PROLOG

»Test eins, zwei, drei …«

Das winzige Aufnahmegerät spie seine Stimme zu ihm zurück, und David Kurcell drückte auf die Stopptaste. Zufrieden mit dem Test, ließ er das Band zurücklaufen und hielt sich den Sony wieder an die Lippen.

»Zwei Uhr morgens«, sagte er leise und sah über den Berghang hinab. »Ich habe den Konvoi vor neunzig Minuten auf der Route sechzehn in der Nähe von Hoocher's Gap aufgespürt. Bin ihm nach einer halben Stunde Fahrt auf Straßen ohne Kennzeichnung gefolgt. Die Lastwagen haben keine Nummernschilder oder andere Kennzeichnungen. Eine große Anzahl Wachsoldaten innerhalb der Basis.«

David legte den Sony neben sich auf den Boden und sah durch das Fernglas. Eine neue Gestalt war in der Basis unter ihm aufgetaucht, die erste, die David entdeckt hatte, die keine übliche Armeeuniform trug. Der Mann war mit einfachen schwarzen Hosen und einem schwarzen Rollkragenpullover bekleidet. Er war so breit, daß es fast aussah, als wären seine Schultern ausgepolstert. Er ragte einen vollen Kopf über die Soldaten hinaus, an denen vorbei er sich in Richtung auf die Laster bewegte. Selbst im Dunkeln konnte David erkennen, daß etwas an seinen strohfarbenen Haaren seltsam war, einfach nicht stimmte. Das Haar hörte kurz vor den Ohren des großgewachsenen Mannes auf und umrahmte seinen Schädel, als hätten nur die von einem Topf geschützten Haarsträhnen den letzten Schnitt überlebt. Diese Vorstellung veranlaßte David, nach seinen langen braunen Locken zu greifen und eine Hand durch sie gleiten zu lassen.

Er hörte ein entferntes Rumpeln und richtete das Fernglas von dem Stützpunkt weg in Richtung auf die ungekennzeichnete Straße, die an ihm vorbeiführte. Er hielt es mit einer Hand fest, nahm den Sony wieder auf und drückte auf AUFNAHME. »Drei weitere Lastwagen nähern sich. Ebenfalls ohne Kennzeichen. In jeder Hinsicht identisch mit den anderen, die ich hierher verfolgt habe.«

Bei den Lastern handelte es sich um die gleichen Modelle, moderne und windschlüpfrige Schwertransporter. Modernste Fahrzeuge des Raumzeitalters aus glänzendem, hartem, grünem Stahl. Vermutlich gepanzert. David verfolgte sie mit dem Fernglas, während sie sich langsam in Richtung auf den Luftwaffenstützpunkt Miravo schoben, einen früheren Sitz des Strategischen Luftwaffenkommandos – des Strategie Air Command, auch als SAC bekannt –, der vor zwei Jahren aufgegeben worden war.

Sein Herz pochte noch immer vor Aufregung. Diesmal durfte er nicht wieder Mist bauen. Er hatte seine Lektion gelernt, als er vor Monaten Artikel für die College-Zeitung schrieb. Ein Freund aus dem Wohnheim, der im Krankenzimmer mithalf, hatte darauf bestanden, daß drei Studenten sich den Aids-Virus nach kurzen Aufenthalten dort zugezogen hatten. Nachdem die Geschichte veröffentlicht worden war, hatte seine Quelle jedoch alles abgestritten und David mit nur ein paar hingekritzelten Notizen zur Erhärtung seines Berichts zurückgelassen. Er war aus der Redaktion geworfen worden, und sein Traum, ein Enthüllungsreporter zu werden, hatte einen herben Rückschlag erlitten. Es war ihm peinlich, er sonderte sich von den anderen ab und hatte es nur mit Mühe und Not geschafft, den Rest des Semesters hinter sich zu bringen, bevor er das College verließ und seinen Jeep Wrangler in Richtung Westen steuerte.

Mitte April hatte er ein paar Freunde getroffen, die in den Colorado Rockies kampierten. Er hatte an diesem ersten Abend schon ein paar Dosen Bier in sich hineingeschüttet, als vier Schwertransporter über die kaum erkennbare Straße unter ihnen rollten.

»O Mann«, sagte einer seiner Freunde nachdenklich. »Das hört ja gar nicht mehr auf.«

»Was?« stieß David hervor und versuchte bereits, das Bier aus seinem Kreislauf zu vertreiben.

»Der dritte Abend, der dritte Konvoi. Na und?«

Seine Neugier war geweckt, und am nächsten Tag begleitete David seine Freunde nur bis zur nächsten Ortschaft, um dem örtlichen Elektronikladen einen Besuch abzustatten. Von dort kehrte er in die Berge zurück und begann seine nächtliche Wache, das Diktiergerät und den Camcorder stets einsatzbereit. Diesmal würde er die Sache nicht vermasseln. Diesmal würde er nicht ohne klare Beweise dastehen. Sein Traum war ihm zurückgegeben worden, und diese Chance würde er nicht vertun.

Dennoch war er nach drei ereignislosen Nächten innerlich schon zum Aufgeben bereit gewesen, als er in dieser Nacht in der tödlichen Stille und Dunkelheit von Colorado die Lastwagen in einer Entfernung von fast einem Kilometer heranrollen hörte.

David saß bereits am Steuer des Jeep Wrangler, als die Lastwagenkolonne vorbeifuhr. Da ihm klar war, daß er die Wagen problemlos verfolgen konnte, hielt er reichlich Abstand und fuhr langsam im Mondlicht dahin, so daß er das entfernte Rumpeln des Konvois gerade noch hören konnte. Da er die Scheinwerfer nicht eingeschaltet hatte, verwandelten sich die leichten Biegungen der Straße in hinterhältige Kurven, die dem Jeep Wrangler schwer zu schaffen machten.

Die längste Stunde seines Lebens ging vorbei, bevor die Scheinwerfer der Kolonne den Umriß des dichtgemachten Luftwaffenstützpunktes erhellten. Fünf Minuten später hatte David den Jeep Wrangler versteckt und diesen Aussichtspunkt in den Bergen gefunden, von dem aus sich der Stützpunkt gut einsehen ließ. Das war vor einer halben Stunde gewesen, und inzwischen war ein zweiter Konvoi angekommen. Er verfolgte die großen Laster mit seinem Fernglas bis zum Eingang der Basis. Sie rollten langsam aus und warteten darauf, daß das Tor geöffnet wurde.

Hastig holte David den Camcorder aus seiner Tragetasche und tauschte ihn gegen das Fernglas aus. Er war sich nicht sicher, ob die Nacht viel hergeben würde, insbesondere aus dieser Entfernung, doch es sollte genügen, um zu zeigen, wie die soeben angekommenen Lastwagen in die Basis fuhren. Er hatte keine Ahnung, worauf er da eigentlich gestoßen war. Doch was immer es war, wenn er es nicht dokumentierte, war es so gut wie nichts.

Er versuchte, das Bild schärfer zu stellen, als in der Luft das Tosen einer Düsenmaschine erklang. Ein Flugzeug ging im langsamen Anflug auf die Basis nieder. David folgte ihm mit den Blicken und bemerkte, daß eine Reihe von Lichtern jenseits der Gebäudelinie am Rande des Stützpunktes aufleuchteten. Die Lampen einer Landebahn. Er hielt den Camcorder wieder vor sein Auge.

Die Kamera fing das Flugzeug ein, wie es neben den Gebäuden aufsetzte. Die großen Laster ließen augenblicklich wieder ihre Motoren anlaufen und bewegten sich als Kolonne auf die Lichter der Landebahn zu.

»Verdammt«, murmelte David und ließ den Camcorder wieder sinken. »Verdammt!«

Die Gebäude in der Basis nahmen ihm die Sicht auf alles, was nun passieren würde. Entweder würde die Fracht der sechs Lastwagen in das Flugzeug umgeladen werden, oder umgekehrt. Und von dieser Position aus ließ sich in keiner Weise ausmachen, woraus die Fracht bestehen mochte. Er hatte nur eine Wahl: in den Stützpunkt einzudringen und die Männer während der Umladearbeiten zu filmen. Sein Mund war wie ausgetrocknet, doch er ließ die Feldflasche eingepackt. Er verstaute den Camcorder im Rucksack und zog die Gurte über seine Arme. Dann lief er den Hang hinab auf den stählernen Zaun zu, der den Stützpunkt umschloß.

Er erreichte ihn kaum vier Minuten später, nachdem er der flüchtigen Aufmerksamkeit der patrouillierenden Soldaten entgangen war. Die Höhe von rund drei Metern zu überwinden, schien ihm möglich zu sein, und David schob sich auf eine dunkle Ecke zu, die von den Wachen nicht einsehbar war. Mit Zufriedenheit bemerkte er zudem, daß an dieser Stelle der Stacheldraht fehlte.

David nahm Anlauf und kam auf Anhieb bis auf einen knappen Meter unterhalb des oberen Zaunrands. Der Rest war einfach. Er kletterte über den Rand und sprang auf die andere Seite hinab. Er sah sich rasch um und rannte dann los, überwand eine weitläufige Strecke zu einem Gebäude nahe der Landebahn und hielt sich dabei weitgehend in den dunkleren Bereichen. Er holte ein paarmal tief Luft, drückte sich gegen die Wand und bewegte sich auf die nach oben gerichteten Lichtkegel der Landebahnlichter zu.

Mehrere Flutlichter, die auf nahe gelegenen Gebäuden befestigt waren, erhellten deutlich die Szene vor ihm. Das schwere Transportflugzeug befand sich knapp zweihundert Meter entfernt auf der Landebahn. Der große Mann mit dem strohfarbenen Haar, das nicht zu seinem Kopf zu passen schien, stand unmittelbar davor, die Hände in die Seiten gestemmt. Während David zusah, bedeutete er dem ersten der ordentlich in einer Reihe geparkten Laster, sich nun zu nähern. Augenblicklich bewegte sich das vorderste Gefährt rückwärts auf den offenen Frachtraum des Flugzeugs zu. David nahm es mit freudiger Erregung zur Kenntnis, doch zu seiner großen Enttäuschung glitt der Laster so weit die Rampe hinauf, daß ihm der Umladevorgang verborgen bleiben mußte. Der Mann in Schwarz verschwand im Frachtraum. Er konnte nun keine Aufnahmen davon machen, was immer auf die Lastwagen oder von ihnen herab befördert wurde. David hatte keine Möglichkeit, so nahe heranzukommen, daß er den Camcorder benutzen konnte.

Während er die Szene beobachtete, kam ihm plötzlich eine Idee. Knapp hundert Meter entfernt war einer der zuletzt angekommenen Laster etwas abseits von den anderen auf der Landebahn zum Stehen gekommen, und seine Rückseite war ihm fast direkt zugewandt. Keine Wachen waren in der Nähe; alle, die er sehen konnte, hielten sich rund um das wartende Flugzeug auf.

David traf seine Entscheidung zwischen zwei Herzschlägen. Die Nacht hielt während einer kurzen Strecke noch immer ihren schützenden Mantel über ihn, aber dann war er im Freien, die Luft tief in die Lungen gepreßt. Daß die Insassen des Lasters seine raschen Schritte auf dem Asphalt nicht gehört hatten, führte er auf den vor sich laufenden Motor zurück. David erreichte die Rückseite des Lasters und lehnte sich dagegen. Seine Schultern fanden keinen Widerstand, und er begriff, daß die Laderaumklappe bereits hochgezogen war und nur noch eine Plane herabhing. David griff danach und zog sie zur Seite, um ins Innere zu spähen.

Der Anblick verwirrte ihn zunächst, bis er genauer hinsah. Er vergaß fast zu atmen. Sein Blut schien sich zu verdicken und langsamer zu fließen.

»Mein Gott …«

David war sich nicht sicher, ob er die Worte von sich gab oder nur dachte. Zitternd ging er in die Hocke und zog den Rucksack von seinen Schultern. Er holte den Camcorder heraus und setzte ihn ans Auge. Ein Schwenk von ein paar Sekunden, näher heran und dann nichts wie weg von hier. Seine Hand machte nicht mit, während er sich verzweifelt bemühte, die Kamera ruhig zu halten. Er schwenkte noch einmal über den Inhalt des Lasters und machte eine scharfe Nahaufnahme.

»He!«

Der Schrei ging ihm durch Mark und Bein. Er wirbelte herum und erspähte zwei Soldaten, die von der Landebahn her auf ihn zuliefen. Er drehte sich um und raste in Richtung auf die Vorderseite der Basis.

»Stehen bleiben!«

Als er ihrer Aufforderung nicht folgte, zerrissen Gewehrschüsse die Nacht. Er hörte hinter sich die Einschläge in rascher Folge, während er zwei Gebäude passierte, die sich in der Dunkelheit hinter ihm verloren.

Was ging hier vor? Was, in Gottes Namen, wurde hier gespielt?

Er mußt hier wieder rauskommen, mußte das Band herausbringen. Als der Zaun in Sicht kam, steckte er den Camcorder in seine Jacke.

Er sprang an ihm hoch, ohne auch nur einen Augenblick langsamer zu werden. Diesmal konnte er sich nur eine Armlänge unterhalb des oberen Randes am Draht festkrallen. Doch hier war der Stacheldraht noch intakt, und seine rechte Hand explodierte vor Schmerz, als er sich nach oben und über den Rand zog. Als er sich auf der anderen Seite vom Zaun abstieß, spürte er, daß der Stacheldraht sich tiefer in sein Fleisch bohrte. Er kam hart auf dem Boden auf, fiel und kämpfte sich wieder auf die Füße. Die Luft brannte in seinem Hals. Er konnte nicht einmal richtig Atem holen, wagte es jedoch nicht, langsamer zu werden.

Er überquerte die Straße und rannte den Berghang hinauf auf den Jeep Wrangler zu. Er erreichte ihn, während er schwer nach Luft rang. Ein kurzer Seitenblick auf seine rechte Hand zeigte ihm einen tiefen, blutigen Riß, der sich über den ganzen Handballen zog. David hielt sie gegen seine Brust, während er mit der linken Hand die Schlüssel aus der Tasche nestelte und die Tür aufriß. Er kämpfte gegen aufkommende Schwindelgefühle an, kletterte in die Fahrerkabine des Jeeps und verstaute die Kamera auf dem Beifahrersitz. Seine linke Hand führte den Schlüssel ein und drehte ihn.

Der Jeep Wrangler machte einen Satz.

David schaltete die Frontscheinwerfer nicht ein. Er raste auf der unmarkierten Straße hinab und drückte das Gaspedal des Jeeps gefährlich tief durch. Er balancierte das Lenkrad mit dem Ballen der verletzten rechten Hand, während er mit der linken einen schweißdurchnäßten Streifen aus seinem Hemd riß. Indem er seine Zähne zu Hilfe nahm, gelang es ihm, den Streifen in einen behelfsmäßigen Verband zu verwandeln und ihn so fest wie möglich um die rechte Handfläche zu wickeln. Er kannte ein paar Nebenstraßen, die ihm helfen mochten, möglichen Verfolgern zu entkommen, aber er mußte sie mit Höchstgeschwindigkeit nehmen und hatte dabei nur eine Hand zur Verfügung.

Er schoß an der ersten Straße vorbei und warf den Rückwärtsgang ein, daß es nur so kreischte. Ein besorgter Blick in den Rückspiegel ließ keine Anzeichen von Verfolgern ausmachen. Er nahm die Abbiegung und schaltete die Scheinwerfer an.

»Komm schon! Komm schon!«

David versuchte, dem Jeep noch mehr Geschwindigkeit abzuringen. Er schloß die rechte Hand fester um das Lenkrad, doch ein bohrender Schmerz durchzuckte sie. Er löste die Hand und spürte, wie noch mehr Blut durch den behelfsmäßigen Verband drang. Der Jeep sprang über eine Unebenheit, und die Videokamera rutschte vom Beifahrersitz. David streckte die verletzte Hand aus, um sie festzuhalten. Blut tropfte auf das Stahlgehäuse des Camcorders, doch das Band war sicher in ihm eingeschlossen und blieb unberührt.

Seine Augen zog es immer wieder unruhig zum Rückspiegel. Noch immer strahlten keine verfolgenden Scheinwerfer zu ihm zurück.

Seine Eingeweide revoltierten, als eine weitere Unebenheit den Stoßdämpfern des Jeeps mehr zu tun gab, als sie aushielten. David sah erneut in den Rückspiegel, als ihn eine Welle von Übelkeit überkam. Er konnte den Wrangler gerade noch anhalten, dann mußte er sich übergeben.

»Mein Gott«, murmelte er, nachdem er sich erleichtert hatte und kaum mehr Luft bekam. »Mein Gott!«

David fuhr weiter.

Sein Plan hatte darin bestanden, der Sonne entgegen zu fahren, auf das Licht zu und den ersten Hinweis auf Sicherheit. Eine Polizeistation oder eine Kaserne der Highway-Patrouille – egal was. Aber jetzt war ihm klar, daß er nicht so weit kommen würde. Die Schmerzen in seiner blutenden Hand machten ihn benommen. Er biß unentwegt in seine Unterlippe, um sich bei Bewußtsein zu halten.

Plötzlich geriet ein Schild am Straßenrand in den Bereich seiner Scheinwerfer. David verlangsamte den Jeep und sah genauer hin. Das Schild klappte im Wind hin und her, so daß es kaum zu erkennen war. David schaltete die Dachscheinwerfer zu, um die Worte lesen zu können: GRAND MESA.

Die Jahre hatten genug vom Holz des Schildes verschont, so daß die Schrift noch lesbar war, zusammen mit einem Pfeil, der nach rechts wies.

Eine Stadt! Es mußte eine Stadt sein!

David bog bei der nächsten Gelegenheit rechts ab und trieb den Jeep weiter voran.

Am Stadtrand flackerte das ZIMMER-FREI-Schild eines Motels, dessen Glühbirnen nur noch zur Hälfte intakt waren. Ungefähr ein Dutzend Wohneinheiten waren L-förmig angelegt, und nur drei Autos standen auf dem Parkplatz.

David war noch geistesgegenwärtig genug, um an dem Motel vorbeizufahren und den Wrangler drei Blocks weiter auf dem Parkplatz hinter einer Tankstelle mit Werkstatt abzustellen. Während er zu dem blinkenden Schild zurückging, hielt er seine verletzte Hand gegen die Tasche gedrückt, in die er die Kamera gesteckt hatte, um sich zu vergewissern, daß sie noch vorhanden war.

Er wollte sich im Hotel anmelden und seine Schwester anrufen. In Washington war es fünf Uhr morgens. In einer Stunde würde sie aufstehen, um einen weiteren langen Tag als Bürovorsteherin der Senatorin Jordan aus Florida zu beginnen. David hatte sie deswegen oft verspottet und der Speichelleckerei bezichtigt. Jetzt war ihre Position vielleicht das einzige, was sein Leben zu retten vermochte.

Die Tür zur Rezeption des Motels war verschlossen, und David drückte ein halbes Dutzend Mal die Klingel, bevor eine Lampe aufleuchtete. Seine Augen suchten unentwegt die Straße ab, ob Verfolger aus dem Stützpunkt auftauchten.

»Morgen«, begrüßte in ein Mann in einem roten Bademantel schläfrig.

»Ich brauche ein Zimmer«, sagte David so ruhig, wie er es vermochte, und hielt seine gefühllose, bluttropfende Hand verborgen.

»Das habe ich mir schon gedacht. Kommen Sie rein.«

Während er in das Büro taumelte, gelang es David, zwei Zwanzig-Dollar-Scheine in die unverletzte Hand zu nehmen und sie dem Portier mit der Bemerkung zu geben, den Rest solle er behalten. Er wollte die verletzte Hand in dem Zimmer reinigen und verbinden, so gut er es konnte. Vielleicht würde er sogar den Portier rufen und einen weiteren Zwanziger gegen etwas Alkohol und Verbandzeug tauschen. Aber zuerst mußte er ans Telefon. Zuerst mußte er seine Schwester Kristen erreichen, dann konnte er etwas gegen die Schmerzen unternehmen.

David verschloß die Tür von Zimmer sieben hinter sich und legte die Kette vor. Der Raum war mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl, einem Fernsehgerät und einer Spiegelkommode eingerichtet. Das war alles, abgesehen vom Badezimmer. Ach Gott, wie dringend wollte er duschen. Was von seinem Hemd übrig war, war völlig verschwitzt. Seine langen Haare waren feucht und verfilzt.

Aber die Dusche mußte warten. Das Telefon stand auf dem Tisch, und er knipste die kleine Lampe darüber an, bevor er Kristens Nummer wählte. Die Augen auf die heruntergelassene Jalousie gerichtet, immer in Erwartung von durchschimmernden Scheinwerfern, wartete er sehnsüchtig darauf, daß seine Schwester den Hörer abnahm. Er ließ die verletzte Hand hinabhängen, und das Blut tropfte ungehindert auf den Teppich.

Ein Freizeichen. Noch eines.

»Komm schon«, drängte er. »Komm schon.«

Das dritte Freizeichen. Dann ein Klicken.

Gott sei Dank!

»Kristen«, begann David.

»Hallo, hier spricht Kristen Kurcell. Ich bin jetzt nicht zu Hause, aber nach dem Signalton können Sie eine Nachricht …«

»Verdammt!«

Fünf Uhr an diesem verfluchten Morgen, und sie war nicht zu Hause. Oder vielleicht war sie zu Hause und hatte nur den Anrufbeantworter angestellt, damit das Telefon sie nicht wecken konnte. Die Ansage war zu Ende. Der Pfeifton kam.

»Kristen, bist du da? Kristen, hier ist David. Wenn du da bist, nimm bitte ab. Nimm ab!«

Am Ende schrie er fast. Er begriff, daß sie entweder nicht zu Hause war oder ihn nicht hören konnte.

»Na schön«, fuhr er fort, wieder etwas gefaßter. »Ich habe Probleme, Kris, große Probleme. Du wirst es nicht glauben, aber vor einer Stunde habe ich gesehen …«

Die Tür des Motelzimmers wurde eingeschlagen. Die Kette rasselte. Splitter und Holzbruchstücke flogen in alle Richtungen.

»Nein«, murmelte David, und dann schrie er: »Nein!«

Der große Mann in Schwarz mit dem unpassenden strohfarbenen Haar auf dem Stützpunkt tauchte zwischen den Überresten der Tür auf. David hatte den Mund aufgerissen, um zu schreien, als das Gewehr in der Hand des Mannes zweimal dröhnte. Er spürte die Kugeln wie Tritte gegen seine Brust, seine Schultern wurden gegen die Wand geworfen. Das Telefon entglitt ihm. Seine Füße gehorchten ihm nicht mehr. Er fühlte, wie er zu Boden stürzte. Seine Augen sahen zuletzt nur noch den Telefonhörer, der über der Blutlache baumelte, die seine verletzte Hand verursacht hatte.

Dann stand der große Mann bedrohlich über ihm, und etwas Glänzendes senkte sich auf Davids Kopf. Bevor es in ihn eindrang, verdrängte die Dunkelheit alles andere.