Neunundvierzig

Pfarrer Gero nahm die Kerze und ging zum Ausgang der Kirche. Dabei musste er die kleine Flamme mit vorgehaltener Hand vor der Zugluft schützen. Vergebens. Ein kräftiger Windhauch blies sie auf. Jemand hatte die Tür geöffnet.

Es war dunkel, und durch das wenige Licht, das von draußen hineindrang, erkannte er eine Gestalt, die durch den Spalt schlüpfte.

»Ja bitte?«

Er hatte nicht damit gerechnet, bei seiner Zwiesprache mit dem Herrn gestört zu werden.

»Ich muss Sie sprechen.«

Heiser, flüsternd, in tiefster Verzweiflung. Er erkannte die Stimme und fragte sich, was diese arme Seele um die Uhrzeit aus dem Haus getrieben haben mochte. Es war gleich vier Uhr morgens. Er hatte kein Auge zugetan in dieser Nacht, und er war sich sicher, dass er nicht der einzige Schlaflose war. Trotzdem, eine Beichte um diese Uhrzeit … Und so viele Stunden waren seit der letzten ja nicht vergangen.

»Was kann ich für dich tun, meine Tochter?«

Kratzend und schlurfend kamen die Schritte näher. Gero suchte in seinen Taschen nach dem Feuerzeug, um die Kerze wieder anzuzünden.

»Ich habe bereut. Aber reicht das? Reicht das denn wirklich?«

»Du musst es von ganzem Herzen tun.«

»Das mach ich doch!«

Er hörte, wie die Frau sich auf eine der Kirchenbänke setzte. Endlich hatte er das Feuerzeug gefunden und zündete die Kerze an. Die kleine Flamme tänzelte, und er hatte Mühe, sie am Leben zu erhalten, bis er sich neben die Frau gesetzt hatte.

»Jeden Tag tue ich das«, sagte sie schluchzend. »Aber es wird nicht besser. Und das wissen Sie. Sie sind doch der Einzige, der es weiß. Was soll ich tun?«

Gero schwieg. Er sah das dunkle Holz der Lehne vor ihm, abgerieben und glänzend von so vielen Sündern, die mit schwerer Hand darüber gestrichen hatten.

»Und … wenn ich die Wahrheit sage?«

Gero zuckte zusammen. Das heiße Wachs tropfte auf seine Hand. Aber der kurze Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, was ihre Frage in ihm auslöste.

»Qui bono?«, fragte er. Cicero hatte einst die Frage gestellt. Wem ein Verbrechen zum Vorteil gereicht, der hat es begangen. Längst verwandte man dieses geflügelte Wort auch in anderen Zusammenhängen. Zum Beispiel, wenn man die berechtigte Frage stellte, wer nach so langer Zeit überhaupt noch von der Wahrheit profitieren – oder von ihr in den Abgrund gerissen würde. »Du machst deine Tochter damit nicht wieder lebendig.«

Er hörte ihr Aufschluchzen, und er fragte sich, wie lange er das noch ertragen konnte. Ihr rücksichtsloses Selbstmitleid, das nie Raum gelassen hatte für andere. Das einzige Mitgefühl, das Trixi empfinden konnte, war das für sich selbst. Es waren keine gottgefälligen Gefühle. Er schämte sich vor dem Herrn und war froh, dass der Schein der zuckenden Flamme der Kerze sein Gesicht nicht erreichte. Er wollte nicht, dass sie ihm ansah, was er dachte. Oder was er vorhatte zu tun, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen. Er konnte ihren sauren Atem riechen. Sie hatte wieder getrunken.

»Natürlich wird sie nicht lebendig. Aber seit sie tot ist, ist sie mehr da als vorher.«

Sie sah hoch in Richtung Apsis, wo sie irgendwo in der Dunkelheit die heilige Barbara vermutete. »Am Schlimmsten ist es, sie jedes Jahr wiederzusehen. Ich ertrage das nicht. Fili in Wachs. Was hat er sich nur dabei gedacht?«

Prozessionsfiguren waren teuer. Die Gemeinde hatte nicht lange gefackelt, als Zacharias das Angebot gemacht hatte, die Kosten für die Heiligengestalt zu übernehmen. Sie alle waren schockiert gewesen, als sie sie schließlich zum ersten Mal gesehen hatten. Mittlerweile hatten sie sich an den Anblick gewöhnt. Noch ein paar Jahre, noch ein, zwei Generationen, und keiner würde sich mehr erinnern, wer das kleine, bleiche Mädchen gewesen war.

»Es ist die heilige Barbara.«

»Es ist Fili! Und es ist ein Albtraum! Hört das denn nie auf? Ich kann nicht mehr. Alles geht den Bach runter. Der Hirsch ist pleite. Zach sitzt nur noch da. Und alle Jubeljahre kommt die Sippschaft aus England mit den tollen Autos vorgefahren und reibt uns unter die Nase, was wir alles falsch machen. Und Sie – Sie sagen mir jahraus, jahrein, das ist alles nicht so tragisch, das wird schon wieder, das muss man jetzt alles endlich mal vergessen … Ich vergesse nichts. Gar nichts.«

Die letzten Worte hallten in der Kirche wieder und sie klangen wie eine Drohung.

»Ich will weg. Ich mache reinen Tisch und gehe. Es ist mir egal, was Sie sagen. Egal! All der Scheiß von Vergessen und Vergeben. Damit alle hier weitermachen können, als wäre nichts geschehen? Ohne mich.«

Sie wollte aufstehen, aber Gero legte ihr die Hand auf die Schulter und zwang sie, sitzen zu bleiben. Die Kerze stand näher bei ihm als bei ihr. Er konnte die Angst in ihren Augen sehen.

»Tu es nicht.«

Sie biss sich auf die Lippen. In diesen aufgeschwemmten Zügen, diesem von Enttäuschung, Leid und Egoismus geprägten Gesicht blitzte mit einem Mal Entschlossenheit auf.

»Tu ich doch. Sie werden mich nicht abhalten.«

Gero ließ die Hand sinken. Er sah zu Boden. Vergib mir, Herr, dachte er, vergib mir. Trixi stand auf und musste, wenn sie nicht über ihn hinübersteigen wollte, durch die ganze lange Bankreihe auf die andere Seite gehen, um die Kirche zu verlassen. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er holte tief Luft und blies mit einem einzigen kurzen Atemstoß die Kerze aus.

Schattengrund
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