Vier

Es schneite. In Halberstadt hatte es begonnen, und je länger der Bus sich durch die Nacht und über schneeverwehte gewundene Straßen quälte, desto dichter fielen die Flocken. Glücklicherweise arbeitete die Heizung auf Hochtouren. Die Scheiben waren beschlagen, und jedes Mal, wenn Nico ein Gucklock frei rieb, wuchs es in wenigen Minuten wieder zu. Es gab sowieso nichts zu sehen. Je höher sie kamen, desto einsamer wurde es. Die Scheinwerfer des Busses reichten gerade so weit, dass der Fahrer die nächsten Meter der Piste erkennen konnte. Ab und zu schnitten die Lichtkegel Bilder von tief hängenden Tannenzweigen aus der Dunkelheit, von schroffen Felswänden und uralten niedrigen Mauern – Schutz vor besonders gefährlichen Abgründen.

Irgendwann erreichten sie eine Weggabelung und es ging wieder bergab. Außer Nico saß noch rund ein halbes Dutzend weiterer Fahrgäste im Bus. Sie dösten oder lasen im schummrigen Licht ein Buch oder eine Zeitung. Außer ihr hatte niemand eine Reisetasche dabei.

Der Bus gewann an Fahrt. Nico hielt sich instinktiv an der Vorderlehne fest, denn bei diesen Wetterverhältnissen war es ein fast halsbrecherisches Tempo. Sie hielt den Blick auf den Boden geheftet. Jedes Mal, wenn der Fahrer eine Kurve mit Karacho nahm, hatte sie Angst, sie würden über die Leitplanke hinaus direkt in die Tiefe stürzen. Tatsächlich fiel einmal der Besen aus der Gepäckablage. Eine Frau in einem dicken Alpakamantel reichte ihn ihr mit einem merkwürdigen Blick zurück. Endlich wurde der Bus langsamer. Der Motor heulte noch einmal auf und eine erste Straßenlaterne leuchtete von ferne wie eine Verheißung von Ankunft und Wärme.

»Altenbrunn«, schepperte es durch den Lautsprecher.

Die wenigen Mitfahrer sammelten ihre Siebensachen ein. Nico wischte das Fenster wieder frei. Sie sah Fachwerkhäuser mit schwarz verharzten Balken, Türmchen und Giebeln. Hinter manchen Fenstern brannte Licht. Das sah wunderschön und gemütlich aus. Nico wünschte, sie würde in einem dieser Häuser erwartet.

Der Bus hielt mit keuchenden Bremsen am Marktplatz.

»Sankt Ritter!«

Alle stiegen aus. Nur Nico blieb zurück. Der Motor erstarb mit einem Zittern, der Busfahrer drehte sich zu ihr um.

»Und nu?«

»Ich wollte nach Siebenlehen.«

Der Fahrer brummte etwas vor sich hin und angelte nach seiner Winterjacke, die er hinter dem Sitz verstaut hatte.

»Wie bitte?«

»Geht nicht mehr«, sagte er. »Die Straße ist gesperrt. Tut mir leid, da müssen Sie wohl laufen, Frolleinchen.«

Das Frolleinchen in Nico reagierte bestürzt.

»Laufen?«

»Jawoll. Fortbewegungsart. Einen Fuß vor den anderen. Sind nur zwei Kilometer. Aber der Bus schafft das nicht mehr. Endstation. Morgen früh um fünf kommen die Räumfahrzeuge, dann fahren wir auch Siebenlehen wieder an.«

»Warum haben Sie mir das denn nicht gleich gesagt?«

Der Fahrer wies auf das Schneegestöber. »Bin ich Petrus? Das kommt im Winter öfter vor. Was wollen Sie denn in Siebenlehen?«

»Ich … ähm …« War es klug, einem Wildfremden zu sagen, was sie vorhatte? »Ich hab ein Zimmer im Schwarzen Hirschen.«

»Und da holt Sie keiner hier ab? Die haben doch alle Schneeketten. Sehen Sie da oben das Haus?«

Nico folgte seiner ausgestreckten Hand und drehte sich um.

»Das ist der Brunner Jodlermeister. Die haben Zimmer. Da können Sie auch telefonieren.«

»Danke. Ich hab ein Handy.«

»Das ist hier nicht das gleiche. Also?«

Nico nahm den Besen, hängte sich ihre Messenger-Bag quer über die Brust, angelte nach ihrer Tasche und stieg aus. Flaumiger, weicher Neuschnee lag knöchelhoch auf dem festgefrorenen Boden. Sie folgte den Fußspuren der anderen, die schon längst in alle Richtungen verschwunden waren. Der Busfahrer stieg aus, schlüpfte in seine Jacke und verschloss die Tür. Die Hydraulik seufzte.

»Gute Nacht!«, rief er ihr zu und stapfte in die Dunkelheit.

»Gute Nacht«, murmelte Nico.

Es war gerade mal sieben Uhr. Sie sah sich um. Hinter ihr stand ein Wartehäuschen. Sie stapfte darauf zu in der Hoffnung, einen Plan der näheren Umgebung zu finden. Es schien noch kälter geworden zu sein. Nicos Atem bildete weiße Wolken. Die Flocken verwandelten sich in Kristalle und der Schnee funkelte im Licht der einzigen Straßenlaterne wie Diamantenstaub.

Tatsächlich war hinter dem Glas so etwas wie eine Wanderkarte angeheftet. Altenbrunn war kein rundes, sondern ein in die Länge gezogenes Dorf, das sich ans Ufer des Flüsschens Bode schmiegte. Die Straße führte in den Ort hinein und dann in Schlangenlinien weiter hinauf in die Berge. Die nächste Ansiedlung war Siebenlehen.

Nico checkte ihr Handy. Ein Anruf ihrer Mutter, zwei von Valerie, eine SMS. Wahrscheinlich hatte sie während der Fahrt keinen Empfang gehabt. »Gut angekommen? Melde dich! Vallie«. Mit Handschuhen war es unmöglich, eine Antwort zu tippen. Nico ließ das Gerät zurück in die Tasche gleiten und trat noch einmal an den Plan, um sich zu orientieren. Ein rotes Kreuz markierte den Punkt, an dem sie stand. Wenn sie sich nach rechts drehte und der Straße folgte, würde sie über kurz oder lang direkt in Siebenlehen landen. Stramm marschiert eine knappe halbe Stunde. Sie schulterte ihre Tasche, packte den Besen und ging los.

Innerhalb weniger Minuten hatte sie den Dorfrand hinter sich gelassen. Die Dunkelheit umschloss sie wie ein Tunnel. Kein Mond, keine Sterne waren durch die dichte Wolkendecke zu entdecken. Erst allmählich gewöhnten sich Nicos Augen an das wenige Licht, das der Schnee noch reflektierte. Die Straße verengte sich, wurde zu einem Weg, der kaum noch zwei Autos aneinander vorbeigelassen hätte, und ging bergauf. Riesige Tannen mit tief hängenden Zweigen standen eng beieinander. Der Wald rückte so nah an die letzten Streckenpfosten heran, dass er eine fast undurchdringliche Wand bildete. Nico legte einen Zahn zu. Ihr wurde warm unter der dicken Jacke. Die Tasche schien ihr Gewicht verdoppelt zu haben. Den Besen schleifte sie hinter sich her. Einmal blieb sie kurz stehen und schaute zurück. Die Straße hinunter nach Altenbrunn verschwand hinter einer sanften Biegung im Dickicht, vor ihr schlängelte sie sich weiter hinauf in die Dunkelheit. Kein Licht weit und breit.

Nico holte ihr Handy heraus und stellte fest, dass sie schon wieder keinen Empfang hatte. Zwanzig Minuten war sie jetzt unterwegs. Siebenlehen konnte nicht mehr weit entfernt sein. Doch die Strecke zog sich. Es ging noch steiler hinauf. Mehrmals geriet sie ins Rutschen. Einmal konnte sie sich gerade noch an einem Tannenzweig festhalten, was zur Folge hatte, dass gefühlte zehn Tonnen Schnee auf sie herunterprasselten. Jeder Schritt wurde zu einer gewaltigen Anstrengung. Entweder war sie vom Weg abgekommen oder hier oben hatte man seit Tagen nicht mehr geräumt. Die halbe Stunde war längst verstrichen.

Als sie ihr Handy noch einmal herausholte, zitterten ihre Hände so stark, dass es ihr hinunterfiel und sie ohne Handschuhe danach suchen musste. Als sie es endlich gefunden hatte, glaubte sie, ihre Finger wären erfroren. Eine knappe Stunde war sie nun schon unterwegs. Sie hätte längst in Siebenlehen sein müssen. Der Gedanke, dass sie in die Irre gelaufen war, ließ ihr die Tränen in die Augen schießen. Was sollte sie tun? Umkehren? Der Schnee reichte ihr fast bis zum Knie. Ihre Jeans war schon völlig durchnässt, und langsam, ganz langsam keimte in Nico der Verdacht, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, ganz allein ins Ungewisse aufzubrechen.

Das Motorengeräusch kam aus weiter Ferne. Erst klang es wie eine wütende Hummel, dann wurde es lauter. Jemand arbeitete sich gerade genauso wie sie von Altenbrunn nach Siebenlehen durch. Mit dem Unterschied, dass dieser Jemand einen Jeep oder etwas ähnlich Kraftvolles über den fast unpassierbaren Weg nach oben quälte. Immer wieder jaulte der Motor auf. Nico blieb keuchend stehen. Sie sah Scheinwerfer durch die Baumstämme blitzen, verschleiert von dichter fallenden Flocken. Sie blieb in der Mitte des Weges stehen, ließ Besen und Tasche fallen und wartete.

Der Wagen pflügte sich um die Ecke und hielt direkt auf sie zu. Nico hob die Arme und winkte, aber der Fahrer schien sie nicht zu sehen.

»Hallo!«, schrie sie. Aber wie sollte er sie hören? Im grellen Licht sah sie nur noch eine wirbelnde weiße Wand. »Hallo?«

Die Lichter kamen näher, noch näher. In letzter Sekunde warf sich Nico zur Seite. Der Aufprall im Schnee war hart. Sie hörte brechendes Holz und ein dumpfes Poltern – wahrscheinlich hatte dieser Irre auch noch ihre Reisetasche auf dem Gewissen –, rasselnde Schneeketten, ein letztes Aufbäumen des Motors, eine quietschende Bremse, das Schlagen einer Tür. Sie lag volle Breitseite mit dem Gesicht in einer Schneewehe und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Schritte näherten sich. Es hörte sich an, als liefe jemand durch quietschendes Plastikpulver.

»Alles in Ordnung?« Eine Männerstimme, jung. Anfänger. Vollpfosten.

Nico stützte sich auf die Arme, prustete, schüttelte sich, rieb sich den Schnee aus dem Gesicht und hob die Hand vor die Augen. Sogar die Rücklichter des Wagens blendeten noch. Ihr wurde bewusst, dass sie aussehen musste wie ein Yeti. Sie rang nach Luft und nach Worten, als er noch einen Schritt auf sie zutrat und sie am Arm packte.

»Sind Sie völlig verrückt geworden? Haben Sie sich verlaufen? Kein Mensch nimmt bei diesem Wetter den Wanderweg auf den Brocken!«

Mühsam kam sie mit seiner Hilfe auf die Beine. Er ließ sie los. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie spürte, dass er unsicher geworden war. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, eine Siebzehnjährige über den Haufen zu fahren. Besser gesagt: eine Achtzehnjährige minus drei Tage, dachte sie trotzig.

»Der Brocken? Wo?« Mehr fiel ihr nicht ein. Sie wollte nach Siebenlehen, nicht mitten in der Nacht auf einen Gipfel. Wahrscheinlich hatte er sich verfranst. Aber da konnte sie ihm auch nicht weiterhelfen.

Er trat zurück. Sie erkannte die schlanke, hochgewachsene Silhouette eines Bergsteigers. Oder Schlittenhundführers. Oder Polarkreisexpeditionsteilnehmers. Er trug einen dicken, wattierten Anorak mit Kapuze, eine Wollmütze mit Ohrenklappen und kniehohe, extrem derbe Stiefel.

»Sprechen Sie deutsch? German? English? Français?«

Der Schnee auf ihrem Gesicht taute. Das Wasser lief ihr die Wangen hinunter. Offenbar hielt er sie für eine durchgeknallte Touristin, die in stockdunkler Nacht auf den höchsten Berg Norddeutschlands klettern wollte. Er machte eine Bewegung und der Lichtstrahl einer Taschenlampe traf ihre Augen. Sie hob die Arme vors Gesicht, weil er sie wieder blendete. Wahrscheinlich war ihr Mund eingefroren, denn während er den Lichtkegel an ihrer Gestalt herunterwandern ließ, ballte sich die Wut in ihr. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein?

»Come on.« Er drehte sich weg und leuchtete die völlig verschneite Straße ab. »We’ll pick up your bag and I will bring you back to Altenbrunn. Crazy.«

»Ich will nicht nach Altenbrunn.« Sie hatte das Gefühl, ihre Kiefer müssten erst einmal auftauen.

Der Mann leuchtete ihre Tasche an und ging entschlossen darauf zu. Nico folgte ihm. Die Reifenspur ging quer über den Baumwollstoff. Der Reißverschluss hatte dieser Beanspruchung nicht standhalten können. Er war aufgeplatzt und zu Nicos Entsetzen fielen beim Aufheben ihr Pyjama und ein Paar Hausschuhe heraus – die dicksten, wärmsten, die sie besaß. Dunkelblauer Plüsch mit je einem Bärchenkopf an der Fußspitze und entzückenden, treuen Knopfaugen aus Glas. Sie hatte sie nie getragen. Und sie schwor sich in diesem Moment, in dem ihr merkwürdiger Retter ein Schnauben ausstieß, das sich verdächtig nach einem unterdrückten Lachen anhörte, es auch niemals zu tun.

»Hier«, sagte er. »Sie haben noch etwas verloren. Einen … ähm … Badeanzug?«

Sie riss ihm das Teil aus der Hand. »Ja. Danke. Ich will nach Siebenlehen. Lassen Sie sich nicht aufhalten. Weit kann es ja nicht mehr sein.«

Sie stopfte alles in die total ramponierte Tasche zurück. Etwas schepperte. Wahrscheinlich war der MP3-Player samt Zahnbürste ein Fall für den Müll. Aber sie wäre lieber gestorben, als den Rest ihrer Habe hier vor diesem rücksichtslosen Wilderer auszubreiten.

»Da sind Sie aber ganz schön auf dem Holzweg. Wohl nicht in die Wanderkarte geguckt, was?«

Konnte er nicht einfach seinen Mund halten? Sie klemmte die Überreste ihrer Tasche unter den Arm und sah sich suchend um.

»Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Ich muss da nämlich auch hin.«

»Mit einem Jeep über den Wanderweg? Wohl kein Navi dabei, was?«

Er grinste, wahrscheinlich. Genau konnte das Nico nicht erkennen, denn der Schnee fiel mittlerweile so dicht wie in einem schlechten Charles-Dickens-Film. Der Fremde war einen Kopf größer als sie und hatte, wie er nun die Hände in die Vordertaschen seiner Outdoor-Hose schob, etwas derart unverschämt Lässiges, dass sie ihn am liebsten so stehen gelassen hätte.

»Die Hauptstraße ist gesperrt. Mehrere Äste sind durch die Schneelast abgebrochen und auf die Fahrbahn gefallen. Das hier«, er wies mit einer Kopfbewegung auf den schmalen Weg, der sich hinter den Scheinwerfern in absoluter Finsternis verlor, »ist der einzige Zugang, den es noch nach Siebenlehen gibt. Und wenn wir uns nicht beeilen, ist auch der demnächst verschwunden. Wohl keinen Wetterbericht gehört, was?«

Er ging zu seinem Wagen und öffnete die Beifahrertür. Nico überlegte nicht lange. Er schien zumindest nicht vorzuhaben, sie umzubringen. Wenn das tatsächlich der Wanderweg auf den Brocken war, dann war sie grandios in die Irre gelaufen. Zurück nach Altenbrunn war es eine Stunde. Und ob sie um diese Uhrzeit noch ein Zimmer bekommen würde …

»Okay. Danke.«

Am Wagen nahm er ihr die Tasche ab und warf sie auf den Rücksitz.

»Moment! Ich hab noch was vergessen.« Sie drehte sich um und lief zurück auf den Weg. »Können Sie noch mal leuchten? Ich habe was verloren.«

Er knipste die Taschenlampe an und folgte ihr. Die Reifen des Jeeps hatten den Besen tief in den Schnee gedrückt. Sie bückte sich und begann, ihn auszugraben.

»Oh nein!« Anklagend hielt sie ihm den halben Stiel entgegen. »Er ist kaputt!«

Neugierig kam der Fremde näher. »Was ist das?«

Sie scharrte die andere Hälfte heraus und kam wieder auf die Beine.

»Ein … Besen?«, fragte er. »Sie laufen nachts bei minus zehn Grad auf den Brocken – mit einem Badeanzug und einem Besen?«

Nico marschierte wortlos zum Wagen und warf beide Teile des Besens auf ihre Reisetasche. Dann stieg sie ein und knallte die Tür zu. Der Mann öffnete die Fahrertür und nahm ebenfalls Platz. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Die Lichter des Armaturenbrettes beleuchteten sein Gesicht. Es war schmal, mit einer gerade geschnittenen Nase und einem eigentlich sanft wirkenden Mund, wenn nicht dieses spöttische Lächeln gewesen wäre. Er drehte sich zu ihr um, und sie bemerkte, dass er dunkle Augen hatte. Braune Haarfransen fielen ihm in die Stirn. Er sah gut aus. Aber den Blick, mit dem er sie ansah, hätte er sich schenken können.

»Wohl zu viele Märchen gelesen, was?«, fragte er und fuhr los.

Der Jeep war neu und musste ein Vermögen gekostet haben. Ihr Retter beherrschte ihn, als wäre er ein lebendiges Wesen. Er trieb ihn über Schwellen und Anhöhen, hielt ihn zurück, wenn es wieder bergab über Stock und Stein ging. Er schien die Gegend wie seine Westentasche zu kennen, denn trotz der eingeschränkten Sicht hatte Nico, anders als beim Busfahrer, nicht das Gefühl, Todesängste ausstehen zu müssen. Im Gegenteil. Es war warm im Wagen, und der Typ hatte auch mit seiner Angewohnheit aufgehört, dämliche Fragen zu stellen, auf die es keine anderen als noch dämlichere Antworten geben konnte. Nico fühlte sich sicher und spürte, wie sie langsam auftaute. Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Weg sich verbreiterte. Sie erkannte einen völlig zugeschneiten Wegweiser.

»Sie sind ohne Lampe und Ausrüstung einfach so losgegangen?«

Er schaltete einen Gang herunter und drosselte den Motor, um eine enge Kurve zu nehmen. Der Wegweiser verschwand. Nico hätte schwören können, die geschnitzte Silhouette einer Hexe darauf erkannt zu haben.

»Es sind keine vier Kilometer. Ich dachte, das schaffe ich locker.«

»Wenn Sie die richtige Straße genommen hätten. Aber dieser Weg ist schon was für Fortgeschrittene. Sie hätten sich spätestens hier oben verirrt.«

Nico fröstelte. Ihr Fahrer schien es zu bemerken, jedenfalls stellte er die Heizung noch eine Stufe höher.

»Wo wollen Sie eigentlich hin in Siebenlehen? Das Hotel ist seit dem Sommer geschlossen.«

»Ich will nicht ins Hotel. Ich komme privat unter.«

»Bei wem?« Er sah sie wieder prüfend an. »Ich kenne alle in Siebenlehen. Es ist ein kleines Dorf. Da spricht es sich sowieso rum.«

Etwas in Nico flüsterte, ihm, einem Fremden, dem sie mitten in einem Schneetreiben begegnet war, nicht gleich alles zu verraten. Er hielt sie nicht erst seit dem Besen für nicht ganz zurechnungsfähig.

»Wer sind Sie?«

»Ich heiße Leon. Leon Urban. Meine Familie kommt aus Siebenlehen, lebt aber seit zwei Generationen in Wales. Ich studiere Geologie in Durham, das liegt im Nordosten Englands. Schon mal gehört?«

»Nein.«

»Und wie heißen … wie heißt du?«

Er bog in die nächste Kurve ein und machte das so schnell, dass Nico sich nicht mehr festhalten konnte und nahe, zu nahe an ihn heranrutschte. Sie glaubte nicht, dass er das absichtlich gemacht hatte.

»Ich heiße Nico!«, rief sie gegen das Aufbrüllen des Motors. »Ich hatte eine Tante, die in Siebenlehen gewohnt hat. Kiana. Kannten Sie – … kanntest du sie?«

Er antwortete nicht. Der Weg beanspruchte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Er sprach erst wieder, als die Strecke ebener wurde und in der Ferne ein schwacher Lichtschein zu erkennen war. Der Schneefall hatte sich verändert. Statt weicher, nasser Flocken schienen nun wieder winzige Eiskristalle herunterzurieseln. Es war noch kälter geworden. Ihr graute bei dem Gedanken an ein dunkles, fremdes Haus.

»Wir sind gleich da. Also, wohin soll es gehen?«

Er hatte sie sicher über den Berg und nach Siebenlehen gebracht. Sie beschloss, zumindest einen Teil ihres Misstrauens aufzugeben.

»Nach Schattengrund.«

»Schattengrund. Bist du sicher?«

»Ja«, antwortete sie. »Kennst du es?«

Sie näherten sich den ersten Häusern. Wenn es jemals eine Straße gegeben hatte, so war sie verschwunden unter einem weichen Teppich, der sich über Vorgärten und Zäune, auf Dächer und Bäume gelegt hatte wie eine schneeweiße Decke. Über dem Ort schien eine fast unwirkliche, verzauberte Atmosphäre zu liegen. Uralte Fachwerkhäuser duckten sich unter der weißen Last, Eiszapfen hingen an Dachrinnen und Straßenlampen. Einige Tannenbäume waren mit künstlichen Kerzen geschmückt. In manchen der kleinen Fenster leuchteten Schwippbögen, die meisten Bewohner aber hatten die Rolläden heruntergelassen. Siebenlehen wirkte wie ausgestorben. Wie aus einem alten Märchenbuch, dachte Nico, als sie an bizarren, schneeverwehten Bäumen vorüberfuhren. Ein nostalgischer Adventskalender, mit Glitzerstaub verziert und getaucht in den trüben Schein von Gaslaternen.

Sie kamen an einer kleinen Kirche vorbei. Der Fremde neben ihr bog links ab, dann wieder rechts, und Nico verlor die Orientierung, weil sie sich nicht sattsehen konnte an der fast rührenden Unschuld dieser Welt aus Schnee und Eis. Schließlich erreichten sie eine schmale Straße. Sie führte wieder ein Stück den Berg hinauf, weg von Siebenlehen, weg von den hübschen Häusern und dem gelben, weichen Licht der Straßenlaternen, in dem die glitzernden Flocken tanzten, und endete vor einem Gartenzaun, der fast im Schnee versunken war. Dahinter lag, ein ganzes Stück über dem Dorf, ein dunkles kleines Fachwerkhaus. Schattengrund.

»Wie hast du es gefunden?«, fragte sie erstaunt.

Er stellte den Motor ab. »Es gibt niemanden in Siebenlehen, der das nicht weiß.«

Schattengrund
titlepage.xhtml
cover.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-1.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-2.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-3.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-4.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-5.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-6.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-7.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-8.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-9.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-10.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-11.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-12.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-13.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-14.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-15.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-16.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-17.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-18.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-19.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-20.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-21.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-22.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-23.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-24.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-25.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-26.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-27.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-28.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-29.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-30.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-31.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-32.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-33.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-34.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-35.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-36.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-37.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-38.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-39.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-40.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-41.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-42.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-43.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-44.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-45.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-46.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-47.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-48.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-49.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-50.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-51.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-52.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-53.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-54.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-55.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-56.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-57.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-58.html
Herrmann_Schattengrund_ePUB-59.html