schluckte schwer, tat dann aber wie geheißen.

Traggeo drehte sich wieder zum Fenster um.

»Sind Ihre Männer auf dem Gelände mit Walkie-talkies ausgerüstet?« fragte er.

»Natürlich.«

»Dann sollen sie Bericht erstatten. Alle sollen Bericht erstatten.«

»Warum?«

Traggeos Augen blitzten kalt. »Weil ich sie nicht mehr sehen kann.«

McCracken und Sal Belamo hatten sich getrennt, um besser mit der unmittelbaren Bedrohung fertig werden zu können, die die patrouillierenden Wachen darstellten. Obwohl die AN/PVS-7-Nachtsichtgeräte ihnen ermöglichten, auch die dunkelste Wüstennacht zu durchdringen, brachten sie doch schwerwiegende Behinderungen mit sich. Zum einen gestatteten die massigen Geräte keine schnellen Bewegungen und Kopfdrehungen. Zum anderen begrenzten sie das periphere Blickfeld fast auf null. Wer davon wußte, konnte diese beiden Nachteile problemlos ausnutzen.

Während Blaine versuchte, eine Möglichkeit zu finden, in die Sandburg Eins einzudringen, war er insgesamt vier mit den Brillen ausgerüsteten Wachen begegnet. Alle vier hatte er problemlos ausschalten können, ohne daß der Einsatz von Waffen nötig geworden war. McCracken vermutete, daß es bei jenen, die Sal Belamo über den Weg liefen, anders sein würde. Der ehemalige Boxer hatte sein Durchsetzungsvermögen auf der Straße gelernt und sich danach stets an diese tödlichen Spielregeln gehalten. Er hatte nicht die geringsten Skrupel, eine mit Schalldämpfer versehene Halbautomatik zu benutzen, wenn sie ihm die Aufgabe erleichterte und ihm ein paar Sekunden Zeitersparnis brachte.

Dementsprechend war Blaine überrascht, als er auf zwei Wachen stieß, die bewußtlos – und nicht tot – im Unterholz verborgen lagen. Er hätte vielleicht sogar vermutet, daß Belamo endlich gelernt hatte, etwas subtiler vorzugehen, wenn nicht die Tatsache dagegen gesprochen hätte, daß Sal eigentlich auf der entgegengesetzten Seite der Anlage vorstoßen sollte. Er tat den seltsamen Umstand mit einem Achselzucken ab und schlich weiter, während die Scheinwerfer des zurückkehrenden Konvois das letzte Stück der Straße erhellten, die zur Sandburg Eins führte.

»Ich kann keinen der patrouillierenden Posten erreichen«, sagte Carosi kopfschüttelnd, nachdem er sie noch einmal aufgefordert hatte, sich zu melden.

»Weil sie aus dem Spiel genommen wurden, Sie Trottel!« brüllte Traggeo.

Eine rote Lampe blitzte auf der Hauptsicherheitskonsole auf, und ein grelles Jaulen setzte ein. Auf dem Status-Monitor erhellten sich im Rhythmus mit dem Alarmton zwei Worte:

UNBERECHTIGTES EINDRINGEN

»Jemand hat die Anlage betreten!«

»Wo?«

»Ein Fenster im Erdgeschoß. Südöstlicher Quadrant, Sektor Eins-eins …«

»Wo, zum Teufel, ist das?«

Bevor Carosi die Frage beantworten konnte, flammte ein zweites Licht auf und setzte ein zweiter Alarm ein. Die Status-Anzeige veränderte sich nur unwesentlich:

UNBERECHTIGTES EINDRINGEN
UNBERECHTIGTES EINDRINGEN

»Eine zweite Meldung!« brachte Carosi zustande. Fast wär' ihm die Luft weggeblieben. »Eine Tür im Erdgeschoß. Nord westlicher Quadrant, Sektor …«

»Sagen Sie mir einfach, wo das ist, verdammt!« brüllte Traggeo.

Bevor der Sicherheitschef der Aufforderung Folge leisten konnte, näherten sich die Scheinwerfer des Konvois dem Haupttor.

»Die Männer sollen auf dem Gelände ausschwärmen!« befahl Traggeo. »Sie sollen auf alles schießen, was sich bewegt!«

Das Tor wurde elektronisch geöffnet, und der erste Jeep war kaum hindurchgefahren, als die Explosion erklang. Das Fahrzeug verwandelte sich in einen Flammenball und wurde in die Luft geschleudert. Es prallte gegen den zweiten Jeep, der sich unmittelbar dahinter befand. Der Lastwagen mit den Soldaten, der die Nachhut bildete, zog zur Seite, um der tödlichen Explosion auszuweichen, und löste dabei eine zweite Detonation aus, die ihn wie ein Spielzeug hochwirbelte und umstürzen ließ. Eine dritte Sprengung jagte die Benzintanks aller drei Fahrzeug in die Luft, und ein riesiger Feuerball erhellte die Sandburg Eins.

Da Traggeo neben dem Fenster stand, wurde seine Haut orange getönt. Sein Gesichtsausdruck hatte sich während des Chaos, das die anderen Insassen der Kontrollzentrale hinter ihm durcheinanderscheuchte, nicht verändert. Er konnte jeden Atemzug davon fühlen und schmecken. Die Ruhe der Schlacht hatte übernommen. Seine Gedanken waren ganz klar.

Sandburg Eins war an zwei Stellen von einer unbestimmten Anzahl von Feinden, die auch den Umkreis gesichert hatten, betreten worden. Seine erste Aufgabe bestand darin, den Schaden für den Gesamtplan zu begrenzen. Die Computersysteme von Sandburg Eins enthielten nicht den geringsten Hinweis auf die bevorstehende Aktion. Aber hier wurde eine Gefangene festgehalten, die viel mehr als nur einen Hinweis verraten konnte.

Traggeo wußte, was er zu tun hatte.

Er ging zur Tür der Kontrollzentrale und tippte über die Tastatur den erforderlichen Kode ein. Nichts tat sich.

»Im Fall eines Eindringens werden die Türen automatisch versiegelt«, erklärte der Sicherheitschef.

»Öffnen Sie sie.«

Carosi drehte sich zu seinem Terminal um. Die Tür glitt zischend auf.

Johnny Wareagle schlich durch einen Gang im Erdgeschoß des Komplexes, als die Explosionen erklangen. Normalerweise hätte er angenommen, daß die andere Streitmacht, die hier eingedrungen war, einen umfassenden Angriff begonnen hatte, aber sein Gefühl sagte ihm etwas anderes. Seine Gedanken waren durcheinander, verwirrt. Er war lediglich wegen Traggeo hierher gekommen. Diese andere Streitmacht war offensichtlich aus einem ganz anderen Grund hier.

Blainey …

Wareagle schüttelte das Gefühl so schnell ab, wie es ihm in den Sinn gekommen war. Eine Ablenkung war das letzte, was er jetzt brauchen konnte, ganz zu schweigen von einer, in die der Mann verwickelt war, mit dem er so oft gemeinsam gekämpft hatte, daß er in keinen Kampf mehr ziehen konnte, ohne zu erwarten, McCracken an seiner Seite zu sehen. Aber heute abend war er allein. Ganz gleich, welches Ziel die geheimnisvolle Macht oder sogar der Bundesgenosse hatte, er war allein, und er hatte nur ein Ziel:

Traggeo.

Johnny ging um eine Ecke und trat in ein Tuch aus Dunkelheit, das ihn zwang, sich den Weg zu ertasten. Die Gänge, durch die er sich bis hierher vorgearbeitet hatte, waren vom schwachen Licht einer indirekten Deckenbeleuchtung erhellt worden. Die Wände und Türen waren weiß, wie auch die Fußbodenfliesen. Obwohl er keine Gitter oder Schlösser sah, hatten Johnnys Vermutungen sich bestätigt: Bei diesem Ort handelte es sich um ein Gefängnis, dessen Zellen derzeit leer, aber darauf vorbereitet waren, jederzeit Insassen aufzunehmen.

Und doch, irgend etwas stimmte hier nicht. Wareagle hatte an genug Rettungsmissionen in Gefangenenlagern der Vietkong teilgenommen, um das Gefühl der Sinnlosigkeit zu kennen, das in ihnen herrschte. Er kannte die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung, die für sie typisch war. Hier herrschte ein anderes, wenn auch genauso unheilvolles und bedrohliches Gefühl. Und hier war ein mächtiger Feind am Werk. Johnny konnte diesen Feind in den Mauern spüren, in dem fürchterlichen Zweck wahrnehmen, für den diese Anlage konstruiert worden war.

Der Komplex war Teil eines schrecklichen Plans. Die Geister flüsterten Johnny etwas zu, und er hörte auf sie. Plötzlich wußte er, wieso seine Suche nach Traggeo so wichtig gewesen war. Die Geister hatten ihn hierher geführt, um ihn auf einen viel größeren Feind aufmerksam zu machen, mit dem Traggeo sich zusammengetan hatte.

Wareagle verharrte so abrupt, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

Traggeo war hier! Traggeo näherte sich ihm!

Seine Sinne schärften sich. Vor ihm sah er an der nächsten Biegung des Ganges Licht.

Wareagle zog sein Messer aus der Scheide.

Die schnelle Folge der Explosionen hatten Kristen zur Tür ihrer Zelle gelockt. Sie drückte ein Ohr dagegen, um mehr Hinweise darauf zu bekommen, was draußen vor sich ging, nahm jedoch nur das dumpfe Geräusch sich nähernder Schritte wahr. Kristen sprang zurück.

Das Ungeheuer kam, um sie zu töten.

Ihr wurde klar, was David gesehen hatte. Was er gewußt hatte, wußte nun auch sie. Und dieses Wissen durfte nicht mit ihr sterben.

Eine Waffe! Sie brauchte eine Waffe!

Ihr Blick fiel auf das Bettgestell. Wenn sie eine der Stahlstangen abreißen konnte, könnte sie sich wenigstens verteidigen. Kristen zerrte die Matratze herunter und kippte das Bett um. Es prallte schwer auf den Boden.

Das Bettgestell bestand aus stabilem Holz.

Draußen waren die Schritte verhallt.

Klick!

Die Tür war elektronisch geöffnet worden. Die Klinke wurde hinabgedrückt.

»Nein!«

Das Wort hatte als Schrei begonnen und endete als Krächzen. Die Tür wurde vollständig geöffnet.

Kristen drückte sich gegen die Wand und ließ den Mann, der die Zelle betrat, nicht aus den Augen. Aber es handelte sich nicht um das Ungeheuer in Menschengestalt. Vor ihr stand ein riesiger Indianer, der mit dem Kopf fast an den Türbalken stieß.

Kristen war nicht imstande, den Blick von den zwingenden Augen des Indianers abzuwenden.

»Sie haben ihn gesehen«, sagte der Mann ohne jede weitere Erklärung und sah wieder auf den Gang hinaus. »Wir müssen weg von hier. Schnell.«

Da Kristen wußte, daß sie keine andere Wahl hatte, trat sie durch die Zellentür zu ihm hinaus. Sie hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als am Kopf des Ganges, dreißig Meter von ihnen entfernt, eine Gestalt um die Ecke bog.

»Da ist …«

Kristen kam nicht mehr dazu, die Identifizierung des menschlichen Ungeheuers abzuschließen, das ihren Bruder getötet hatte, denn der Indianer packte sie und zerrte sie in die andere Richtung. Sie liefen einem Tuch aus Dunkelheit entgegen, und hinter ihnen hallte eine abgehackte Kugelsalve im Gang. Aus den Wänden wurden Splitter gegraben. Einige Kugeln jubelten mit metallischem Kreischen als Querschläger durch die Luft.

Kristen wurde von dem Indianer um die Ecke gerissen und in die wartende Dunkelheit geführt.

Traggeo hatte nicht gezögert. Noch während sein Gehirn versuchte, den unmöglichen Anblick direkt vor ihm zu verarbeiten, hatte er die Waffe gehoben und geschossen.

Johnny Wareagle!

Doch sein größter Feind, der Mann, dessen Skalp er unbedingt erbeuten wollte, hatte sich einen Sekundenbruchteil vorher bewegt. Die Geister, die sich schon so lange weigerten, Traggeo als wahres Blut zu akzeptieren, hatten Wareagle gerade noch rechtzeitig gewarnt. Doch dieselben Geister mußten den legendären Indianer aus einem bestimmten Grund hierher geführt haben.

Ja!

Das war Traggeos Chance, seine Prüfung. Wenn er sie bestand, indem er Wareagle tötete, würden die Geister, die ihn so lange verschmäht hatten, ihn endlich akzeptieren. Wareagle war alles, was Traggeo sein wollte. Eine Legende. Ein Held. Eher ein Mythos denn ein Mensch.

Wareagle floh vor seiner ersten Salve in die Dunkelheit des nächsten Ganges. Traggeo spurtete den Korridor entlang, ohne den Finger vom Abzug zu nehmen.

Klick.

Sein Magazin war leer, als Wareagle und die Frau um die Ecke bogen. In diesem noch nicht vollendeten Flügel gab es noch keinen Strom. Wenn er Wareagle verfolgen wollte, mußte er sich in die Dunkelheit begeben und dem legendären Indianer damit nach dessen Bedingungen gegenübertreten. Traggeo blieb stehen. Die Geister wollten ihn in Versuchung führen, doch er war nicht so töricht, um nach diesem Köder zu schnappen. Er wußte, daß Wareagle jetzt sein Spiel aufziehen konnte, wie es ihm beliebte. Traggeo wußte ebenfalls, daß er die Spielregeln festlegen mußte, wollte er die lebende Legende besiegen. Er würde Wareagle nicht leichtsinnig in die Dunkelheit folgen.

Er drehte sich um und lief zum Kontrollzentrum zurück.

»Warten Sie hier«, befahl Johnny in der Dunkelheit, nachdem er mitbekommen hatte, daß Traggeo sie nicht verfolgte.

Als er hinter der Zellentür der Frau ein dumpfes Geräusch gehört hatte, war er stehengeblieben. Die Schlüsseltaste war noch nicht eingebaut worden; statt dessen hingen dort zwei Drähte hinab. Er hatte sie einfach aneinandergehalten, und die Tür war elektronisch aufgesprungen.

»Wohin wollen Sie?« fragte sie ihn.

»Ich hole Sie später hier ab.«

»Sie wollen ihn verfolgen, nicht wahr?«

Johnny hielt das Messer in der Hand. Er fragte sich, ob die Frau es trotz der Dunkelheit irgendwie sehen konnte.

»Ich begleite Sie«, beharrte die Frau. »Er hat meinen Bruder getötet.«

»Er hat viele getötet.«

»Worauf warten wir dann?« fragte die Frau, und Johnny spürte, daß sie wieder an seinem Arm zerrte.

McCracken bewegte sich langsam durch den leeren Gang und versuchte, geistig zu verarbeiten, was er hier sah. Er hatte die Sandburg Eins an der Stelle betreten, an der der südliche Flügel in den östlichen überging. Aber er vermutete, daß sich ihm hier überall derselbe Blick bieten würde.

Sandburg Eins war ein ultramodernes Hochsicherheitsgefängnis. Es gab keine Gitter, keine Zellen. Statt dessen war, wie in einem Schlafsaal, eine Tür neben der anderen in die Wände eingelassen. Sie waren keine zweieinhalb Meter voneinander entfernt, was bedeutete, daß die Räume dahinter sehr klein waren. Jede Tür war mit einer computerisierten Schlüsseltaste mit eingebautem Mikrofon ausgestattet.

Diese Anlage war nach präzisen und kostspieligen Vorgaben errichtet worden. Sie wies eine gewisse zivilisierte Eleganz auf, die kaum zu der Klasse der Kriminellen paßte, die sie eigentlich hatte beherbergen sollen. Dabei würde es sich wohl kaum um Drogenhändler oder Lieferanten handeln. Nein, die Zellen dieses Komplexes warteten auf eine ganz andere Klasse von Insassen.

Auf politische Gefangene, die den Kräften, die dem Land eine neue Ordnung aufzwingen wollten, gefährlich werden konnten.

Die Trilaterale Kommission hatte durch einen Unterausschuß, dessen Vorsitzender Bill Carlisle gewesen war, ursprünglich versucht, dasselbe Ziel mit der Operation Gelbe Rose zu verwirklichen. Nun, fast zwanzig Jahre später, standen die militanten Nachfolger der Trilat kurz davor, den Plan zu verwirklichen.

Blaine sah auf seine Uhr. Die Tatsache, daß Sandburg Eins noch nicht in Betrieb war, erklärte, wieso der Komplex nur von einer Rumpfmannschaft bewacht wurde. Aber er hoffte noch immer, irgendwo Hinweise zu finden, die ihn auf die Spur derjenigen bringen würden, die hinter dem bevorstehenden Umsturz steckten.

McCracken ging weiter, erstaunt darüber, wie groß die Anlage war. Der Zahl der Zellen zufolge, die sich allein in diesem Flügel befanden, schätzte er, daß die gesamte Anlage über etwa siebenhundertfünfzig Räume zur Unterbringung von Gefangenen verfügte. Und wenn man davon ausging, daß überall im Land weitere derartige Anlagen errichtet werden sollten, von denen fünf sich bereits im Bau befanden und die bis an die Grenzen ihrer Kapazität mit Insassen gefüllt wurden …

Blaine hatte gerade einen anderen Gang betreten, als er das Geräusch von Schüssen aus einer Maschinenpistole hörte. Im dritten Stock war eine Salve abgefeuert worden. McCracken packte seine Uzi fester und lief los.

»Hier in der Nähe bin ich verhört worden«, flüsterte Kristen dem Indianer zu. »Irgendwo am nächsten Gang, glaube ich.«

Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch der Indianer riß sie zurück.

»Runter!« befahl er, und bevor Johnny sie mit sich zu Boden riß, konnte sie aus den Augenwinkeln gerade noch das Ungeheuer in Menschengestalt ausmachen.

Sie prallten auf die harten Fliesen, und die Kugeln pfiffen über sie hinweg. Bevor Kristen wieder zu Atem kam, war es dem Indianer irgendwie gelungen, das Messer zu werfen, das er in der Hand gehalten hatte.

Fünfzehn Meter entfernt grub die Klinge sich in Traggeos Unterarm. Die Hand des Mannes wurde hochgerissen. Eine weitere Salve riß Splitter aus der Decke. Traggeo schrie vor Schmerz auf, warf sich herum und prallte neben dem Schlüsselschalter des Kontrollzentrums gegen die Wand. Mit derselben behenden Bewegung zog er das Messer aus dem Unterarm und wechselte seine Waffe in die linke Hand.

Da Johnny glaubte, im Vorteil zu sein, war er wieder aufgesprungen und losgelaufen. Doch dabei hatte er nicht die Schnelligkeit von Traggeos Reaktion in Betracht gezogen. Er hatte kaum die halbe Strecke zu seinem Widersacher zurückgelegt, als Traggeo die Waffe schon wieder auf ihn richtete. Johnny sah, wie der Lauf sich in seine Richtung senkte, und begriff im gleichen Augenblick, daß er seinen eigenen Tod sah.

Doch die Todesvision war falsch gewesen und wurde von einer wirbelnden Gestalt außer Kraft gesetzt, die um die Ecke sprang und sich auf Traggeo warf.

Blaine hatte die dröhnende Stimme Johnny Wareagles einen Augenblick erkannt, bevor erneut eine Salve aufpeitschte. Als er um die Ecke bog, sah er zuerst Johnny und warf sich dann auch schon auf die fast genauso große und verschwommen vertraute Gestalt, die die Maschinenpistole direkt auf den riesigen Indianer richtete. Der Schütze drehte sich im letzten Augenblick um, holte mit einem blutigen Arm aus und versetzte Blaine einen Hieb auf die Nase. Der Schlag machte McCracken benommen, und er kam nicht mehr dazu, seine Uzi zu benutzen. Der große Schütze tippte auf einem Keypad an der Wand neben ihm zwei Ziffern ein.

Eine Tür mit der Aufschrift MONITOR-KONTROLLE glitt auf, und Traggeo warf sich durch die Öffnung. Als Wareagle ihm zur Tür folgte, begrüßte ihn aus dem Raum dahinter ein Kugelhagel. McCracken gelang es, eine Salve in den Raum zu schießen, dann glitt die Tür wieder zu. Blaine sprang auf und drückte auf dieselben beiden Tasten.

Nichts passierte. Die Tür bewegte sich nicht. Johnny Wareagle legte die Handflächen darauf, als wolle er sich hindurchgraben.

»Schön, dich hier zu treffen, Indianer«, sagte Blaine schwer atmend.

Er wollte fortfahren, als ein vertrautes Stakkatogeräusch an seine Ohren drang. Obwohl es aufgrund der schweren Mauern der Sandburg Eins kaum auszumachen war, erkannten er und Johnny es sofort.

»Hubschrauber, Indianer.«

»Sie kommen schnell näher.«

Ihre Blicke kehrten gleichzeitig zu der Tür mit der Aufschrift MONITOR-KONTROLLE zurück.

»Hier können wir nichts mehr tun«, sagte McCracken.

»Im Augenblick jedenfalls nicht, Blainey.«

Blaine bemerkte erst jetzt die Frau, deren Augen von einem Schock und Unsicherheit kündeten.

»Sieht so aus, als hättest du die einzige Gefangene der Sandburg Eins befreit, Indianer«, sagte er und sah wieder zu Kristen. »Ich möchte nur allzugern erfahren, weshalb man Sie hier eingesperrt hat.«

»Was führt dich in die White Sands, Indianer?« fragte Blaine, als sie zum Haupteingang im Erdgeschoß stürmten. Die Frau, die sie befreit hatten, konnte kaum mit ihnen Schritt halten.

»Traggeo, Blainey.«

»Ich wußte doch, daß ich diesen Burschen von irgendwoher kenne.«

»Das Höllenfeuer.«

»Es führt uns wieder zusammen.«

»Aber nicht für lange, wenn uns nicht die Flucht gelingt.«

»Keine Bange, Indianer. Ich bin sicher, Sal hat draußen alles unter Kontrolle.«