Siebzehntes Kapitel

»Riddick lügt«, sagte Kristen, nachdem der Colonel sie zu ihrem Wagen zurückgebracht hatte und sie hinter das Steuer gerutscht war. »Gestern war hier keine Menschenseele, Sam.«

»Und das bedeutet …«

»Daß sie schnell ein paar Leute herbeordert haben, nachdem sie herausgefunden haben, daß wir kommen!«

»Sie?«

»Ja.«

»Wer?«

»Das weiß ich nicht!«

Die Senatorin berührte sanft Kristens Arm. »Gestern hätte eine dieser Ruhepausen herrschen können, die Riddick erwähnt hat.«

»Riddick hat auch von einem Stammkader und Sicherheit rund um die Uhr gesprochen. Aber es war überhaupt niemand hier.«

»Weil du niemanden gesehen hast.«

»Genau.«

»Aber in der Nähe der Hangars bist du nicht gewesen?«

»Nein.«

»Und abgesehen von deren Inhalt sieht diese Basis doch ganz normal aus. Richtig?«

»Ja.«

Die Senatorin atmete tief ein. »Dann waren die Wachen vielleicht doch da, Kris.«

Kristen warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Du hast doch gesagt, man hätte dir und diesem Sheriff eine Warnung zugerufen.«

»Man hat auf uns geschossen, uns fast getötet.«

»Nachdem ihr in die Basis eingebrochen seid.«

»Nun ja …«

»Ja oder nein?«

»Ja.«

»Ist es vorstellbar, Kris, ist es irgendwie denkbar, daß es sich bei den Leuten, die auf euch geschossen haben, um Wachen handelte?«

Anstatt diese Möglichkeit vehement auszuschließen, wie sie es vorgehabt hatte, hielt Kristen inne und dachte nach. Die Senatorin wollte wahrscheinlich auf etwas hinaus, das sie nicht in Betracht gezogen hatte.

»Sie haben ohne Warnung auf uns geschossen, Sam.«

»Du hast gesagt, der Wind habe aufgefrischt. Vielleicht hast du sie nicht gehört. Vielleicht waren diese ersten Schüsse Warnschüsse. Hör zu, Kris, ich will nur sichergehen.«

»Sie trugen keine Uniformen und patrouillierten auch nicht um die Basis, als wir uns ihr näherten.«

»Ich behaupte ja nicht, daß du die alleinige Schuld für das Geschehen trägst. Ich will nur herausfinden, wer in welchem Grad eine gewisse Mitschuld trägt. Es hat eine Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen gegeben, einen gewaltigen Patzer. Und vielleicht bist du mitten hinein geraten. Und jetzt versucht jemand, seinen Arsch zu retten. Vielleicht Riddick. Vielleicht ein viel höheres Tier, als Riddick es jemals sein wird.«

Kristen schluckte heftig. Ihr Hals fühlte sich rauh an. Sie wollte schon einlenken, doch dann mußte sie wieder an Davids Schicksal denken. »Nein, Sam, es ist mehr als das. Es ist mehr als das, und mein Bruder hat es gesehen. Er hat es gefilmt.«

»Wenn wir doch nur die Kassette hätten …«

»Sie müssen sie ihm abgenommen haben, als sie ihn umbrachten. Und als Duncan Farlowe und ich gestern dort herumgeschnüffelt haben, wollten sie uns auch umbringen.«

»Kris …«

»Nein, Frau Senator, laß mich aussprechen. Hier stimmt etwas nicht. Ich gestehe ein, Riddick war sehr überzeugend, aber er kann zu vieles einfach nicht erklären. Da gibt es eine Basis, von der niemand weiß, einschließlich des Ausschusses, der die Geldmittel für ihre Wiedereröffnung bewilligt hat. Vielleicht kennen sie die Prozeduren aus dem Effeff, aber irgend etwas ist schiefgegangen. Mein Gott, kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn einer dieser Sprengköpfe in die falschen Hände fällt?«

»Und du glaubst, genau das ist passiert?«

Kristen verzog gequält das Gesicht. »Ich weiß es nicht, aber mein Bruder hat es geglaubt. Und deshalb mußte er sterben.«

Riddick tätigte den Anruf über seine abhörsichere Privatleitung, kaum daß er in sein Büro zurückgekehrt war. Er ließ es zweimal klingeln, legte den Hörer wieder auf und wartete. Keine Minute später klingelte sein Telefon.

»Delphi«, verkündete eine Stimme.

Und Riddick erstattete Bericht.

Der Mann am anderen Ende der Leitung legte auf, nachdem Colonel Riddick geendet hatte. Er schloß die untere rechte Schublade seines Schreibtisches auf und öffnete sie; darin befand sich ein eingebautes Telefon. Der Mann hob den Hörer ab und tippte eine lange Ziffernfolge ein. Ein Piepton erklang, und er drückte eine weitere Ziffer. Dann zwei Pieptöne, gefolgt von einer letzten Ziffernfolge.

Die Sekunden verstrichen und dehnten sich fast zu einer Minute aus, bevor ein Klicken ertönte.

»System aktiviert«, dröhnte eine computergenerierte Stimme.

»Delphi«, sagte der Mann.

»Bezeichnung?«

»Ein-vier-null-zwo-neun. Mamas kleiner Liebling.«

Eine kurze Pause.

»Stimmerkennung positiv. Zutritt gestattet. Bitte warten Sie die Signaltöne ab und sprechen Sie dann Ihre Nachricht. Drücken Sie die Taste mit dem Sternchen, um die Nachricht zu beenden und abzuschicken.«

Der Mann wartete, bis insgesamt drei Pieptöne erklungen waren, und fuhr dann fort: »Telefonkonferenz heute abend um zweiundzwanzig Uhr Washingtoner Zeit. Anwesenheit aller Mitglieder unbedingt erforderlich. Angelegenheit hat höchste Priorität.«

Der Mann drückte auf die Taste mit dem Sternchen.

»Nachricht abgeschickt«, sagte die synthetische Stimme.

»Du hörst mir nicht zu, Sam«, wiederholte Kristen, nachdem sie zehn Minuten unterwegs waren.

»Halt an«, befahl die Senatorin. »Halt da drüben auf dem Schotterplatz an.«

Kristen bremste. Als der Wagen stand, schaltete sie den Motor aus.

»Du hörst nicht zu, Kris. Aber du wirst jetzt damit anfangen. Ich werde dieser seltsamen Angelegenheit auf den Grund gehen, aber du mußt mir Zeit lassen.«

»Meinem Bruder hat auch niemand Zeit gelassen, Sam.«

»Das ist nicht fair!«

»Nein, ist es nicht. Aber es ist auch nicht fair, daß er sterben mußte, weil er etwas gesehen hat, das er auf dieser Basis nicht sehen sollte.«

»Wir wissen nicht, was er gesehen hat, und wir können nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, daß das, was ihm zugestoßen ist, irgend etwas mit Miravo zu tun hat.«

»Er war dort!«

»Das bezweifle ich ja nicht. Aber wir wissen nicht, ob er wirklich unmittelbar vor seinem Tod dort war. Vielleicht hatte es mit einer ganz anderen Sache zu tun. Wahrscheinlich sogar.«

»Nein!«

»Kris, sei vernünftig. Bitte.« Samantha Jordan seufzte ungeduldig. »Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin mit dir hierhergefahren. Ich habe das ganze Pentagon gegen mich aufgebracht und meine Position im Senat kompromittiert. Ich habe mich bloßgestellt und werde nicht locker lassen, bis wir die Wahrheit kennen. Aber du darfst nicht durchdrehen und mußt mich gewähren lassen.« Die Jordan hielt inne und fuhr dann wesentlich leiser fort. »Hör zu, Kris, ich weiß, wie du dich fühlst.«

»Nein, das weißt du nicht!« Ihr Mund zitterte. »David war alles, was ich hatte, Sam, alles, was mir noch geblieben ist.«

Die Senatorin streckte die Hand aus und streichelte liebevoll Kristens Haar. »Du hast mich«, sagte sie sanft.

Kristen versteifte sich, griff nach der Hand der älteren Frau und schob sie von ihrem Kopf zurück. »Ich habe von meinem Bruder gesprochen, von meiner Familie.«

»Du bist das Beste, das mir je zugestoßen ist, Kris. Was ich für dich getan habe – du weißt gar nicht, was ich für dich getan habe.«

Etwas im Tonfall der Jordan störte Kris, und sie wandte sich zum Fenster ab.

»Sag mir, daß du es auf sich beruhen lassen kannst, Kris. Sag mir, daß du dich nicht in diese Sache verrennst.«

»Du weißt, daß ich dir das nicht sagen kann, Sam. Du weißt es.«

Der flehende Blick der Senatorin füllte sich mit Trauer und Resignation. »Ich wünschte, du hättet dich zuerst an mich gewandt. Nicht an Gathers, nicht hierher. Dann hätte es noch Hoffnung gegeben. Eine Chance.«

»Wovon sprichst du, Sam?«

»Ich habe ihnen gesagt, ich würde es auf meine Weise erledigen. Ich habe ihnen gesagt, du wärest mir zu wichtig.«

»Wem hast du das gesagt? Sam, was wird hier gespielt?«

»Es tut mir so leid, Kris. Mein Gott, es tut mir so leid.«

»Was tut dir leid, Sam?« erwiderte Kristen.

»Das hier«, sagte die Jordan mit bebenden Lippen.

Kristen schaute hinab und sah eine kleine, stahlblaue halbautomatische Pistole in ihrer Hand.

Die Pistole zitterte leicht.

»Es hätte nicht so kommen müssen, Kris.«

»Sam, was soll das? Sam!«

»Aber du bist einfach nicht bereit, dich überzeugen zu lassen. Ich hatte gehofft, nach dem heutigen Tag würde … würde …«

Kristen spürte, wie ihr Schock von einem allesumfassenden Zorn verdrängt wurde. »Du gehörst dazu! Du bist Teil dieser … dieser Verschwörung, wegen der mein Bruder sterben mußte!«

»Du gehörst auch dazu, Kris, denn du glaubst daran. Ich weiß es. Gib mir die Chance, es dir zu erklären. Ich kann dich noch immer an Bord holen. Ich kann sie überzeugen, dich mitmachen zu lassen.«

»Wen überzeugen?«

Die Pistole lag nun ganz ruhig in Samantha Jordans Hand. »Hör mir zu, Kris. Die Sache mit deinem Bruder tut mir leid. Sie tut mir wirklich leid. Es war einfach ein schrecklicher Zufall, eine Tragödie, daß er dort war, daß er es gesehen hat.«

»Was hat er gesehen, Sam? Sag mir, was er gesehen hat!«

»Mach bei uns mit, und ich werde es dir sagen. Ich verspreche dir, ich werde es wiedergutmachen. Wir können Zusammensein. Wir können immer Zusammensein.«

Kristen zog die Schultern hoch. »Du hast meinen Bruder umgebracht.«

»Ich hätte es verhindert. Hätte ich es gewußt, hätte ich es verhindert. Für dich, Kris. Ich würde alles für dich tun. Aber zwinge mich nicht dazu, das zu tun!« bat Samantha Jordan. »Zwinge mich nicht, dich zu töten! Ich liebe dich. Bitte hör mir zu. Hör mich an.«

Kristen sah ihr in die Augen. »Erschieße mich, Sam. Sonst werde ich aussteigen und davongehen.«

Senatorin Samantha Jordan nahm die Pistole in beide Hände. »Kris … Ach, Kris …«

In diesem Augenblick des Jammerns und der Unentschlossenheit der Senatorin handelte Kristen. Sie griff nach der Waffe, und es gelang ihr, die Mündung nach oben zu drücken. Als der Knall des Schusses im Wageninneren aufhallte, fuhren die beiden Frauen zusammen. Kristen warf sich auf die ältere und versuchte, den Lauf von ihrem Körper wegzudrehen. Wütende Entschlossenheit verzerrte Samantha Jordans Gesicht. Der Ausdruck des Bedauerns, der noch vor ein paar Sekunden auf ihren Zügen gelegen hatte, war verschwunden. Augen, die sich gerade noch bemüht hatten, Liebe zu zeigen, zeigten jetzt nur noch Haß.

Kristen umklammerte die Hand der Senatorin, die die Pistole hielt, um zu verhindern, daß sie die Waffe senken konnte. Die andere Faust schob sie unter das Kinn der Senatorin. Sie drückte mit aller Kraft, und der Kopf der Jordan prallte gegen das Fenster auf der Beifahrerseite. Das Glas splitterte, und die Jordan stöhnte auf. Ihr Blick trübte sich leicht.

Kristen versuchte in diesem Augenblick, ihr die Waffe aus der Hand zu reißen, doch Samantha Jordan zog ihr mit einem lauten Kreischen die Fingernägel über das Gesicht. Kristen wimmerte vor Schmerz und spürte, daß ihr Griff um die Hand der Senatorin sich löste. Die Jordan zerrte die Pistole hinab, und Kristen warf sich auf sie und versuchte erneut, den Lauf von ihrem Körper wegzudrehen.

Der Schuß ging los. Kristen zuckte bei dem Geräusch zusammen, und der harte Stoß gegen ihren Magen konnte nur bedeuten, daß die Kugel ihr Ziel gefunden hatte.

»Sam«, stöhnte sie, »Sam …«

Sie sah zur Jordan hinab. Die Augen der Senatorin quollen hervor, und ihr Blick war starr. Kristen drückte sich hoch und sah den puterroten Fleck, der auf der Bluse der Jordan schnell größer wurde. Die Kugel hatte statt dessen die ältere Frau getroffen.

Kristen konnte nicht mehr vernünftig denken. Alles war benebelt und trüb. Die Pistole hatte sie vergessen. Das Wageninnere roch, als hätte man ein Feuerwerk darin abgeschossen.

Und ihre eigene Bluse war naß von Samantha Jordans Blut.

Zitternd gelang es Kristen, zurück hinter das Lenkrad zu rutschen. Noch immer wie in Trance fuhr sie los und wirbelte hinter sich Erde und Schotter auf. Als Kristen wieder auf die Straße fuhr, prallte der Kopf der Senatorin gegen die Fensterscheibe.

»Du gehörst auch dazu, Kris, denn du glaubst daran. Ich weiß es  …«

Woran glaubte sie?

»Gib mir die Chance, es dir zu erklären. Ich kann dich noch immer an Bord holen. Ich kann sie überzeugen, dich mitmachen zu lassen.«

Samantha Jordan war eindeutig nur eine Untergebene, Teil eines viel größeren und entsetzlicheren Ganzen, das in irgendeinem Zusammenhang mit dem stand, was David in der Air-Force-Basis Miravo beobachtet hatte.

Es wurde dunkel. Kristen schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr weiter. Sie würde nach Grand Mesa fahren, zu Sheriff Duncan Farlowe. Farlowe würde ihr helfen. Es gab keinen anderen.

Kristen war froh, daß es dunkel wurde, denn sie legte keinen besonders großen Wert darauf, Samantha Jordans Leiche auf dem Beifahrersitz zu betrachten. Sie bedauerte, daß sie mit anhören mußte, wie der Kopf bei jedem Schlagloch gegen die Tür prallte. Der Geruch des Blutes erregte Übelkeit in ihr. Doch sie würde erst anhalten, wenn sie Grand Mesa erreicht hatte.

Plötzlich tauchte hinter dem Kamm einer Erhebung der Old Canyon Road eine Straßensperre auf. Kristen hatte gar nicht gemerkt, wie schnell sie fuhr, und schaffte es gerade noch, den Wagen vor dem unausweichlich erscheinenden Zusammenstoß schlitternd zum Stehen zu bringen. Allerdings kam sie von der Straße ab und rutschte die Böschung hinab. Kalte Furcht erfaßte sie, als sie begriff, was passiert war, und sie legte den Rückwärtsgang ein, preschte zurück auf die Straße und wendete.

Zu allem Überfluß tauchten in dieser Richtung plötzlich zwei Scheinwerferpaare auf. Eine Kugel zerschmetterte die Windschutzscheibe und zwang Kristen, sich zu ducken. Sie hörte, wie zwei weitere Schüsse die Vorderreifen der Limousine durchschlugen. Sie richtete sich auf und sah, wie Bewaffnete durch das Gleißen der Scheinwerfer auf sie zugelaufen kamen, angeführt von einem Ungetüm von Mann, dessen Gesicht erschreckend häßlich war und der aussah wie …

Sein Haar! O mein Gott, sein Haar …!

Ein Bild von Davids verstümmelter Leiche blitzte durch Kristens Hirn. Duncan Farlowe hatte gesagt, ihr Bruder sei skalpiert worden.

Und dieses Ungeheuer von Mensch trug sein Haar …

Sie rutschte tiefer in ihren Sitz, wie gelähmt von dem Anblick des Mannes, und tastete verzweifelt nach der Pistole, die sie nicht mehr beachtet hatte, seit sie Samantha Jordan getötet hatte. Aber ihr Verstand schien zu erstarren, bevor sie sie gefunden hatte, und sie konnte nur mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Mund zusehen, wie das Ungeheuer von Mensch, das Davids Haar trug, nach der Tür griff.