Siebenunddreißig
Gero Schumacher kehrte zurück in seine kleine 2-Zimmer-Wohnung im ersten Stock des Gemeindehauses. Das Gespräch mit den beiden jungen Leuten hatte ihn aufgewühlt. So vieles schien wieder in Bewegung gekommen zu sein. Gutes, aber auch Schlechtes. Sehr Schlechtes.
Die Wohnung, in der er lebte, diente ihm als privater Rückzugsort von den Sorgen und Problemen der Gemeinde. Er hatte sie mit einer Stereoanlage ausgestattet und einem Regal, das der Tischler aus Thale exakt der Dachschräge angepasst hatte. Es war voll mit Büchern. Auf dem Dielenboden lag ein Flickenteppich. Darauf standen schlichte Armlehner aus Birkenholz und ein runder, niedriger Tisch, auf dem er das Buch abzulegen pflegte, das er gerade las. Die Wasserkaraffe wurde jeden Tag von Frau Herold, der Gemeindeschwester, aufgefüllt.
Er wählte die Goldberg-Variationen von Glenn Gould. Als die Klavierläufe durch das Zimmer perlten, stellte er die Musik leise und nahm Platz. Er hätte gerne weitergelesen. Im Moment beschäftigte er sich mit einem archäologischen Bericht von der Auffindung der Qumram-Rollen. Noch bevor er seine Brille aufsetzen konnte, wusste er, dass er dazu weder die nötige Konzentration noch die Geduld aufbringen würde.
Er trank einen Schluck Wasser. Schließlich stand er wieder auf und ging ans Fenster. Von hier aus konnte er Teile des Friedhofs und die Rückansicht der kleinen Kirche sehen. Seine Gedanken wanderten zur heiligen Barbara, die immer noch in der Apsis stand. Die bleiche Wachsfigur war für ihn stets ein Sinnbild der Märtyrerin gewesen. Er hatte sich verboten, etwas anderes in ihr zu sehen. Das Gesicht eines Kindes, das er selbst gekannt hatte …
Die Heiligenfigur war Zacharias’ Buße. Seine Art, Reue zu zeigen. Fili, unvergessen … Die Vergebung ist des Herrn. Er dachte an das Matthäus-Evangelium und Petrus’ Frage, wie oft man seinem Bruder vergeben müsse, der sich versündigt hatte. Siebenmal?
Der Herr hatte Zacharias vergeben. Auch Trixi, auch Zita, allen, die echte Reue zeigten. Und ihm, Gero, dem Geringsten unter den Dienern? War auch ihm vergeben? Würde er ihm verzeihen, was ihn seit dieser Nacht vor zwölf Jahren verfolgte und ihm keine Ruhe mehr ließ? Bilder, die seinen Schlaf zernagten und seine Seele zerfraßen, geschluchzte, gestammelte Worte, die er nicht hören wollte … Das Gefühl, nur noch eine leere, funktionierende Hülle zu sein …
Und endlich, endlich war es still geworden in Siebenlehen, so friedlich und still. Kianas Tod hatte einige in diesem Dorf aufatmen lassen. Wo kein Kläger mehr, da kein Richter. Doch dann war dieses Mädchen aufgetaucht und fing an, dieselben Fragen zu stellen wie Kiana. Was genau war geschehen in jener Nacht? Und wo war er, Gero, gewesen? War es nicht an der Zeit, endlich die Wahrheit zu sagen? –Nein. Das wäre das Ende.
Er ging zurück zum Tisch und wollte sich neu einschenken, doch die Karaffe war leer. Er nahm sie mit in die Küche auf der anderen Seite der kleinen Wohnung. Während er das Wasser einlaufen ließ, fiel sein Blick durch das Fenster genau auf Schattengrund. In diesem Moment ging dort das Licht im Wohnzimmer aus. Gero kniff die Augen zusammen. Hatten seine Sinne ihm einen Streich gespielt? Nein. Die Haustür öffnete sich und heraus traten zwei dick vermummte Gestalten.
Über die Entfernung hinweg und verschleiert von zarten Schneenebeln konnte er nicht erkennen, um wen es sich handelte. Die Kleinere von ihnen musste das Mädchen sein, Nicola. Die andere aber … Das Wasser lief über. Hastig drehte er den Hahn zu, dabei machte er sich die Ärmel seines Hemdes nass. Er suchte ein Handtuch und trocknete erst die Karaffe und dann sich selbst ab. Mit dem Lappen in der Hand beugte er sich noch einmal ans Fenster. Die beiden waren weg.
Das gibt es doch gar nicht, dachte er. Sie müssten doch direkt auf mich zukommen. Er starrte hinaus, aber die Straße blieb leer. Mit einem Kopfschütteln hängte er das Handtuch weg. Waren sie etwa hinter das Haus gegangen, um Holz zu holen? Dafür musste man sich aber nicht einpacken wie auf einer Polarexpedition. Er wollte gerade nach der Karaffe greifen, als ihm eine weitere, ungeheuerliche Möglichkeit einfiel.
Er löschte das Licht und kehrte zum Fenster zurück. Dort blieb er stehen und wartete. Nach ein paar Minuten hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Er fuhr sich über die Augen und strengte sich noch mehr an, das Gelände hinter Schattengrund abzusuchen. Da. Da war es wieder.
Ein kleiner Lichtkegel blitzte zwischen den Bäumen am Hang auf. Er spürte, wie alles Blut aus seinem Kopf wich. Die Beine drohten ihm einzuknicken. Er musste sich auf dem Waschbecken abstützen. Als er sich gefangen hatte, wagte er einen letzten Blick hinaus in den Wald – auf die dunkle, gewaltige Felswand des Berges, die sich hinter Schattengrund erhob.
Sie machten sich auf den Weg. Ihm war klar, wohin sie wollten. Sie suchten nach den letzten Spuren. Und er, Gero, hatte sie erst auf die Idee gebracht.
Das war Wahnsinn. Er durfte das nicht zulassen. Er musste schneller sein.
Gero Schumacher stürzte aus seiner Wohnung, und erst in letzter Sekunde dachte er daran, Schal, Mütze und Handschuhe mitzunehmen. Es war kalt draußen. Fast so kalt wie vor zwölf Jahren. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel es ihm wieder ein. Nicht nur siebenmal musst du vergeben, sprach Jesus, sondern siebenundsiebzigmal. Gero befürchtete, dass noch nicht einmal diese Zahl für ihn ausreichen würde.