Siebtes Kapitel

Der Präsident zog seine Runden im Schwimmbecken des Weißen Hauses, während sein engster Berater, Charlie Byrne, am Beckenrand neben ihm auf und ab ging.

»Ich will nichts über die Meinungsumfragen hören, Charlie. Von Meinungsumfragen wird mir nur übel.«

»Es gibt Pillen gegen Übelkeit, Mr. Präsident.« Obwohl sie alte Schulfreunde waren, bestand Byrne darauf, ihn stets formell anzusprechen. »Ich habe aber noch nichts von einer Pille gehört, die gegen unsere Probleme mit den Meinungsumfragen wirkt.«

Der Präsident ging in die Brustlage über. »Die gute Nachricht besteht darin, daß ich noch immer zweieinhalb Jahre habe, um die Dinge in Ordnung zu bringen.«

Byrne ging weiter am Beckenrand neben ihm her. »Und die schlechte Nachricht besagt, daß eineinhalb Jahre ausgereicht haben, damit die Dinge sich so schlecht entwickeln konnten.«

Der Präsident tauchte mit dem Kopf unter Wasser und kam dann wieder hoch, kniff die Augen wegen des Chlors zusammen und schwamm auf die Leiter zu. »Hättest du irgend etwas anders gemacht, Charlie? Ich meine, wenn wir noch einmal von vorn anfangen könnten … was würdest du anders anpacken?« Nachdem Byrne keine Anstalten zu einer Antwort machte, fuhr der Präsident fort: »Es liegt nicht an mir, es liegt nicht an uns. Es ist das verdammte System. Wir sind dafür bestraft worden, daß wir versucht haben, wirkliche Veränderungen herbeizuführen, daß wir uns Problemen zugewandt haben, die so lange ignoriert worden sind, daß niemand mehr etwas von ihnen wissen will. Vielleicht würden wir jetzt besser dastehen, wenn wir gar nichts gemacht hätten.«

»Oder die Dinge langsamer angegangen wären.«

Der Präsident zog sich langsam die Leiter hoch. »Wir hätten es uns nicht leisten können, die Dinge langsamer anzugehen.«

»Die Prozentzahlen der Zustimmung für Sie …«

»Geht es darum? Läuft alles nur darauf hinaus?« Der Präsident hatte den Beckenrand erreicht und stand jetzt tropfnaß da. »Keine politische Handlung mehr, die uns nicht unmittelbare Zustimmung einbringt? Popularität durch Rhetorik gewinnen? Noch mehr Politik, die gar nichts erreichen will?«

»Sir …«

»Oder vielleicht brauchen wir einen Krieg. Wir bombardieren den Iran oder Nordkorea, wenn sie nicht auf Nuklearwaffen verzichten. Das würde die Prozentzahlen der Zustimmung in wunderbare Höhen schnellen lassen, nicht wahr? Und die Leute würden aufhören, von Halbzeit-Harry zu reden. Verdammt, vielleicht würden sie das hier sogar wieder das Weiße Haus nennen.«

»Das habe ich nicht vorgeschlagen.«

»Aber es gibt keine andere Richtung, die wir einschlagen können. Achtzehn Monate, und man hat mich schon ausgezählt. Und weißt du, was das schlimmste ist, Charlie? Ich weiß nicht einmal, ob mir das noch etwas ausmacht. Vielleicht verbringe ich die nächsten zweieinhalb Jahre damit, dieses Land zu zwingen, die Wahrheit zu schlucken, und werde dann bereitwillig die Koffer packen.«

Mit verschränkten Armen ging der Präsident ein paar Schritte vom Schwimmbecken weg und ließ sich von Charlie Byrne ein Handtuch geben. Die paar Runden, die er hinter sich gebracht hatte, hatten ihn ermüdet, statt ihn zu erfrischen. Er ließ sich in den Stuhl nahe der Wand fallen, um sich abzutrocknen. Er ließ das Handtuch eine Zeitlang auf seinem Gesicht liegen, als hoffte er, daß seine Gesichtszüge danach wieder die gleichen sein würden wie damals, als er das Amt angetreten hatte. Er hielt sich damals für ausgesprochen robust und kerngesund. Jetzt raubten ihm manchmal bereits ein paar Treppenstufen den Atem. Sein Haar war dünner und silbriger geworden. Die leichten Falten hatten sich tief in sein Gesicht eingegraben und weiteten sich ständig aus. Die Muskeln, an denen er so hart gearbeitet hatte, waren schlaff geworden. Das Amt war daran schuld oder vielleicht die damit verbundenen Enttäuschungen. Die furchtbare Lage, die ihm hinterlassen worden war, hatte zu Erwartungen geführt, die unmöglich erfüllt werden konnten. Als die Dinge nicht besser, sondern schlimmer wurden, was mit einer Folge von gebrochenen Wahlversprechen einherging, wandte sich augenblicklich das ganze Land gegen ihn. Die Leute verhielten sich wie ertrinkende Schwimmer, die bereit waren, nach einer Rettungsleine von einem jeden zu greifen, der sie in ihre Richtung warf.

»Ich glaube, du hattest von den Umfragen gesprochen, Charlie.«

»Sie sind nicht der einzige, der heute morgen in ihnen vorkommt.«

»Wieder Sam Dodd?«

»Er ist Ihnen mit fünfundfünfzig gegen siebzehn Prozent voraus, wobei zwanzig Prozent unentschieden sind und die anderen möglichen Kandidaten unter ferner liefen einzuordnen sind.«

»Nun, wenigstens bin ich noch immer zweiter«, sagte der Präsident und versuchte, jovial zu klingen. Er legte sich das Handtuch um die Schultern. »Glaubst du, daß ich das bleiben werde?«

»Dodd ist kein Ross Perot. Er wird sich nicht selbst zerstören, und als unabhängiger Kandidat wird er auch nicht so genau überprüft. Abgesehen davon hat er bereits seinen Schrank aufgemacht und seine Skelette gezeigt, und es hat niemanden besonders interessiert. Der Mann kann es sich leisten, geradeheraus zu sein. Die Leute mögen ihn. Mein Gott, ich mag ihn.«

»Vielleicht sollte ich ihm den Posten des Vizepräsidenten anbieten?«

»Das könnte er mit dem gleichen Recht zu Ihnen sagen.«

Der Präsident lehnte sich nach vorn. »Nun, vielleicht sollte ich ihn eine Zeitlang meine Arbeit machen lassen und mal sehen, ob er es besser hinbekommt. Soll er mal versuchen, den Kongreß davon abzuhalten, all die Vorlagen zu torpedieren, die er durchbringen will. Und dann sehen wir uns sechs Monate später seine Zahlen an, während ich bis dahin ausführlich Urlaub mache.«

Byrnes Augen wirkten so leer und reglos wie die Wasseroberfläche im Schwimmbecken.

»Mein Gott, Charlie, tut mir leid.«

»Nein, Sie sind entmutigt. Ich kann Ihnen daraus keinen Vorwurf machen.« Byrne hielt inne. »Ich würde Ihnen einen Vorwurf machen, wenn Sie einfach aufgeben würden.«

»Glaubst du, daß ich das bereits getan habe?«

»Ich bin nicht so sicher.«

»Danke für deine Ehrlichkeit.«

Das Leben kehrte in Charlie Byrnes Augen zurück. »Wir können es noch immer schaffen, Sir.«

»Sicher«, seufzte der Präsident, »indem wir all die Gesetzesvorlagen verwässern, von denen wir wissen, wie wichtig sie für dieses Land sind. Indem wir uns auf einen Kuhhandel mit den Interessen all derer einlassen, denen es völlig egal ist, wohin sich dieses Land entwickelt. Indem wir Pragmatismus und Meinungsumfragen über Prinzipien erheben.«

»Sie können die Dinge nicht über Nacht ändern.«

»Wir haben achtzehn Monate gehabt, und weißt du was? Ich habe nicht das Gefühl, überhaupt etwas getan zu haben. Ich gehe abends ins Bett und versuche herauszubekommen, was ich während des Tages erreicht habe, und gewöhnlich fällt mir überhaupt nichts ein.«

»Ihre Erwartungen sind zu hoch.«

»Und jetzt sind sie zu niedrig. Ich möchte es anders machen, Charlie«, seufzte der Präsident. »Es wird nur immer schwieriger, darauf zu kommen, was anders sein könnte.«

Die Tür, die zum Schwimmbecken führte, ging auf, und FBI-Direktor Ben Samuelson kam herein, begleitet vom diensthabenden Offizier des Geheimdienstes, der sich augenblicklich wieder zurückzog.

»Ich wußte gar nicht, daß wir für heute morgen ein Treffen vereinbart haben, Ben«, sagte der Präsident und erhob sich aus seinem Stuhl.

»Das haben wir nicht. Entschuldigen Sie mein Eindringen, aber ich wußte, daß Sie das lieber direkt von mir hören wollen.«

Der Präsident sah den niedergeschlagenen Ausdruck in Samuelsons Augen, die sonst in einem hellen Nußbraun strahlten. Der FBI-Direktor war ein schmaler, fast dürrer Mann, der unlängst seine Brillengläser gegen Kontaktlinsen ausgetauscht hatte, was Teil einer Umgestaltung war, die auch das Amt betraf. Samuelson war eine der erfolgreichsten Berufungen des Präsidenten, denn unter seiner Amtsführung hatten sich die Moral und die Leistung des FBI erheblich verbessert.

Er holte tief Atem. »Clifton Jardine wurde vor einer Stunde ermordet in seinem Arbeitsraum aufgefunden.«

Der Präsident ließ sich wieder nieder. »Mein Gott, wie?«

»Er wurde erschossen. Nach allem, was wir bisher wissen, zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens.« Der Präsident hörte sich diese Neuigkeit stumm an. Jardine war noch eine der wenigen Federn gewesen, mit denen er sich schmücken konnte. Mit der gewaltigen Aufgabe betraut, die Ziele der CIA in der Zeit nach dem Kalten Krieg neu zu definieren, hatte er wirklich gute Arbeit geleistet.

»Ben, wir reden hier über den Mann in dieser Regierung, der den zweitbesten Schutz genossen hat. Seine eigenen Leute haben ihn rund um die Uhr bewacht, und Sie erzählen mir, daß er in seinem Arbeitszimmer erschossen wurde?«

Samuelson sagte einen Augenblick gar nichts. »Wir befragen die Wachen, die zu dieser Zeit Dienst hatten, Sir.«

»Ich bin sicher, Sie wissen schon etwas.«

»Sie behaupten alle, nichts gesehen zu haben.«

»Was bedeutet …«

»Entweder war der Mörder ein Elitekiller …«

»Oder?«

Diesmal sagte Samuelson überhaupt nichts.

»Jardine hat eine Verabredung getroffen, um mich als erstes heute morgen zu treffen«, fuhr der Präsident sichtlich angespannt fort. »Es wurde letzte Nacht in meinen Terminkalender eingetragen. Das bedeutet, daß er überraschend auf etwas gestoßen sein muß, und kurze Zeit danach ist er tot.« Der Präsident sah Byrne an. »Charlie, stelle bitte fest, wann genau der Anruf eingetragen wurde.« Er wandte sich wieder an Samuelson, während Byrne sich auf den Weg machte. »Ein unübersehbarer Zusammenhang, nicht wahr, Ben?«

»Es könnte noch einen anderen Zusammenhang geben, Sir. Einer von Jardines Männern wurde letzte Nacht im Rock Creek Park ermordet. Ich habe es eben von der örtlichen Polizei erfahren, bevor ich mich auf den Weg nach hier gemacht habe. Offenbar ein Raubüberfall.«

Der Präsident schlug sich das Handtuch über die Schultern. Ihm war plötzlich kalt. Sein Bademantel hing an einem Haken neben der Tür, aber er dachte nicht daran, ihn jetzt zu holen.

»Offenbar«, wiederholte er. »Dieser Agent, der umgebracht wurde …«

»Er hieß Daniels und hat in der Company Karriere gemacht. Ohne jeden bemerkenswerten Hintergrund. Er trug Materialien zusammen und wertete aus, mehr nicht. Ein Bürokrat, kompetent, aber er hat sich in seiner Karriere nie hervorgetan.«

»Mit anderen Worten, nicht gerade der Mann, den Cliff Jardine ins Vertrauen gezogen hätte.«

»Richtig, Sir. Aber es fällt trotzdem schwer, das Zusammentreffen der beiden Ereignisse als zufällig anzusehen.«

Charlie Byrne kam zurück. Die Tür schloß sich hinter ihm mit einem leisen Rattern.

»Jardines Anruf wurde vom diensthabenden Offizier kurz nach zwei Uhr morgens eingetragen«, sagte er, nachdem er das Schwimmbecken erreicht hatte. »Der diensthabende Offizier hat um genau elf Minuten nach zwei zurückgerufen. Ich habe den Offizier jetzt zu Hause erreicht, und er behauptet, daß Jardine sich gehetzt, sogar fassungslos angehört hat. Er bestand darauf, Sie am frühen Morgen zu treffen, doch er verzichtete darauf, Sie wecken zu lassen. Er wollte nicht sagen, worum es bei dem Treffen gehen und warum niemand außer ihm und Ihnen daran teilnehmen sollte.«

Der Präsident sah wieder zu Samuelson. »Um welche Zeit wurde Daniels im Rock Creek Park umgebracht?«

»Es kann zwischen neun Uhr abends und Mitternacht gewesen sein, aber wir warten noch auf die Autopsie, Sir.«

»Weitere Fragen: Hat Daniels an etwas gearbeitet, über das er aus irgendwelchen Gründen direkt an Jardine berichtet hat? Hat es in den letzten Tagen Kontakte zwischen ihnen gegeben?«

»Wir warten auf diese Antworten. Wir werden sie spätestens heute nachmittag haben.«

»Und vielleicht werden sie uns helfen, das herauszufinden, was wir in erster Linie wissen müssen.« Der Präsident hielt inne. Das Chlor hatte seine hellen Augen gerötet. »Nämlich, warum Cliff Jardine mich heute morgen sehen wollte.«

Wie es ihre Gewohnheit war, trafen sich die beiden Männer in der Metro unter dem Herzen von Washington. Es ließ das Gefühl in ihnen entstehen, in der Unterwelt zu leben, nur die Höhe eines Treppenhauses davon entfernt, das in Besitz zu nehmen, was sich über ihnen befand. Diese Symbolik sagte ihnen ausgesprochen zu.

Die Decknamen und Vorsichtsmaßnahmen waren kompliziert, doch nicht allzu lästig. Zwei Stunden nach der Kontaktaufnahme fand in jedem Fall ein Treffen statt. Keine Verkleidungen oder aufwendige Umstände. Nur zwei Männer, die eine alltägliche Fahrt in der U-Bahn der Hauptstadt unternahmen.

Der größere der beiden war erstaunlich groß, von seinem ausladenden Schädel über die grotesk breiten Kiefer bis zu seinem weiten Körperumfang und den Beinen, die wie Baumstämme wirkten. Der zweite war groß und geschmeidig, mit wild herumfliegenden Haaren und einer Hornbrille mit runden Gläsern, die ihn wie einen Akademiker aussehen ließen. Der bullig aussehende Mann hatte um das Treffen gebeten und wartete, als der Akademiker den Wagen betrat. Er setzte sich auf den Sitz neben ihn und schlug seine Zeitung auf.

»Daß wir uns treffen, bedeutet sicher, daß die Dinge sich nicht ganz so entwickelt haben, wie wir geplant hatten«, begann der Akademiker.

Das Gesicht des größeren Mannes blieb ausdruckslos. »Die ganze Gruppe, die wir letzte Nacht losgeschickt haben, wurde getötet.«

Mehr Verärgerung als Überraschung flackerte in den Augen des Akademikers auf. »Durch einen Bürokraten!«

»Nein, nicht Daniels. Jemand anders.«

»Der Mann, mit dem er sich treffen wollte?«

»Alles spricht dafür. Die Gruppe nahm fälschlicherweise an, daß Daniels tot war. Er konnte sich wegschleppen und schaffte es, seinen vereinbarten Treffpunkt zu erreichen.«

»Mit wem wollte er sich treffen?« überlegte der Akademiker. »Ich nehme an, Sie wissen das inzwischen.«

Der große Mann nickte, ohne etwas von seinen Gefühlen zu verraten. »Die Kugeln hatten eine Ummantelung aus echtem Platin. Das ist nicht ungewöhnlich unter Professionellen, aber ein Mann ist ganz besonders dafür bekannt, sie zu benutzen: Blaine McCracken.«

Der Akademiker konnte nicht vermeiden, daß sein sonst emotionsloses Gesicht wie eine Grimasse wirkte. Die Bahn hielt im nächsten Bahnhof. Er wartete auf die vertrauten Signaltöne, mit denen der Zug sich wieder in Bewegung setzte, war froh über die Pause, die ihm Gelegenheit zum Nachdenken bot, und sprach erst dann weiter.

»Konnte der Schaden begrenzt werden?«

»Wir haben es geschafft, die Leichen zu beseitigen und die Gegend zu säubern, damit die lokalen Behörden sich kein klares Bild von der Situation machen können«, berichtete der bullige Mann. »Nichts davon wäre notwendig geworden, wenn wir die Dinge so durchgeführt hätten, wie ich vorgeschlagen hatte«, fügte er hinzu.

»Dann sind wir beide für diesen Fehlschlag verantwortlich, nicht wahr?«

»Zugegeben.«

»Und wir sollten uns um alles weitere kümmern, da wir den Schaden begrenzt haben.«

»Ich stimme zu.«

»Gut«, sagte der Akademiker in versöhnlicher Tonart. »Haben wir Grund zu der Annahme, daß Daniels an McCracken weitergeben konnte, was er wußte?«

»Was im Prinzip sehr wenig war, so gut wie nichts.«

»Für Daniels vielleicht, aber nicht für McCracken. Ein paar Worte, halbe Sätze, vielleicht Andeutungen – das ist alles, was er braucht. Bitte antworten Sie.«

Der bullige Mann nickte zögernd. »Wir müssen zu diesem Zeitpunkt annehmen, daß Daniels Zeit hatte, um Informationen an McCracken weiterzugeben, bevor …«

»… bevor Ihre Einsatzgruppe exekutiert wurde«, ergänzte der Akademiker.

»Sie hatten ihn nicht erwartet.«

»Er wurde auch in Miami nicht erwartet, nicht wahr?«

Jetzt setzte der bullige Mann nach. »Könnte es sein, daß er bereits wußte …«

»Nicht zu diesem Zeitpunkt. Nun, es war wahrscheinlich ein zufälliges Zusammentreffen mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen, wenn McCracken die Dinge in Zusammenhang bringt.«

»Es sei denn, wir finden ihn, bevor ihm dies gelingt.«

Dem Akademiker war seine angespannte Konzentration anzusehen. »Oder wir verwenden die Ergebnisse, die sein Eingreifen unvermeidlich mit sich bringen wird, gegen ihn.«

»Wie das?« wunderte sich der bullige Mann.

Der Akademiker erklärte es ihm.

Für Wasili Konschenko, den russischen Botschafter in den Vereinigten Staaten, war das Essen im Hotel Mayflower ein tägliches Ritual, selbst am Sonnabend. Das Hotel war nur ein paar Ecken von der russischen Botschaft entfernt, und Konschenko genoß den Spaziergang, insbesondere im Frühling. Tatsächlich genoß er alles in Amerika, und das mehr denn je, seit die früheren Gegensätze der Vergangenheit angehörten. Er konnte sich frei in den Straßen bewegen, ohne sich darum kümmern zu müssen, ob er verfolgt oder beobachtet wurde. Seine Bewegungen wurden nicht mehr überwacht, weil es keinen Grund mehr gab, sie zu überwachen. Er hatte ein ausgelassenes Gefühl der Freiheit.

Er bestellte die Putenkeule à la Mayflower, ohne sich die Mühe zu machen, in die Speisekarte zu sehen, und schlug dann die Samstagmorgenausgabe der New York Times auf, die er der Washington Post bei weitem vorzog. Er konnte sich kaum durch den ersten Artikel lesen, als ein Schatten neben ihm auftauchte. Da er annahm, daß der Kellner mit seinem Mineralwasser kam, sah er freundlich hoch.

»Guten Tag, Genosse Konschenko«, begrüßte ihn Sergej Amorow.

Amorow war der letzte Leiter der KGB-Niederlassung in Washington gewesen. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion hatte ihm nichts gelassen, zu dem er zurückkehren konnte. Daher war er in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten geblieben, die auch er zu lieben gelernt hatte. Wenn man von seiner Garderobe ausging, mußte Amorow in seinen Jahren als Leiter der KGB-Niederlassung ein ganz schönes Vermögen angehäuft haben. Heute trug er einen olivgrünen, maßgeschneiderten Anzug von Armani, der ihm vorzüglich paßte. Konschenko hatte ihn noch nie zweimal im gleichen Anzug gesehen.

»Wir haben uns nichts zu sagen, Sergej Iwanowitsch«, fauchte der Botschafter ihn an und sah sich vorsichtig in dem Restaurant um, ob jemand ihr Zusammentreffen bemerkte. Zum Glück war Samstag, und das Restaurant war so gut wie verlassen.

»Oh, ich glaube doch. Ich habe einen Cocktail bestellt. Er wird gleich gebracht.«

»Lassen Sie ihn an einen anderen Tisch bringen.«

Amorow runzelte die Stirn. »Wie soll ich Ihnen einen großen Gefallen tun, den ich Ihnen so gern tun möchte, Genosse?«

»Nennen Sie mich bitte nicht so.«

»Gewohnheit. Entschuldigen Sie bitte.«

Konschenko fühlte sich unbehaglich, als Amorow sich neben ihm niederließ, nachdem er die Jacke seines dreiteiligen Anzugs aufgeknöpft hatte. Wieder suchten seine Blicke die anderen Tische ab. Er tat sein Mißfallen kund, indem er mit seinem Stuhl etwas von dem früheren KGB-Leiter abrückte.

»So sollten Sie doch nicht einen Mann behandeln, der Sie zu einem Helden machen wird, Genosse – entschuldigen Sie bitte – Wasili Feodorow.«

»Oder mich eher zum Ausgestoßenen machen könnte.«

»Sie müssen lernen, nicht so hart zu urteilen.«

Damit zog Amorow eine kleine Jiffytasche hervor und legte sie in Konschenkos Reichweite. Der Botschafter machte keine Anstalten, danach zu greifen.

»Was ist das?« verlangte er zu wissen.

»Noch eine von diesen alten Gewohnheiten, fürchte ich. Nur um die Zeit zu vertreiben, Sie verstehen.«

»Nein, das tue ich nicht.«

»Der größte Coup in meiner ganzen Karriere. Obwohl die Union aufgelöst ist, konnte ich es einfach nicht aufgeben.«

»Was aufgeben?«

Amorow rutschte mit seinem Stuhl näher, und diesmal machte Konschenko keinen weiteren Versuch, sich von ihm zu entfernen. »Ich habe es geschafft, eine Wanze ins Büro des Direktors der Central Intelligence Agency einzuschmuggeln.«

»Was? Wie?« Konschenko hatte Mühe, seine Begeisterung zu unterdrücken. Alte Gewohnheiten weichen nicht so schnell, und das war etwas, was noch vor wenigen Jahren große Aufregung verursacht hätte.

»Das Siegel der CIA hängt hinter seinem Schreibtisch. Als es vor ein paar Jahren zur Überholung herausgegeben wurde, ist es uns gelungen, eine Wanze einzubauen. Die Farbe, die wir verwendet haben, schützt sie davor, aufgespürt zu werden.«

Konschenko schob sich unruhig hin und her. »Kommen Sie zur Sache!«

»Nach meiner … Versetzung habe ich … nun ja, ich habe es übersehen, sie entfernen zu lassen. Ich höre noch immer die Aufnahmen ab, aber nur aus Gewohnheit, schätze ich, und aus Langeweile. Es ist manchmal sehr unterhaltsam.« Amorow schlug gegen den Versandumschlag. »Die Aufnahme vom Donnerstag abend ist eine wunderbares Beispiel.«

»Das ist eine Kassette!«

»Ja, Genosse, das ist es.«

Verwirrung spiegelte sich in den Gesichtszügen des Botschafters, dann Mißtrauen. »Sie haben natürlich davon gehört, daß der CIA-Direktor heute früh ermordet worden ist.«

Amorow schob den Umschlag näher zu ihm hin. »Ich glaube, Sie sollten sich die Aufnahme anhören, Wasili Feodorow, und vielleicht werden Sie dann verstehen, warum.«