Zweiunddreißigstes Kapitel

»Danke, daß Sie mich empfangen, Mr. Matabu«, begrüßte Kristen Kurcell den Mann, der sie von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch aus eindringlich musterte.

Bota Matabu beugte seinen großen, schlanken Körper vor, und der Stuhl knarrte leise. »Nach der Hilfe, die Sie meiner Delegation während unseres Besuchs in Ihrem Land geleistet haben, ist dies das mindeste, was ich für Sie tun kann, Miss Kurcell.«

»Das hoffe ich, Sir, denn ich möchte Sie noch um einen viel größeren Gefallen bitten.«

Matabus große, tiefliegende Augen blieben auf sie gerichtet. Er verschränkte die Finger und lehnte das Kinn auf die Daumen. Sein Seidenanzug schien von einem führenden Designer zu stammen, wahrscheinlich von einem Italiener, vermutete Kristen. Die gemusterte Krawatte paßte hervorragend zu dem grauen Anzug und zu dem mächtigen und kontroversen Führer, zu dem Matabu geworden war. Als dritthöchstes Mitglied des African National Congress, also des Afrikanischen National-Kongresses, war er Nelson Mandelas wichtigster Troubleshooter, der die Streiks, Arbeitsniederlegungen und den bewaffneten Widerstand gegenüber weißen Reaktionären und der Polizeibrutalität in den Townships zu überwachen hatte.

»Ich höre, Miss Kurcell«, sagte er, doch Kristen mußte erst ihre Gedanken ordnen.

Da das FBI Männer zu ihrem Schutz und nicht zu ihrer Überwachung abgestellt hatte, war es ihr mühelos gelungen, das Hotel in Washington zu verlassen, ohne daß die Agenten es bemerkten. Sie hatte ihre Flucht zeitlich so abgestimmt, daß sie eine Maschine nach Johannesburg erwischte, wo sie unbedingt Blaine McCracken finden wollte. Vor seinem Abschied hatte er ihr seinen Plan kurz umrissen, und in den nachfolgenden Stunden hatte sie erkannt, wie töricht er war. Zu viele Dinge konnten schiefgehen, und falls tatsächlich irgend etwas schiefging, stand McCracken ganz auf sich allein gestellt.

Anstatt tatenlos herumzusitzen, entschloß Kristen sich, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Blaine zu helfen. Das Gefühl der Hilflosigkeit über den Tod ihres Bruders, das sie noch immer empfand, war schon Qual genug. Sie konnte nicht untätig darauf warten, daß noch ein Mensch starb, an dem ihr etwas lag.

Kristen hatte noch von Washington aus Kontakt mit Matabu aufgenommen, und einer seiner Wagen wartete auf sie, als sie Johannesburg in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden des Freitags erreichte.

»Ihr Anruf aus den Staaten war sehr beunruhigend«, fuhr Matabu fort, als Kristen nichts sagte. »Und vage. Sie haben gesagt, unsere Bewegung sei in großer Gefahr. Darf ich davon ausgehen, daß dies etwas mit der Politik zu tun hat, die Ihre Regierung in Erwägung zieht?«

»Nein«, erwiderte Kristen. »Überhaupt nicht. Die Gefahr für den ANC kommt aus meinem Land, hat aber nichts mit der Regierung zu tun.«

Matabu kniff die Augen zusammen. »Ich bin etwas verwirrt, Miss Kurcell.«

»Mister Matabu, es besteht Grund zu der Annahme, daß amerikanische Atomwaffen in die Hände der AWB gefallen sind.«

Matabus Brauen flatterten. Darüber hinaus zeigte er nicht die geringste Reaktion. »Ich hätte gedacht, so eine bedeutsame und gefährliche Enthüllung wäre über ganz andere Kanäle gekommen.«

»Das wäre bestimmt auch der Fall gewesen, würde die Macht, die dafür verantwortlich zeichnet, nicht auch versuchen, die Regierung meines Landes zu stürzen.«

Matabu hob den Kopf langsam von den Händen. »Kann ich davon ausgehen, daß es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorfällen gibt?«

»Die Macht, von der ich spreche, ist entschlossen, in zahlreichen Ländern die radikale Rechte an die Herrschaft zu bringen und einen weltweiten Geheimbund zu schmieden, der aus Männern wie Dreyer besteht.«

Matabus steinerne Gemütsruhe schien etwas zu schwanken. »Und wie sind Sie an diese Informationen gelangt, Miss Kurcell?«

»Durch einen Mann, der mir das Leben gerettet hat, nachdem ich von der Gruppe gefangengenommen worden bin, die hinter dieser Bedrohung für unsere beiden Nationen steckt.« Kristen hielt inne. »Der einzige Mensch, der diese Entwicklung noch aufhalten könnte.«

»Und dennoch sind Sie zu mir gekommen.«

»Weil dieser Mann nach Südafrika geflogen ist, um Whiteland zu infiltrieren, Mr. Matabu. Und ich glaube, er steckt in Schwierigkeiten.«

Nachdem Kristen die Aufmerksamkeit des ANC-Führers erlangt hatte, erzählte sie ihre Geschichte von Anfang an. Als sie fertig war, lag eine glänzende Schweißschicht auf Bota Matabus hagerem Gesicht. Seine tiefliegenden Augen hatten ihre Schroffheit und Selbstsicherheit verloren. Als er schließlich das Wort ergriff, klang seine Stimme sanfter, fast gedämpft.

»Dann hat dieser Mann, dieser …«

»Blaine McCracken.«

»… versucht, sich Zutritt zu Whiteland zu verschaffen, um Informationen über den Plan der … Wie haben Sie sie genannt?«

»Die Delphi.«

»… der Delphi zu bekommen, um ihn aufhalten zu können.«

»Hier und in den Vereinigten Staaten, Mister Matabu. Und wenn er scheitert, werden unsere beiden Nationen den Preis dafür zahlen müssen.«

»Und was genau erwarten Sie von mir, Miss Kurcell?«

»Finden Sie heraus, ob er dort ist. Helfen Sie ihm, wenn er Schwierigkeiten hat.«

»Sie trauen mir ja einiges zu.«

Kristen versuchte, so entschlossen dreinzublicken, wie sie sich fühlte. »Ich weiß, Mister Matabu, daß Sie zahlreiche Gespräche mit Mitgliedern der ECC geführt haben«, sagte sie und bezog sich dabei auf die End Conscription Campaign , einer Organisation von Wehrpflichtgegner, die von jungen Weißen gegründet worden war, die nicht mehr zur Armee eingezogen werden wollten, um eine Politik der Apartheid durchzusetzen, die sie nicht unterstützten. Diese Weißen, die gelegentlich auch die ›alternativen Afrikaner‹ genannt wurden, gehörten einer Volksbewegung an, die die Rassen friedlich zusammenbringen wollten.

»Mehrere dieser Treffen«, fuhr sie fort, »dienten dem Zweck, ECC-Mitglieder in Whiteland einzuschleusen, damit sie anschließend Berichte über die Pläne der AWB liefern können.«

Matabu nickte; er war offensichtlich beeindruckt. »Nehmen wir einmal an, es wäre mir gelungen, eine kleine Anzahl weißer Sympathisanten in Whiteland einzuschleusen. Nehmen wir einmal an, diese Sympathisanten hätten Funkgeräte, mit denen sie uns vor geplanten Überfällen auf die Townships warnen.«

Kristen faßte wieder Mut. »Dann müssen Sie imstande sein, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.«

»Leider können nur sie mit mir Kontakt aufnehmen. Der nächste Bericht aus Whiteland ist morgen früh fällig. Wir werden uns bis dahin gedulden müssen.«

Matabu bestellte Kristen am Freitagmorgen wieder in sein Büro, nachdem einer seiner Whiteland-Infiltratoren Bericht erstattet hatte.

»Bitte beschreiben Sie diesen McCracken«, sagte er. Er stand starr vor seinem Schreibtisch.

»Groß und breit, mit schwarzem, welligem Haar«, sagte Kristen und rief sich Blaine McCrackens Aussehen in Erinnerung zurück. »Er hat einen gepflegten Bart, und eine Narbe verläuft …«

»Dann ist er es«, bestätigte Matabu. »Anscheinend wurde er letzte Nacht gefaßt, als er versuchte, sich Zutritt zur Kommandozentrale der AWB zu verschaffen.«

»Lebt er noch?«

»Aber nicht mehr lange, fürchte ich.«

Die ersten Strahlen der Morgensonne verwandelten das Loch, in das man Blaine gesteckt hatte, in einen Backofen. Bei der bloßen Berührung der Eisenwände verbrannte er sich schon, und er mußte seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um gleichmäßig durchzuatmen. Sie hatten ihn gestern abend bis auf die Shorts ausgezogen, bevor sie ihn in diese winzige Kammer gesteckt hatten, in der die Hitze den Sauerstoff aus der Luft zu saugen schien. Die Feuchtigkeit war erstickend, und mit jeder Minute im Sonnenlicht wurde es schlimmer.

Die Sonne stellte ein gewaltiges Problem dar, doch die kistenähnliche Zelle war ein noch viel größeres. Wenn er sich setzte, befand sein Kopf sich nah an dem oben eingelassenen Gitter, durch das das grelle Sonnenlicht fiel. Die Zelle war zu klein, als daß er die Beine hätte ausstrecken können, ohne daß seine nackten Schultern die glühendheißen Wände berührten. Also blieb Blaine keine andere Wahl, als die Beine vor die Brust zu ziehen, was fast augenblicklich zu Krämpfen in seinen sowieso schon müden Muskeln geführt hatte.

Er streckte die Beine aus, so gut es ihm möglich war, denn er wußte, er mußte stark und einsatzfähig bleiben. Sollte sich eine Möglichkeit zur Flucht ergeben, mußte er sie ergreifen. Wenn er den Präsidenten nicht warnen konnte, würden er und die gesamten Vereinigten Staaten in eine tödliche Falle laufen.

Der Schatten einer seiner Wächter fiel auf das Gitter über ihm. Blaine hielt in seinen Gedanken inne, als wären es Worte. Die Logistik des Schauplatzes verbot einen verzweifelten Sprint in die Freiheit, selbst wenn es ihm irgendwie gelungen wäre, das Gitter aufzustemmen. Ununterbrochen waren Waffen auf ihn gerichtet. Nachdem man McCracken in der gestrigen Nacht vom Dach geführt hatte, war er zu Dreyer gebracht worden. Da der Führer der AWB davon ausging, daß es Blaine nicht gelungen war, irgend etwas von Wert zu erfahren, hatte er sich entschlossen, ihm einen höchst dramatischen Abgang zu verschaffen:

Blaine sollte von einem Exekutionskommando erschossen werden, und zwar genau zur Mittagsstunde, zu eben jenem Zeitpunkt, an dem der Präsident einen Weg einschlagen würde, der unabänderlich zum Sturz seiner Regierung führen mußte.

Im Konferenzraum des Weißen Hauses galt die ungeteilte Aufmerksamkeit General Trevor Cantrell. Er stand vor einer farbigen Karte von Washington und deutete auf die verschiedenen Treffpunkte, von denen aus die Regierung in drei sichere Verstecke gebracht werden sollte.

»Wie lange wird die Evakuierung dauern?« fragte der Präsident.

»Für diejenigen, die sich zur Zeit in der Hauptstadt aufhalten, acht bis zehn Stunden, und das ist großzügig berechnet, Sir.«

»Bitte erklären Sie mir die Prozedur noch einmal«, verlangte die Sicherheitsberaterin Angela Taft.

»Alle Rundfunksender in Washington werden viertelstündlich eine bestimmte Nachricht ausstrahlen. CNN und alle anderen Nachrichtenkanäle werden alle zehn Minuten einen bestimmten Werbespot senden. Eine Reihe ausgewählter Gruppenführer werden Anrufe erhalten und ihrerseits alle Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppen anrufen. Darüber hinaus hat die Emergency Communications, abgekürzt die EMER-COM, alle Nummern der Mitglieder auf der Evac-Liste gespeichert, die Pieper mit sich führen, und das sind etwa siebzig Prozent. Damit ist sichergestellt, daß wir niemanden übersehen.«

»Haben Sie schon herausgefunden, wie viele genau in der Stadt weilen?« fragte Charlie Byrne.

Bevor Cantrell antwortete, sah er Ben Samuelson vom FBI an. »Mit Mister Samuelsons Hilfe habe ich eruieren können, daß ihre Zahl zwischen neunzig und zweiundneunzig Prozent liegen wird. Bei unseren strategischen Planspielen sind wir immer von etwa fünfundsiebzig Prozent ausgegangen, so daß wir eine überdurchschnittliche Quote erzielen werden.«

»Ich vermute, Sie haben gar nicht erst versucht, Kontakt mit jenen aufzunehmen, die nicht sofort zur Verfügung stehen«, sagte der Präsident.

»Nein, Sir, und zwar aus gutem Grund. Wir müssen unter allen Umständen vermeiden, daß etwas durchsickert. Diejenigen, die nicht von der Evakuierung erfaßt werden, müssen akzeptieren, von der Regierung ausgeschlossen zu sein, bis die Ordnung wiederhergestellt worden ist.«

»Angenommen, es gelingt uns nicht, die Ordnung wiederherzustellen«, sagte Charlie Byrne.

»Und wie wollen wir verhindern, daß die Stadt mitbekommt, daß alle Mitglieder der Regierung gleichzeitig verschwinden?« wollte der Präsident wissen.

»Die Treffpunkte sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Alle Personen werden von Armeehubschraubern abgeholt, die in dieser Stadt ja ein alltäglicher Anblick sind.«

»Was ist mit den Fahrern und Piloten?« fragte Angela Taft.

»Sie wurden in Alarmbereitschaft versetzt, Madam. Wir führen ständig Übungen durch, so daß keiner weiß, worum es geht. Wegen ihnen werden wir keine Zeit verlieren.«

»Aber wenn wir versuchen, das alles in acht bis zehn Stunden durchzuführen«, wandte der Präsident ein, »werden einige Leute auf jeden Fall Wind davon bekommen, darunter auch die Medien. Wir sollten die Aktion ausdehnen, wenn nötig vielleicht über den gesamten morgigen Tag.«

»Morgen ist Samstag«, erinnerte Ben Samuelson ihn. »Die Leute, die wir evakuieren müssen, werden dann nicht arbeiten. Ich würde auch zu diesem Vorgehen raten.«

»Einverstanden, aber ich bin trotzdem der Meinung, daß diejenigen, die zum Mount Weather evakuiert werden, aufbrechen, sobald wir Alarmbereitschaft gegeben haben«, sagte Cantrell. Er bezog sich auf die Mitglieder des Obersten Gerichts, des Kabinetts und einiger Ausschüsse. »Das würde auch Sie einschließen, Sir.«

»Und ich bin damit einverstanden, solange gewährleistet ist, daß wir in Mount Weather den Überblick behalten. Ich war nur einmal dort und habe von den technischen Gegebenheiten nicht viel mitbekommen.«

»Sie können das Land im Mount Weather genauso problemlos regieren wie im Weißen Haus, Sir. Das Oval Office und der Raum, in dem die Pressekonferenzen abgehalten werden, wurden dort nachgebaut, so daß die Öffentlichkeit glauben wird, Sie wären noch in Washington, falls Sie dies vorziehen, Sir.«

»Mir wäre es noch lieber, wenn ich das Land von hier aus regieren könnte«, sagte der Präsident zögernd.

»Da wir gerade von Washington sprechen«, warf Ben Samuelson ein, »jemand muß für den Belagerungsfall die Sicherheitsmaßnahmen für die Stadt koordinieren. Das ist die Aufgabe des FBI.« Er sah Cantrell an. »Der General und ich haben bereits darüber gesprochen.«

»Truppen der Siebenten Leichten Infanterie wurden in Alarmbereitschaft versetzt und können jederzeit einmarschieren, Sir«, erklärte Cantrell. »Sobald sie sich in der Stadt befinden, können sie direkt Mr. Samuelson unterstellt werden.«

»Nicht so schnell, Herr General«, sagte der Präsident. »Wie können wir die Siebente einmarschieren lassen, ohne genau jenes Aufsehen zu erregen, das wir unbedingt vermeiden wollen?«

»Ich würde vorschlagen«, warf Angela Taft ein, »daß wir keinerlei Erklärungen abgeben, bis die Belagerung beginnt … falls sie überhaupt beginnt. Danach, Sir, informieren Sie die Medien – und die Nation – von Mount Weather aus.«

Der Präsident nickte; für den Augenblick war er zufrieden. »Na schön, Leute. Wir haben jetzt genau vier Uhr. Ich möchte, daß bei Anbruch der Dämmerung alle Vorbereitungen getroffen sind.«

»Ich fürchte, mehr kann ich wirklich nicht tun«, sagte Matabu mit grimmiger Entschlossenheit, als er Kristen die letzten Elemente seines Plans erklärt hatte. Nachdem er erfahren hatte, daß McCracken von einem Exekutionskommando hingerichtet werden sollte, hatte er den Plan mit der zögernden Unterstützung der ECC-Spitzel in Whiteland schnell ausgearbeitet.

»Das wird reichen«, erwiderte sie.

»Leider teile ich Ihre Zuversicht nicht.«

»Weil Sie Blaine McCracken nicht kennen.«

Matabu sah auf seine Uhr. »Aber wir sollten lieber aufbrechen, damit wir ihn nicht verpassen, falls er es schaffen sollte.«

Die Sonne nahm McCracken jede Kraft und auch jede Hoffnung. Kurze Phasen der Bewußtlosigkeit hatten sein Zeitgefühl durcheinander gebracht. Wenn er wieder zu sich kam, beschwor er sich jedesmal, wach zu bleiben, konnte jedoch nicht verhindern, daß er wieder einnickte. Er konnte kaum schlucken. Sein Atem ging schwer und unregelmäßig. Da er völlig ausgetrocknet war, schwitzte er kaum noch.

McCracken drohte wieder das Bewußtsein zu verlieren und hieß die kühle Behaglichkeit willkommen, die sein Geist in diesem Zustand heraufbeschwören konnte. Ein Geräusch holte ihn zurück, ein vertrautes zwar, aber hier war es völlig unpassend.

Zu dem Rat-tat-tat des ersten Hubschraubers gesellte sich kurz darauf das eines zweiten. Als Blaine versuchte, sich aufzurichten, um durch das Gitter zu sehen, hörte er das metallische Geräusch von schwerem Automatikfeuer.

Whiteland wurde angegriffen!

Er gab sich der Hoffnung hin, daß es sich um Barnstable und seine Leute aus dem Innenministerium handelte und sie einen Rettungsversuch starteten. Doch seine Hoffnung legte sich so schnell, wie sie aufgekommen war. Hundert Kampfhubschraubern waren nichts im Vergleich zu der einen gut gezielten Kugel, die sein Leben beenden würde. Selbst Johnny Wareagle würde Probleme haben, ihn unter diesen Umständen hier herauszuholen.

Doch das Feuer aus der Luft hielt an und wurde von den mit Maschinenpistolen bewaffneten AWB-Soldaten erwidert. Die Erde um sein Loch erzitterte, als die Männer in alle Richtungen auseinanderliefen. Blaine hörte, daß zahlreiche Befehle gerufen wurden, und konnte sich gut vorstellen, welch ein Durcheinander sich über seinem Kopf abspielte.

Plötzlich fiel ein Schatten auf das Gitter. Blaine hörte, daß im Schloß ein Schlüssel gedreht wurde. Anscheinend hatte die AWB den Mittag einfach vorgezogen.

Das Gitter wurde hochgehoben. »Schnell, Kumpel!« rief eine Stimme. »Wir wollen Sie hier rausholen!«

»Nein«, sagte Blaine heiser.

»Was?« Die Stimme klang jetzt wütend, und das Gesicht, zu dem sie gehörte, senkte sich.

»Wir würden es auf keinen Fall schaffen. Nicht auf diese Weise.«

»Aber …«

»Hören Sie zu.«

Der Mann tat wie geheißen, rief dann ein paar Kameraden herbei und rannte davon. Die Minuten schleppten sich dahin, während der Kampf anhielt. Dann würde das Gitter wieder angehoben, und jemand warf ein kleines Päckchen in das Loch.

»Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun, Kumpel.«

»Hoffentlich wissen wir beide das.«

»Verdammte Kaffern!« schrie Dreyer; die Browning mit dem Elfenbeingriff hielt er entsichert in der Hand. Er sah den beiden Hubschraubern nach, die in nördliche Richtung flohen; aus dem einen quoll eine schwarze Rauchwolke, und er verlor Öl. Offensichtlich war die Schlacht vorbei. Neben ihm hielt Colonel Smeeds Jeep an.

»Verluste?« fragte Dreyer.

»Vielleicht ein Dutzend Verwundete. Keine Toten. Sie wollten uns lediglich etwas einheizen.«

»Matabu hat Whiteland gerade zum erstenmal angegriffen, Colonel. Das gefällt mir nicht. Und mir gefällt noch weniger, daß die Kaffern jetzt über Hubschrauber verfügen.« Dreyer kam plötzlich ein ganz anderer Gedanke. »Was ist mit unseren Gefangenen?«

»Der steht unter sicherer Bewachung.«

»Davon will ich mich selbst überzeugen«, sagte Travis Dreyer und stieg in den Jeep. »Wir haben bald Mittag.«

Smeed schob den Schlüssel ins Schloß und öffnete das Gitter, während Dreyer hinter ihm wartete. Eine Wache zog das Gitter hoch, damit Smeed in das Loch schauen konnte.

Dreyer sah, daß Smeeds Rücken sich versteifte.

»Was ist los!« fragte Dreyer. »Was ist los?«

Er schob Smeed beiseite und sah ebenfalls in das Loch. »Verdammte Scheiße!« brüllte er dann.

Die verkrümmte Gestalt in der Khaki-Uniform im Loch war die eines AWB-Soldaten.

»Finden Sie McCracken!« schrie er Smeed an. »Legen Sie ihn in Eisen, und zwar sofort!«

Das Chaos, das auf den Angriff der Hubschrauber folgte, war nichts im Vergleich zu dem, das sich nun entwickelte. Auf dem gesamten Komplex strömten AWB-Soldaten aus und durchsuchten das Unterholz nach dem geflohenen Gefangenen. Dreyer verfluchte sich, weil er sich für die dramatische Variante entschieden hatte, anstatt seinen Gefangenen einfach in der vergangenen Nacht hinrichten zu lassen, als sich die Gelegenheit geboten hatte. Nun sehnte er sich nach einer zweiten Chance, McCracken ins Visier zu bekommen. In seinem geschwächten Zustand konnte der Mann nicht weit gekommen sein. Dreyers Leute würden ihn finden.

Auf McCrackens Anweisung hin hatten die drei ECC-Spitzel, die zu seiner Bewachung abgestellt waren, ihm eine Khaki-Uniform der AWB und einen Sam-Browne-Halfter besorgt und waren dann zurückgekehrt, als die anderen Soldaten in alle Richtungen ausströmten, um nach ihm zu suchen. Jeder, der sie beobachten sollte, würde vermuten, daß sie lediglich einen bewußtlosen Kameraden aus dem Loch holten, der dem entflohenen Gefangenen zum Opfer gefallen war. Einer legte eine Trage auf den Boden. Ein anderer tat so, als würde er McCracken aus dem Loch ziehen.

»Machen sie es sich bequem«, sagte er und wollte Blaine auf die Trage legen.

»Nicht ich – Sie.«

»Wie bitte?«

»Wir tauschen die Plätze. Jetzt komme ich allein klar.«

Der Inhalt einer vollen Wasserflasche, die mit der Uniform in das Loch geworfen worden war, hatte auf McCracken eine wundersame Wirkung gehabt. Er fühlte sich munter und stark, und die verlorene Körperflüssigkeit war wenigstens teilweise ersetzt worden.

»An der Straße, die nach Whiteland führt, wartet ein Wagen auf Sie«, erklärte die vertraute Stimme seines Retters. »Ein schwarzer Mercedes.«

»Wer sind Sie?«

»Freunde.«

Blaine zog den Gürtel enger. »Sie werden dahinterkommen.«

Zwei der Männer hoben die Trage mit dem dritten darauf hoch.

»Wir werden Ihnen bald folgen.«

Sie liefen los, und McCracken wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Bei hellem Tageslicht war es selbst in diesem Chaos nur eine Frage der Zeit, bis ihn jemand erkennen würde, was durch den Umstand erleichtert wurde, daß kaum ein Soldat einen Bart trug, er hingegen doch. Je schneller er aus Whiteland herauskam, desto besser. Er würde versuchen müssen, die Tatsache auszunutzen, daß die Soldaten sich auf der Suche nach ihm schon beträchtlich über das Gelände verteilt hatten.

Blaine folgte ein paar Männern durch ein offenes Tor in das dahintergelegene Buschland. Um ihn herum hackten Männer auf das Unterholz ein. McCracken achtete darauf, einen gewissen Abstand zu ihnen zu halten und dabei die allgemeine Richtung einzuschlagen, in der er die Straße wähnte. Seine beste Chance lag darin, so lange wie möglich im Wald zu bleiben. Er schritt schneller aus und bemühte sich, die Orientierung nicht zu verlieren.

Sein Weg führte ihn zu einer Gruppe, die das Unterholz in der Richtung durchsuchte, aus der er gekommen war. Er wollte eine Entdeckung vermeiden, indem er ihre hackenden Bewegungen nachahmte und damit sein Gesicht und den Bart bedeckt hielt. Doch er konnte der vertrauten Gestalt nicht ausweichen, die plötzlich vor ihm auftauchte.

»Da ist er!« brüllte Colonel Smeed.

Er riß die Pistole hoch, und McCracken sprang ihn an. Es gelang ihm, die Hand zur Seite zu schlagen, doch ein Schuß löste sich und hallte in der Luft. Blaine holte zu einem Handkantenschlag aus, der Smeeds Nase zertrümmerte und den Mann zusammenbrechen ließ, doch der Schaden war schon angerichtet. Der Schuß würde die Soldaten der AWB anlocken. Blaine sprang über den leblosen Körper des Colonels und lief los.

Schritte näherten sich von hinten und Seiten. Blaine konnte sich keine Tricks oder Täuschungsmanöver mehr leisten. Seine einzige Chance bestand darin, die Straße und den schwarzen Mercedes zu erreichen, obwohl er noch nicht einmal wußte, wer darin wartete oder was mit ihm geschehen würde, sobald er ihn erreicht hatte.

McCrackens Mund war wieder staubtrocken geworden. Er zwang seinen müden, mitgenommenen Körper durch das Unterholz. Adrenalin durchströmte ihn. Er wurde mit jedem Schritt stärker.

Er konnte die Straße ausmachen, und Blaine lief an den letzten Bäumen vorbei auf sie zu. Wenn ihn nicht alles trog, hatte er in den Wäldern um Whiteland fast einen Kilometer zurückgelegt, und das bedeutete, daß er dieselbe Entfernung noch einmal auf offener Strecke überwinden mußte, um den Mercedes zu erreichen. McCracken setzte zu einem Sprint an und hatte schon ein gutes Stück zurückgelegt, als er hinter sich schnell lauter werdende Lastwagenmotoren hörte. Er wurde nicht langsamer, hielt sich aber für den Fall, daß er wieder Zuflucht im Unterholz suchen mußte, am Straßenrand und lief weiter, die Pistole in der Hand.

Nun kam der Anfang der Straße in Sicht und ein schwarzer Mercedes, der in die Büsche zurückgesetzt hatte; McCracken konnte nur seine Schnauze ausmachen. Er warf schnell einen Blick über die Schulter zurück und stellte fest, daß die Lastwagen noch hundert Meter hinter ihm waren. Als er wieder zum Mercedes sah, sprangen zwei Schwarze mit Automatikgewehren von den Vordersitzen, während vom Rücksitz eine vertraute Gestalt glitt.

»Schnell!« rief Kristen Kurcell.

McCracken war noch fünfundzwanzig Meter entfernt, als der schwarze Schütze das Feuer auf den vordersten Lastwagen eröffnete, dessen Fahrer McCracken gerade entdeckt hatte. Die Windschutzscheibe zersplitterte, und der LKW geriet ins Schleudern. Ein zweiter Wagen rammte ihn. Der Schütze feuerte weiter und ging rückwärts zu dem Mercedes, während Blaine zu Kristen lief. Sie umarmte ihn und zerrte ihn auf den Rücksitz, während die beiden Schützen vorn in den Wagen sprangen.

»Gott sei Dank«, stöhnte sie. »Gott sei Dank.« Auf dem Rücksitz saß ein anderer Mann, der Blaine mit einem verkniffenen Grinsen bedachte.

»Wir scheinen dieselben Feinde zu haben, Mr. McCracken«, sagte Bota Matabu.