Einundzwanzigstes Kapitel

Johnny Wareagle war keineswegs überrascht, daß die Regierung bei Traggeos vorzeitiger Entlassung aus der Haft die Finger im Spiel gehabt hatte. In gewissen Kreisen bestand immer Bedarf für die brutalen Fertigkeiten des Killers, und Johnny hatte eine ziemlich gute Vorstellung darüber, welcher dieser Kreise in die Sache verwickelt sein könnte.

Colonel Tyson Gash, Traggeos Kommandeur in Vietnam, hatte sich sein Lebenswerk nicht verderben lassen, als man ihn vor fünf Jahren unehrenhaft entlassen hatte. Der ehemalige Chef der Salvage Company hatte die Gelegenheit benutzt, um seine private und geheime Armee zu gründen, eine Survivalist-Gruppe, die aus ehemaligen Rangern und Mitgliedern der Special Forces bestand und in Arizona im Schatten der New River Mountains ein Ausbildungslager errichtet hatte. Wenn jemand einen Grund hatte, Traggeo aus dem Knast zu holen, dann Tyson Gash.

Wareagle mußte am späten Sonntagnachmittag am Tor des Lagers warten, während man Gash von seiner Anwesenheit unterrichtete. Die drei Wachen hielten noch immer ihre M16-Gewehre auf ihn gerichtet, als Gash in einem Jeep heranzog. Er sah noch aus wie vor über zwanzig Jahren, als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, bis hin zu der nicht angezündeten Zigarre in einem Mundwinkel. Colonel Tyson Gash war ein schmaler, knochiger, aber durchaus muskulöser Mann. Er war ziemlich groß und hatte vielleicht etwas zugenommen; ansonsten trug er denselben buschigen, schwarzen Schnurrbart und den kurzgeschorenen Haarschopf, an den Johnny sich noch von Vietnam erinnerte. Eine Pistole vom Kaliber .45 steckte in seinem Gürtelhalfter. Obwohl die Temperatur noch bei etwa 30 Grad lag, war er mit einer vollständigen Kampfmontur bekleidet.

»Rühren«, befahl er seinen Soldaten.

Die drei Waffen wurden gleichzeitig gesenkt.

Gash sprach zu seinen Männern, während er zu dem zwei Meter und zehn großen Wareagle aufsah. »Ihr wißt es noch nicht, Jungs, aber ihr habt gerade eine bessere Lektion erhalten, als ich sie euch je beibringen könnte. Ihr habt drei Gewehre auf einen Mann gerichtet, der nur mit einem Messer bewaffnet ist, und dennoch hätte er euch jederzeit ausschalten können, wenn er es nur gewollt hätte.« Er musterte sie streng, und die Soldaten standen wieder stramm. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und richtete sie auf sie, während seine Stimme lauter wurde. »Jungs, ihr seht wahre Größe vor euch. Wenn ihr beim nächsten Mal einem Mann dieser Statur begegnet – falls es ein nächstes Mal gibt –, schätzt ihr ihn lieber richtig ein, oder ihr könnt euch eine andere Truppe suchen. Und jetzt wieder an die Arbeit.«

Die Soldaten salutierten und traten zurück. Gash ging zu Johnny und gab ihm die Hand.

»Es freut mich, Sie zu sehen, Lieutenant.«

Wareagle umschloß Gashs Hand mit seiner gewaltigen Pranke. »Ich bin Ihrer Worte nicht würdig, Colonel.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie hätten diese drei Rotärsche nicht mit einem geschlossenen und einem zusammengekniffenen Auge ausschalten können?«

»Ich will damit sagen, daß sie keine wahre Größe vor sich gesehen haben. Und das gilt auch für Sie, Sir.«

Gash nickte; er lächelte noch immer. »Ich habe gewußt, daß Sie eines Tages hier aufkreuzen und mein Angebot akzeptieren würden. Sie haben nur Zeit gebraucht.«

Sie gingen zu dem Jeep. Gash sah noch immer zu Wareagle auf.

»Deshalb bin ich nicht hier, Colonel.«

»Aber Sie werden sich doch wenigstens das Camp ansehen? Vielleicht bleiben Sie zum Essen.«

»Wie Sie wünschen.«

»Ich wünsche, daß Sie sich entschließen, sich mit mir zusammenzutun. Wir brauchen Sie, Lieutenant. Und die Zeit wird kommen, da dieses Land uns brauchen wird.«

»Ich suche einen Ihrer Männer«, sagte Johnny, als sie den Jeep erreicht hatten.

»Sie sind alle hier. Unter meinem Kommando gibt es so etwas wie Urlaub nicht.«

»Keinen, der jetzt bei Ihnen ist, sondern einen aus der Vergangenheit.«

»Und wie weit liegt die zurück?«

»Die Salvage Company.«

Die nicht brennende Zigarre im Mund, ließ Gash den Motor an, ohne Wareagle zu antworten, und legte den Rückwärtsgang ein.

»Ein paar von denen sind bei mir«, gestand er ein, als der Jeep sich den Holzhäusern des Camps näherte. »Und wen genau meinen Sie?«

»Traggeo«, erwiderte Johnny.

»Verdammt, ich habe gedacht, der wäre tot.«

»Nein. Aber eine Reihe von Leuten, die ihm begegnet sind, leben nicht mehr.«

»Ich habe keine Listen geführt.«

»Er wurde zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Jemand hat ihn herausgeholt, noch bevor er ein Jahr abgesessen hatte. Jemand aus der Regierung.«

»Und Sie dachten, ich wäre es gewesen.«

»Das wäre nur logisch.«

»Sie müssen das Schild draußen am Tor übersehen haben, Lieutenant«, erwiderte Gash. »›Für Verrückte kein Zutritt.‹«

»Dann hätte man vielleicht auch uns beiden den Zutritt verweigern sollen, Colonel.«

Gash lachte. »Ein Punkt für Sie. Aber Traggeo ist ein ganz anderes Kaliber. Ich kann mit niemandem arbeiten, den ich nicht kontrollieren kann.«

»Im Höllenfeuer konnten Sie es.«

Gash trat auf die Bremse. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und warf sie zu Boden. »Man hat nicht erwartet, daß sie überleben. Das macht einen gewaltigen Unterschied aus. Verdammt, in internen Schriftsätzen habe ich die Salvage Company immer ›Suicide Company‹ genannt – Selbstmordtruppe. Sie haben den verdammten Krieg zu schnell beendet. Hätten sie mir früh genug weitere zehntausend Leute wie Traggeo gegeben, hätte ich die verdammte Sache gewinnen können. Er mag ja ein verrücktes Arschloch gewesen sein, aber er war der treueste Soldat, der je unter mir gedient hat. Hat stets seine Pflicht erfüllt, ganz gleich, unter welchen Umständen, und ich muß ja kaum sagen, wie schwierig die manchmal waren.«

Wareagle wandte sich ab, damit Gash nicht die Verachtung in seinem Blick sehen konnte.

»Handelt es sich um eine persönliche Sache, Lieutenant?« fragte Gash.

»Traggeo behauptet, zu meinem Volk zu gehören, Colonel. Diese Behauptung ist eine Lüge. Er färbt seine Haut dunkel. Er hat unsere Sprache gelernt und weiß, wie wir andere zum Narren halten. Aber unser Blut fließt nicht in seinen Adern. Und man muß ihn aufhalten, bevor noch mehr Dunkelheit über den Geist meines Volkes ausgebreitet wird.«

»Und seinen Opfern zieht er noch immer …« Gash fuhr mit der Hand über seinen Kopf.

»Es ist schlimmer geworden«, sagte Johnny und gab wieder, was er von Elwin Coombs erfahren hatte – daß Traggeo jetzt die Skalps seiner Opfer trug.

»Großer Gott.« Gash dachte kurz nach. »Klingt ganz so, als hätten Sie jetzt ein größeres Problem. Wenn ich Traggeo nicht aus dem Knast geholt habe … wer dann?«

»Sie haben gesagt, Angehörige der Salvage Company wären hier.«

»Ein paar.«

»Neuankömmlinge?«

»Einige, im letzten Jahr.«

»Darf ich mit Ihnen sprechen?«

»Sie sprechen nicht gerade viel, Lieutenant.«

»Ich erwarte keine langen Antworten.«

Sekunden später erreichte der Jeep eine große freie Fläche mit Übungsplätzen und Schießständen. Dahinter befand sich die voll ausgestattete Basis mit ihren Gebäuden, Kasernen und Fahrzeugen. Sie stellte in vieler Hinsicht einen Nachbau des Trainingszentrums der Delta Force in Fort Bragg dar, in der der Colonel seine Laufbahn in alles andere als ehrenhafter Art und Weise beendet hatte.

»Dieses Lager wurde ausschließlich mit privaten Spenden errichtet, Lieutenant«, erklärte Gash. »Spenden von Personen, die wie ich der Meinung sind, daß man eines Tages eine Truppe brauchen wird, die dieses Land zu Hause verteidigen kann. Wir sind weich geworden, Johnny, nicht Sie, nicht ich, aber das Land insgesamt. Es ist schlaff und schwach geworden, und früher oder später wird es zusammenbrechen. Deshalb sind wir hier. Wenn es soweit ist, werden wir bereit sein.«

Gash wartete auf eine Antwort. Als keine kam, fuhr er fort: »Ich habe im Augenblick fünfzehnhundert Mann hier, und ich kann sie innerhalb von sechs Stunden an jeden Ort in unserem Land bringen. Wir haben sogar eigene Transportflugzeuge. Und Sie sollten unsere Ausrüstung sehen. Nur das Beste vom Besten. Bei der Operation Desert Storm wurden die meisten Stücke getestet, und alle haben mit wehenden Flaggen bestanden.« Gash hielt wieder inne, doch diesmal wartete er nicht auf Antwort. »Sie können uns Survivalist-Gruppe nennen, sie können uns Faschisten nennen, sie können uns nennen, wie sie wollen. Aber wir sind lediglich Leute, die dieses Land lieben und die Schrift an der Wand lesen können. Und uns gefällt nicht, was da steht. Wissen Sie, wie man uns zur Zeit nennt?«

Johnny wußte es, schwieg aber.

»Die Polizei-Brigade.« Gash lachte herzhaft. »Das ist die gottverdammte Wahrheit, und deshalb lasse ich es bei diesem Namen bewenden. Wenn der echte Notfall kommt, werden wir zur Stelle sein, Johnny, und ich vermute, er kommt früher und nicht später. Bleiben Sie und verpflichten Sie sich, oder Sie werden die Gelegenheit verpassen.«

»Ich verhindere lieber, daß er überhaupt eintritt.«

»Genau«, sagte der Colonel wissend. »Sie und McCrackensack. Ich habe euch im Auge behalten. Wenn McCracken bereit ist, sagen Sie ihm, hier wartet auch auf ihn ein Bett.«

»Ich richte es ihm aus.«

»Das werden Sie zwar nicht tun, aber trotzdem vielen Dank, daß Sie auf mich eingehen. Wenn Sie doch nur einsehen würden, daß dieser Ort und das, was ich hier erreichen will, wie geschaffen für Sie beide ist. Sehen Sie sich genau um. Das ist der Alamo. Wir sind auf allen Seiten von Schwäche und Mittelmäßigkeit umgeben. Wir sind das letzte Bollwerk. Jeder bewaffnete Hanswurst könnte dieses Land einnehmen, und ich hoffe nur, daß wir rechtzeitig davon erfahren und ihn aufhalten können.«

Sie fuhren langsam die Hauptstraße der Basis entlang, und rechts und links von ihnen befahlen Offiziere den Soldaten, Haltung einzunehmen, wenn sie den Colonel erblickten. Die Salute schienen kein Ende zu nehmen. Tyson Gash legte größten Wert auf Disziplin.

»Mal sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte Gash plötzlich.

»Vielen Dank, Colonel.«

Gash ließ den Jeep vor dem Haupteingang der Basis ausrollen und steckte sich eine neue Zigarre in den Mund. »Danken Sie mir nicht dafür, daß ich Ihnen helfen will, einen Mann wie Traggeo zu finden, Lieutenant. Ich hätte ihn eigenhändig umbringen sollen, damit er nach unserem Rückzug aus seinem Grab kriecht und den Charlies das Blut aussaugt. Er war davon überzeugt, unsterblich zu sein, und behauptete, durch seine Adern flöße die Macht seiner Ahnen.«

»In seinen Adern fließt Blut, Colonel, und wenn ich ihn gefunden habe, wird es vergossen werden.«

Der Mann namens Badger, wie Traggeo ein ehemaliges Mitglied der Salvage Company, wurde in Gashs Büro geführt und nahm augenblicklich Haltung an.

»Rühren, Soldat«, sagte der Colonel.

Doch Badger schien dazu nicht imstande zu sein. Sein Versuch, bequem zu stehen, brachte nur ein leichtes Senken seiner Schultern mit sich. Er war groß und schlank, und sein Haar war noch kürzer als das des Colonels. Sein Mund zuckte irrwitzig. Seine Augen waren unentwegt in Bewegung, und seine Blicke schossen hierhin und dorthin, als könne er sich einfach nicht konzentrieren.

»Das ist Lieutenant Wareagle, Soldat«, begann Gash. »Sie werden jede einzelne seiner Fragen wahrheitsgemäß und nach Ihrem besten Wissen beantworten. Verstanden?«

»Jawohl, Sir!« Badger stand wieder stramm. Das Zucken des Mundes ließ nach, aber seine Blicke blieben unstet.

»Bitte, Lieutenant.«

»Sie haben vor vielen Jahren in einem anderen Land mit einem Mann namens Traggeo gedient. Haben Sie im vergangenen Jahr etwas von ihm gehört?«

Badgers Blick blieb endlich auf Wareagle haften. »Nur einmal Sir, vor ein paar Monaten, bevor ich hierherkam. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«

»Mir wird genügen, woran Sie sich erinnern können. Fahren Sie fort.«

»Ein Anruf, Sir. Er hat mich gefragt, ob ich mich ihm anschließen wolle.« Sein Blick schwankte wieder. »Ich weiß nicht, wie er mich gefunden hat.«

»In welcher Hinsicht anschließen?«

»Das hat er nicht gesagt, Sir. Oder wenn doch, erinnere ich mich nicht mehr daran. Es war … eine schwierige Zeit für mich.«

»Ich verstehe. Erinnern Sie sich an sonst noch etwas?«

»Nur an den Ort, von dem aus er angerufen hat. Das weiß ich noch, weil ich auch schon mal dort war. Carrizozo.«

»In New Mexico«, murmelte Johnny.

»Jawohl, Sir. Ganz in der Nähe von White Sands.«