Sechstes Kapitel

»Er hat wieder getötet. Deshalb bin ich zu dir gekommen, Wanblee-Isnala.«

Häuptling Silver Cloud führte den Teebecher mit zitternder Hand an die Lippen. Ihm gegenüber in der Blockhütte saß Johnny Wareagle, der die Hütte mit seinen eigenen Händen und Werkzeugen gebaut hatte, sah ihn aufmerksam an und hörte ihm zu.

»Die Geister haben mich den Mord in einem Traum sehen lassen«, fuhr der Häuptling mit brüchiger Stimme fort.

Die Reise von der Reservation in Oklahoma, der er als Ältester vorstand, nach Maine hatte offensichtlich ihren Preis gefordert. Silver Cloud ging auf die achtzig zu, und Wareagle sah ihm sein Alter nun auch an. Seine ledrige Haut wirkte schlaff, der Bronzeton war in ein stumpfes Oliv übergegangen. Seine Augen wirkten zum erstenmal alt.

»Du mußt Traggeo aufhalten, Wanblee-Isnala. Du mußt ihn aufspüren, bevor er unserem Volk weiteren Schaden zufügen kann. Er ist keiner von uns, und doch bringt jeder Mord mehr Schande über unser Volk.«

Wareagle streckte eine seiner großen Hände aus und half Häuptling Silver Cloud dabei, den schweren Becher wieder auf den Tisch zwischen ihnen zu stellen. Auch der Becher war seine eigene Handarbeit, und wie alles, das Johnny herstellte, war er im Hinblick auf seine eigenen Proportionen von zwei Meter zehn und gut hundertzwanzig Kilo geschaffen worden. Seine Haare waren zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, das kohlenschwarze Haar wies einzelne graue Strähnen auf. Seine massive Brust kleidete eine Lederweste, die er selbst genäht hatte. Seine Hände ruhten auf den Knien, und die Schultern dehnten sich zu einem solchen Umfang, daß selbst die Augen des alten Häuptlings sich weiteten.

»Du kennst ihn bereits, nicht wahr, Wanblee-Isnala!«

»Nur so gut, wie man einen anderen Fremden im Höllenfeuer kennen kann.«

»Aus der Zeit, als es begonnen hat«, erinnerte sich der Häuptling.

Traggeo war ein riesiges Ungeheuer von Mann, der in Vietnam angekommen war und sich als Halbindianer bezeichnet hatte, obwohl keins seiner Elternteile eine direkte Abstammung aufweisen konnte. Er ging mit geflochtenem schwarzem Haar und Kriegsbemalung auf Patrouille. Er wurde in ein Militärgefängnis geworfen, nachdem er drei vietnamesische Dorfbewohner umgebracht und skalpiert hatte, die der Zusammenarbeit mit den Vietcong verdächtig waren. Doch damit war der Krieg für ihn nicht zu Ende, dank des Obersten eines Sondereinsatzkommandos namens Tyson Gash.

Gash war auch ein Außenseiter; seine Methoden und Angewohnheiten waren selbst für den gewissenlosen Haufen nicht akzeptabel, der den einzigen Teil des Krieges organisierte, den Amerika tatsächlich gewann. Es führte dazu, daß er das Sondereinsatzkommando verließ, um seine eigene Splittergruppe zu bilden – für Aufträge, die nicht einmal das Projekt Phoenix von Johnny und Blaine McCracken bewältigen konnte. Gash holte sich Männer wie Traggeo sowie unehrenhaft Entlassene aus Militärgefängnissen. Er suchte sich aus den Verbrecheralben diejenigen aus, die am unmoralischsten, brutalsten und grausamsten waren. Er überzeugte seine Vorgesetzten, die sein Vorgehen billigten, daß er sie kontrollieren konnte und sie ohnehin entbehrlich waren. Damit stellten sie die idealen Kandidaten für Aufträge dar, bei denen ein Überleben unmöglich erschien.

Und in einem gewissen Maße hatte er recht. Die Salvage Company, also die ›Rettungsgruppe‹ von Gash, wie sie allgemein genannt wurde, erwies sich bei verschiedenen Gelegenheiten als ganz erfolgreich. Das Problem bestand darin, daß sie erst kurz vor dem Ende des Kriegs gegründet wurde. Nachdem sie aufgestellt war und arbeitete, wurde das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, und Nixon rief den ehrenvollen Frieden aus. Doch die Mitglieder der Rettungsgruppe wußten wenig über Frieden und noch weniger über Ehre. Diejenigen unter ihnen, die Auseinandersetzungen in Laos und Kambodscha überlebt hatten, wurden amnestiert und wieder auf die reale Welt losgelassen.

Traggeo war einer von ihnen. Die Kriegsbemalung und das geflochtene Haar wurden sein Markenzeichen. Die Legende von dem großen indianischen Krieger, der in seiner Seele wiedergeboren worden war, kehrte mit ihm aus dem Krieg zurück, obwohl er gar keine indianische Herkunft aufweisen konnte. Nach Vietnam trieb er sich bei verschiedenen Söldnergruppen herum und ging dann in die Staaten zurück. Vor fünf Jahren hatte er vier Männer bei einer Auseinandersetzung zu Tode geprügelt und sie alle skalpiert, anschließend war er noch vor seiner Verurteilung aus dem Gefängnis entflohen. Es gab eine Anzahl weiterer Morde, die alle nach dem gleichen Muster abliefen.

Drei Krankenschwestern in einer einzigen Nacht in Chicago.

Eine ganze Familie in Idaho.

Zwei Polizisten, außerhalb ihres Dienstes unweit von Los Angeles.

Die Liste ging noch weiter. Alle Opfer waren skalpiert worden. Und jedesmal brachte dieses Markenzeichen Traggeo mit einem Mord in Zusammenhang, und seine erfundene indianische Herkunft fiel auf das Volk zurück, von dem er ein Teil zu sein behauptete. Das Problem war für den Stamm der Sioux, dem Häuptling Silver Cloud vorstand, zu einer Frage der Ehre geworden. Traggeo mußte gefunden und aufgehalten werden. Aber er war vor über einem Jahr untergetaucht, wie der alte Mann erklärt hatte.

»Einer aus unserem Stamm dachte schon, er habe ihn endlich gefunden. Will Shortfeather.« Häuptling Silver Cloud zeigte ein abgegriffenes Farbfoto von einem großen Mann mit strähnigem, strohfarbenem Haar, das in einer glatten Linie rund um seinen Schädel abgeschnitten war. »Er verschwand wieder. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Das war vor zwei Wochen.«

Wareagle nickte. »Und dieser andere Mord?«

»In der vorletzten Nacht. Ich habe am Morgen nach diesem Traum den Bus hierher genommen. Ich wußte, daß es wieder begonnen hatte. Aber schlimmer. Irgendwie noch schlimmer.«

Die Augen von Silver Cloud sahen ihn flehend an, und Wareagle empfand eine schmerzliche Zuneigung für den Mann, der einer seiner spirituellen Führer gewesen war. Der Gedanke daran, daß dieser Krieger mehr als vierundzwanzig Stunden in einem Bus auf der Fahrt nach Osten verbracht hatte, um ihn um seine Hilfe zu bitten, ließ ihn demütig werden. Und wenn Johnny seine Bitte zurückwies, würde Häuptling Silver Cloud ohne einen Vorwurf oder weitere Fragen in den nächsten Bus steigen, und er würde Johnny genauso achten wie zuvor.

Aber Johnny würde nicht ablehnen. Und er würde den alten Mann wenigstens in einem Flugzeug in den Westen zurückkehren lassen.

»Wirst du uns helfen, Wanblee-Isnala?«

Wareagle hielt das Bild des Indianers mit dem strohfarbenen Haar eine Armlänge von sich weg. »Wo war Shortfeather, als du zuletzt von ihm gehört hast?« Die Falten im greisenhaften Gesicht von Silver Cloud wirkten gelöster. Seine Schultern richteten sich auf, als wäre ein großes Gewicht von ihnen genommen.

»In Gainesville«, antwortete er. »Gainesville, Texas.«