Vierundzwanzigstes Kapitel

»Danke, daß ich mitkommen darf, Boß.«

»Ich habe so ein Gefühl, als würde ich dich bei dieser Sache brauchen, Sal.«

McCracken war am Montagnachmittag kurz vor Sal Belamo auf dem Flughafen von Albuquerque eingetroffen. Er hatte seine Reise nur einmal unterbrochen, um sich neue Kleidung zu kaufen, die etwas unauffälliger war als die, die er dem Farmer in Oklahoma von der Wäscheleine gestohlen hatte. Belamo war mit einem einfachen Hemd und einem zerknitterten Leinenanzug bekleidet. Die Ausrüstung, die er für sie beide mitgebracht hatte, befand sich schon auf dem Weg zum Gepäckband.

Belamo war nicht viel größer als einsfünfundsechzig, und nachdem Carlos Monzon seine Karriere in ihrem zweiten Kampf beendet hatte, bestand sein Körper nicht mehr hauptsächlich aus Muskeln; er hatte eine ganz schöne Menge Fett angesetzt. Der Kontrast zu McCrackens v-förmiger, muskelbepackter Gestalt und Johnny Wareagles riesigem Leib täuschte darüber hinweg, daß Belamo unter Druck genausogut arbeiten konnte wie diese beiden, wenn auch auf seine ureigene Art.

»Wenn du mir jetzt erzählen willst, was hier gespielt wird, Boß, bin ich ganz Ohr.«

McCracken erklärte ihm während ihrer Fahrt auf der Route 27 in südlicher Richtung zur White-Sands-Wüste und der Sandburg Eins alles, so gut er es vermochte. Nicht Arlo Cleese und die Midnight Riders wollten die Regierung stürzen. Die wahren Täter, die aus den Überresten von Bill Carlisle geheimnisvoller Trilateraler Kommission bestanden, wollten dies das Land nur glauben machen.

Belamo akzeptierte die Geschichte mit einer Mischung aus Achselzucken und Nicken. Doch als Blaine geendet hatte, hatte sein Gesicht sich verzogen und brachte Mißfallen und Abscheu zum Ausdruck.

»Und diese Inhaftierungslager …«

»Sind wie dazu geschaffen, all jene unterzubringen, die sich ihren Plänen widersetzen«, schloß Blaine den Satz ab.

»Und das werden nicht gerade wenige sein, Boß. Das Land ist groß.«

Kristens Zelle war klein und fensterlos; das einzige Licht, das zwischen ihr und der völligen Dunkelheit stand, fiel durch eine schmale Dachluke. Sie lag auf einer harten Pritsche, die direkt gegenüber der stabilen Tür stand. Da man ihr die Armbanduhr abgenommen hatte, konnte sie kaum noch zwischen Tag und Nacht unterscheiden. Ihre Gedanken schweiften ab, obwohl sie sich bemühte, sich zu konzentrieren und zu rekapitulieren, was in dem verschwommenen Zeitraum seit ihrer Gefangenschaft geschehen war.

Ihre letzte deutliche Erinnerung bestand darin, von dem menschlichen Ungetüm, das das Haar ihres Bruders trug, aus dem Wagen gezerrt worden zu sein, in dem die tote Samantha Jordan lag. Sie schrie noch immer, als ein anderer Mann ihr eine Spritze in den Arm stieß.

Dann Dunkelheit.

Schließlich kehrte das Bewußtsein periodisch zurück, doch sie wußte nicht, ob eine Stunde oder ein Tag vergangen war. Sie erinnerte sich daran, in den Fesseln eines Sicherheitsgurts aufgewacht zu sein. Ihre Ohren schmerzten. Ein knirschendes, wirbelndes Geräusch füllte sie.

Ein Hubschrauber! Sie wurde mit einem Hubschrauber irgendwohin gebracht!

»Sie kommt zu sich«, sagte eine Stimme.

Dann senkte sich wieder Dunkelheit.

Kristens nächste deutliche Erinnerung bestand darin, in einem winzigen Zimmer aufgewacht zu sein, während ein Mann ihr mit monotoner Stimme Fragen stellte.

»Haben Sie mit ihrem Bruder unmittelbar vor dem Abend gesprochen, an dem er die Nachricht hinterließ?«

»Nein.«

Warum antwortete sie? Das runde, schwabbelige Gesicht ihres Häschers schwebte über ihr und wurde vom Licht der einzigen Glühbirne in dem kleinen Raum erhellt. Schon bei der geringsten Bewegung entfernte sein Gesicht sich von der Birne und wurde dann nur noch von einem schwachen, tanzenden Flimmern erhellt. Als ihr Blick klarer wurde, machte Kirsten eine zweite Gestalt in dem Raum aus, hinten an der Tür, in Dunkelheit gehüllt.

»Hat er Ihnen irgendwann gesagt, was er in Colorado herausgefunden hat?«

»Nein.« Sie konnte nicht anders, sie mußte einfach antworten.

»Hat er Ihnen gesagt, was er in der Air-Force-Basis Miravo gesehen hat?«

»Nein.«

»Haben Sie überhaupt gewußt, daß er in Colorado war?«

»Erst, als ich herausfand, von wo aus der Anruf gekommen war.«

»Mit Hilfe des FBI-Agenten Paul Gathers.«

»Ja.«

»Haben Sie die Information an irgend jemanden weitergegeben, bevor Sie nach Colorado geflogen sind?«

»Nein.«

»Und nach Ihrer Ankunft in Colorado?«

»Farlowe. Der Sheriff von Grand Mesa.«

»Sie haben ihm alles erzählt?«

»Alles.«

»Hat er die Informationen Ihres Wissens an jemanden weitergegeben?«

»Nein.«

»An wen haben Sie nach Ihrer Rückkehr nach Washington die Information weitergegeben?«

»An Senatorin Jordan.«

»Sonst an niemanden?«

»Colonel Haynes im Pentagon.«

»Und außer Colonel Haynes?«

»Nein. An niemanden. Nur an die Senatorin.«

Als Kristen dies sagte, blitzte das Bild von Samantha Jordans toten Augen, die sie im Wagen anstarrten, durch ihren Kopf. Sie erschauderte.

»Sie kann nicht mehr viel verkraften.« Ihr Inquisitor hatte sich zu der Gestalt an der Tür umgedreht, die sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.

»Sie wird so viel verkraften, wie nötig ist. Ich habe meine Befehle.«

Dann drehte sich das schwabbelige Gesicht des Fragestellers wieder zu Kristen um. »Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen, nachdem Sie mit der Senatorin nach Colorado gekommen sind?«

»Nein.«

Kristen merkte, daß sie einschlief. Sie konnte sich einfach nicht mehr konzentrieren.

»Die Situation ist unter Kontrolle«, hörte sie ihren Inquisitor zu der Gestalt an der Tür sagen. »Ich werde ihr ein leichtes Beruhigungsmittel geben lassen. Mehr braucht sie nicht. Wir werden sie bis zur nächsten Sitzung in einer Zelle unterbringen.«

»Gut. Gehen wir.«

Die Tür des kleinen Zimmers wurde geöffnet. Licht aus dem Korridor fiel hinein und auf den Mann, der zuvor in der Dunkelheit gestanden hatte.

Ein großer, riesiger Mann. Er schien die Türöffnung auszufüllen. Er trat vor dem Fragesteller hinaus, und das Licht fiel auf sein Gesicht, sein Haar.

O mein Gott  …

Kristen erkannte das Gesicht, erinnerte sich von dem Augenblick ihrer Gefangenschaft auf dieser Straße daran. Es war eckig und vierschrötig, flach wie eine gepflasterte Straße und wurde noch immer vom Haar ihres Bruders umrahmt.

Kristen wollte schreien.

Die Tür wurde geschlossen. Etwas schepperte. Schritte hallten.

Kristen wollte sich zwingen, die Augen offenzuhalten, wach zu bleiben. Aber ihre Lider waren schwer wie Blei und fielen trotz all ihrer guten Vorsätze zu.

Seitdem war Kristen sporadisch erwacht, und jedesmal, wenn sie wieder zu Bewußtsein kam, blieb sie länger wach und beherrschte ihre Sinne besser. Sie war mittlerweile imstande, die Augen für eine Zeitspanne aufzuhalten, die sie für eine Stunde hielt, und um ihre Konzentration zu kämpfen.

Setze es zusammen! Was steckt dahinter?

Kristen erinnerte sich lebhaft an den eindrucksvollen Anblick der grünen Container, von denen jeder einzelne einen Atomsprengkopf enthielt. Sie standen aufgereiht in dem umgebauten Hangar der Air-Force-Basis Miravo. Zweifellos hatten sich schon zuvor Hunderte davon dort befunden, und zweifellos würden Hunderte weitere folgen.

Kristen frostete erneut. Colonel Riddick war nur allzu bereitwillig gewesen, ihnen den Inhalt dieses Hangars zu zeigen. Aber sie hatte auf dem Gebiet der Basis nicht den geringsten Beweis gesehen, der davon kündete, daß die Atomsprengköpfe tatsächlich auseinandergenommen wurden. Jemand, der ein solches Arsenal besaß, würde einen unglaublichen Machtfaktor darstellen. Was, wenn David beobachtete hatte, daß einige dieser Container per Lastwagen oder Flugzeug von der Basis gebracht worden waren? Sein Tod war notwendig geworden, sollte das schreckliche Geheimnis, das er in Erfahrung gebracht hatte, gewahrt bleiben.

War es möglich, daß Atomwaffen gestohlen und an jeden verkauft wurden, der den verlangten Preis zahlen konnte? Die Zünder und die Kodes, die man benötigte, um die Sprengköpfe zu aktivieren, konnten von Colonel Riddick geliefert werden. Sie wußte, daß Riddick gelogen hatte, was den Status der Basis an jenem Samstag betraf, an dem sie und Duncan Farlowe in den benachbarten Hügeln fast umgekommen waren. Und das bedeutete, daß er auch in jeder anderen Hinsicht gelogen haben konnte.

Aber es ging um viel mehr als lediglich eine Schwarzmarkt-Operation, bei der Riddick mitmischte, um etwas viel Entsetzlicheres als lediglich das Verschachern von Atomraketen. Das bewies Samantha Jordans Beteiligung an der Sache.

»Gib mir die Chance, es dir zu erklären. Ich kann dich noch immer an Bord holen. Ich kann sie überzeugen, dich mitmachen zu lassen.«

Diese Worte zählten zu den letzten, die die Senatorin gesprochen hatte. Was wollte sie erklären? Wen wollte sie überzeugen? Worin auch immer die Jordan verwickelt gewesen war, es mußte um mehr gehen als nur die Absicht, die gestohlenen Sprengköpfe zu Geld zu machen. Hier ging es nicht nur um harte Dollars. Hier ging es um Macht.

Kristen schlang die Arme enger um ihren Körper und richtete sich auf, lehnte den Rücken gegen die Betonwand. Ihre Gedanken blieben träge, und mußte sie festhalten, bevor sie ihr wieder entglitten.

Hier war eine Verschwörung im Gange, die sich bis in die höchsten Ebenen der Macht erstreckten, sogar bis ins FBI. Paul Gathers mußte die Verbindung zwischen Grand Mesa und der Air-Force-Basis Miravo gezogen haben. Als er Nachforschungen anstellte, wurde er zum Schweigen gebracht. Dann sie und Duncan Farlowe …

Duncan Farlowe! Sie hatte während des Verhörs seinen Namen genannt. Das bedeutete, daß der alte Sheriff in höchster Gefahr schwebte. Die Vorstellung, Farlowe nicht warnen zu können und damit für das, was ihm vielleicht zustoßen würde, verantwortlich zu sein, bewirkte, daß Kristen sich noch hilfloser vorkam.

Sie konzentrierte sich auf ein anderes Thema und dachte darüber nach, was sie wußte. Sie wurde in irgendeinem ultramodernen Hochsicherheitsgefängnis gefangengehalten. Man hatte sie nur am Leben gelassen, weil man herausfinden wollte, was sie wußte und wem sie es eventuell mitgeteilt hatte. Sobald man ihre Geschichte überprüft und vielleicht noch ein zweites Verhör durchgeführt hatte, hatte sie für ihre Häscher nicht mehr den geringsten Nutzen.

Und der Mann, der das Haar ihres Bruders trug, würde sie umbringen.

Johnny Wareagle saß vor dem dampfenden Kaffee, der seinen Magen übersäuerte. Er trank sonst nie Kaffee, trank nichts anderes als die Tees, die er selbst mischte und braute. Aber er wollte in der einzigen Imbißstube in Carrizozo, New Mexico, so normal wie möglich erscheinen. Er wollte, daß die Kellnerin ihn akzeptierte, damit er sie leichter ausfragen konnte.

»Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Schätzchen?« fragte die Frau. In der Hand hielt sie eine frische Kanne mit der schwarzen Säure.

»Nein, danke.«

»Ein Mann von Ihrer Größe sollte wirklich mehr essen. Wie wär's? Eier mit Speck? Vielleicht ein paar Pfannkuchen? Hören Sie, ich mache sie Ihnen sogar selbst.«

»Wirklich nicht. Tut mir leid.«

Die Imbißstube und Carrizozo befanden sich praktisch am Anfang der White Sands, der sich schier endlos ausdehnenden Einöde, die man von jedem Fenster aus sehen konnte. Nachdem er Tyson Gash und die Polizei-Brigade verlassen hatte, war er direkt hierher gefahren, in der Hoffnung, daß hier jemand wußte, was es in der Wüste geben konnte, das Traggeo in diese Gegend geführt hatte. Bislang hatte sich seine Hoffnung noch nicht erfüllt.

»Sind Sie auf dem Weg zum Reservat?« Die Kellnerin schien in redseliger Stimmung zu sein.

»Verzeihung?«

»Ein paar hundert Kilometer westlich von hier gibt es einige davon. Jede Menge Leute wie Sie, Indianer, meine ich, machen auf dem Weg dorthin Halt.« Sie kicherte. »Ihnen bleibt ja auch keine andere Wahl. Wir sind das letzte Restaurant vor der Wüste.«

»Wer sonst kehrt hier ein?«

»Stammgäste, meinen Sie?«

»Falls es welche gibt.«

»Kaum welche. Meistens Touristen und die üblichen Lastwagenfahrer, die auf dem Weg nach Mexiko sind oder von dort kommen. Früher ging das Geschäft besser. Vor kurzem sogar noch. Als die Bauarbeiter hier in der Gegend waren, hatten wir tatsächlich wieder rund um die Uhr geöffnet.«

»Bauarbeiter«, wiederholte Johnny. Plötzlich prickelte seine Haut.

»Klar doch. Müssen Trupps von je hundert Mann gewesen sein, und soweit ich weiß, haben sie in drei Schichten gearbeitet.«

»Was haben sie denn gebaut?«

Die Kellnerin beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. Die Kaffeekanne in ihrer Hand hatte sie vergessen. »Es hieß, es wäre eine neue Armee-Basis, aber in Wirklichkeit hat die Regierung eine neue Anlage gebraucht, in der sie all die Außerirdischen unterbringen kann, die sie seit Jahrzehnten festhält.«

»Haben Sie diese Basis je gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nie, und ich kenne keinen, der sie je gesehen hat, abgesehen von den Arbeitern natürlich. Aber ich werde sie auch nie sehen, da sie sie nicht fertiggebaut haben. Ihnen ist das Geld ausgegangen, oder die Außerirdischen sind gestorben.«

»Ich kenne diese Gegend«, log Johnny, »aber mir ist so eine Anlage nie aufgefallen.«

»Das ist es ja gerade«, sagte die Kellnerin spöttisch. »Kapieren Sie denn nicht? Die Regierung macht nicht unbedingt Werbung für 'ne Anlage, in der sie Außerirdische unterbringen will. Sie haben sie ausgerechnet an der Straße nach Alamogordo gebaut, und man kann sie nur über unbeschilderte und verborgene Nebenwege erreichen. Sie würden sie noch nicht mal bemerken, wenn Sie sich verirren und zufällig in die Nähe kommen sollten, denn sie hat dieselbe Farbe wie der Sand. Es heißt, mit dem Anbruch der Dunkelheit würde sie einfach verschwinden.«

»Können Sie mir zeigen, wo sie ist?« fragte Johnny sie.

»Haben Sie 'ne Landkarte?«

McCracken und Sal Belamo sahen die Scheinwerfer, die sich ihnen näherten, erstmals, als sie zwanzig Kilometer auf einer einsamen Straße zurückgelegt hatten, die tief ins Herz der White Sands führte. Belamo hatte eine Strecke zur Sandburg Eins ausgearbeitet, die sie auf der Route 54 aus Carrizozo und dann bei Tularosa in westliche Richtung in die Wüste führte.

Dieser Begriff war für White Sands nicht ganz zutreffend; genaugenommen handelte es sich nicht einmal um eine Einöde. In der Nähe von atemberaubenden Felsformationen gediehen durchaus Pflanzen. Das Land neigte und hob sich wieder und widerlegte die verbreitete Annahme, White Sands wäre ein lebloser Landstrich. Beifuß und Steppenläufer wurden vom Wind hin und her geweht.

»Wir haben Gesellschaft«, sagte Sal, als das Licht der Scheinwerfer genau auf sie fiel.

McCracken machte einen Jeep aus, der vor ihnen quer auf der schmalen Straße stand, und trat auf die Bremse. Die beiden Insassen hielten sich genau an die Vorschriften: Der eine näherte sich im gleißenden Lichtschein eines Scheinwerfers, während der andere beim Fahrzeug blieb. Beide trugen Uniformen der Army.

»Nur zwei«, bestätigte Belamo und legte eine .44er Magnum, die genauso lang zu sein schien wie seine kurzen Arme, auf seinen Schoß.

Auch McCracken hielt eine Waffe in der Hand, eine SIG-Sauer, die Belamo ihm mitgebracht hatte. Der Soldat trat ans offene Fenster, und Blaine bedachte ihn mit der besten Unschuldsmiene, die er zustande brachte. »Wir haben uns verfahren«, sagte er.

Der Soldat senkte seine M16 nicht, zielte aber auch nicht auf sie. »Sie befinden sich auf einem Regierungsgelände, zu dem der Zutritt verboten ist. Ich muß Sie bitten, das Gelände sofort wieder zu verlassen …«

»Erklären Sie mir nur, wie ich auf die Route 70 zurückkomme«, sagte Blaine und hob die Hand mit der nicht ausgefalteten Landkarte zum Fenster, um dem Soldaten die Sicht zu nehmen.

»… ansonsten müßten wir Ihren Wagen beschlagnahmen und Sie verhaften.« Um seinen Befehl zu betonen, stieß der Soldat den Lauf der M16 gegen die Karte. Blaine packte die Waffe und zerrte den Mann zu sich heran. Bevor der Soldat reagieren konnte, durchbohrte Blaines SIG eine Falte der Karte und grub sich in dessen Rippen.

»Nehmen Sie den Finger vom Abzug.«

Der Soldat zögerte, obwohl der Lauf des Gewehrs auf den Rücksitz des Wagens gerichtet war. Er warf einen schnellen Blick auf seinen Partner im Jeep und überlegte anscheinend, ob er eine Salve abfeuern sollte, um ihn zu warnen.

»Wenn Sie schießen, sind Sie beide tot«, sagte McCracken und deutete mit dem Kopf auf Sal Belamo, der seine .44er Magnum auf dem Armaturenbrett abgestützt hatte und auf den Soldaten richtete, der neben dem Jeep stand.

»Tun Sie, was ich sage, und Ihnen wird nichts geschehen«, fuhr Blaine fort.

Der Soldat nahm die Hand vom Abzug.

»Und jetzt rufen Sie Ihren Freund herbei. Sagen Sie, er soll sich beeilen.«

Die Kellnerin in der Imbißstube in Carrizozo hatte Wareagle gesagt, der Gebäudekomplex in der Wüste würde des Nachts verschwinden. Dementsprechend hatte Johnny bis zum Anbruch der Dunkelheit gewartet, um sich ihm zu nähern, und war dann der Wegbeschreibung gefolgt, die sie ihm gegeben hatte. Er ging von der Annahme aus, daß Traggeo Teil einer ungesetzlichen Verschwörung war, deren Hintermänner große Anstrengungen unternahmen, nicht entdeckt zu werden, einer Verschwörung, für die der Mörder auch den Mann namens Badger von Tyson Gashs Polizei-Brigade hatte gewinnen wollen. Also hatte man bestimmt Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um die Anlage zu schützen, von der fälschlicherweise angenommen wurde, ihre Errichtung wäre niemals abgeschlossen worden.

Nach Anbruch der Dämmerung hatte Johnny den Pritschenwagen, den er gemietet hatte, fünf Kilometer von der Stelle in den White Sands, die die Kellnerin auf seiner Karte markiert hatte, am Straßenrand abgestellt. Er ließ die Motorhaube geöffnet und band ein weißes Taschentuch an die Antenne, um etwaigen Polizeistreifen einen Motorschaden zu signalisieren. Er achtete auch darauf, eine deutliche Spur zu hinterlassen, die in die entgegengesetzte Richtung seines eigentlichen Ziels führte, so daß niemand Grund zu der Annahme haben konnte, er wolle sich dem Komplex nähern.

Nach einer Weile machte er kehrt, verließ die Straße und drang tiefer in die White Sands ein. Aufgrund der Dunkelheit und der Beifußbüsche, die ihm gemeinsam wie ein Schleier die Sicht nahmen, hätte Johnny die Anlage tatsächlich fast übersehen. Nur der hohe Stahlzaun, der sie umgab, machte ihn auf sie aufmerksam. Als er aus kaum vierhundert Metern Entfernung durch den Zaun sah, konnte er die Form der riesigen Gebäude dahinter kaum ausmachen.

Der Komplex war nicht nur in derselben Farbe gestrichen, die auch die umgebende Wüste aufwies, die Außenwände schienen überdies dieselbe grobe Struktur wie der Sand zu haben. Die körnigen Oberflächen stellten sicher, daß sowohl das Licht als auch die Dunkelheit auf genau dieselbe Art und Weise auf das Gebäude fiel wie auf das sie umgebende Land.

Die Anlage erweckte den Eindruck … nun ja … einer massiven Sandburg, die man aus der Wüste selbst gemeißelt hatte.

Von seinem Standpunkt aus konnte Johnny lediglich ein vierstöckiges Gebäude ausmachen, das sich fast zweihundert Meter von Osten nach Westen erstreckte und ihn mit seinen immer kleiner werdenden Ebenen an eine Pyramide erinnerte. An beiden Enden schienen sich vergleichbare Flügel in südliche Richtung auszudehnen. Das bedeutete, daß der Komplex entweder u-förmig oder viereckig war; im letzten Fall würden die Mauern einen Hof umschließen. Da Johnny kein Fernglas mitgenommen hatte, konnte er es allerdings nicht genau sagen. Trotzdem erweckte der Grundriß in ihm die Frage, ob es sich tatsächlich um das Ausbildungslager handelte, das er erwartet hatte.

Statt dessen sah es eher wie ein Gefängnis aus.

War Traggeo einfach von einer Zelle in eine andere verlegt worden? Nein. Kein einziger Scheinwerfer sicherte das weitläufige Gelände. Zwei Wachtürme waren unbesetzt. Ein paar uniformierte Bewaffnete gingen am Zaun Streife, doch das war alles. Abgesehen von einem Jeep, der die Anlage verließ, nachdem Johnny sie eine Stunde lang beobachtet hatte, deutete nichts darauf hin, daß sie überhaupt in Betrieb war.

Was immer hier stattgefunden hatte, schien längst beendet worden zu sein. Andererseits konnte es sich auch um ein Gebäude handeln, das noch darauf wartete, benutzt zu werden, um einen derzeit leerstehenden Komplex, dem eine zukünftige Rolle zugedacht war. So oder so, die – wenn auch spärlichen – Sicherheitsvorkehrungen mußten den Zweck haben, die Geheimnisse des Gebäudes zu bewahren, zu denen, wie Johnny hoffte, auch Traggeos derzeitiger Verbleib gehörte.

Johnny hatte seine Aufmerksamkeit auf das Problem gerichtet, wie er sich am besten Zutritt zu dem Komplex verschaffen konnte, als in der Richtung, in die vor wenigen Minuten der Jeep gefahren war, eine Explosion erklang. Er konnte dort in der Ferne einen gelben Feuerschein ausmachen. Plötzlich erwachte der Komplex zum Leben. Eine durchdringende Sirene heulte auf, und unter einer plötzlichen Lichtflut strömte Personal in alle Richtungen. Zwei weitere Jeeps brausten aus dem Tor der Anlage, gefolgt von einem Lastwagen, auf dem Soldaten saßen. Beide Jeeps waren mit je einem Maschinengewehr vom Kaliber .50 ausgestattet.

Das grelle Licht ermöglichte Johnny den ersten deutlichen Blick auf den Komplex. Blitzschnell überlegte er, wie er das Gebäude am besten erreichen konnte, suchte mit den Blicken das Gebäude ab, hielt nach potentiellen Hindernissen, aber auch natürlichen Deckungsmöglichkeiten auf dem Weg zum Zaun Ausschau.

Johnny ergriff die günstige Gelegenheit, die die Ablenkung ihm bot, und setzte sich in Bewegung.

»Absolut pünktlich«, sagte Sal Belamo, der mit dem Fernglas die Explosion im Auge hielt, während Blaine den Konvoi beobachtete, der Sandburg Eins verlassen hatte und auf den brennenden Jeep zuhielt.

Sal hatte eine Sprengladung an dem Fahrzeug angebracht, um zu gewährleisten, daß der Lichtschein in der dunklen Wüste auch deutlich sichtbar war. Sowohl er als auch McCracken hatten schon vor langer Zeit gelernt, daß man sich am besten unbemerkt Zutritt zu einer gesicherten Basis verschaffen konnte, indem man eine Ablenkung schuf, die das Sicherheitspersonal hinauslockte. Wie sich herausstellte, lag Sandburg Eins keine drei Kilometer von der Stelle entfernt, an der der Jeep sie aufgehalten hatte. Nachdem sie die beiden Wachen in sicherer Entfernung von der bevorstehenden Explosion gefesselt hatten, legten sie den größten Teil dieser Strecke mit ihrem Fahrzeug zurück, dessen Scheinwerfer sie ausgeschaltet hatten, und liefen das letzte Stück. Knapp zwei Minuten bevor der Zeitzünder die Explosion herbeiführen würde, bezogen sie Position hinter der Deckung einer Felsenformation vierhundert Meter von der Sandburg Eins. Die Nacht lag undurchdringlich über ihnen, bis die Explosion das erwartete Durcheinander von Männern und Fahrzeugen brachte, die im Licht der Scheinwerfer das Tor verließen. Das letzte Fahrzeug war kaum außer Sicht, als McCracken das Fernglas senkte und nach seinem Rucksack griff.

»Gehen wir«, sagte er zu Belamo.