Siebenundvierzig

Zwei Stunden waren vergangen.

Nico hatte sich hoch ans Gitter geschleppt, doch keiner war gekommen. Sie hielt es nur ein paar Minuten lang aus, dann beschloss sie, wieder in den Gang zu kriechen. Wenn Leon kam, würde er sie dort finden.

Wenn.

Sie erreichte den Stollen und tastete sich zurück zu der Stelle, an der sie zitternd gesessen und gewartet hatte. Das Licht der Taschenlampe war so schwach geworden, dass zum Schluss nicht mehr als ein schwach glühendes Fädchen in der Birne leuchtete. Nico hatte beschlossen, sie nur noch ein letztes Mal anzuknipsen. Dann, wenn sie keine Hoffnung mehr haben würde und dieses zarte Glühen das Letzte wäre, das sie sehen könnte.

Leon, betete sie. Bitte komm heil an. Hol Hilfe. Bitte.

Der kleine Zeiger der Uhr leuchtete ganz schwach Richtung drei. Leon war schon über eine Stunde fällig. Sie hatte das Gefühl, Tonnen von Stein lägen auf ihrer Brust. Kein Laut war zu hören, nur ihr eigener, hektisch ausgestoßener Atem klang in ihren Ohren. Die Kälte legte sich zunächst über ihre Beine und machte sie taub. Dann kroch sie hoch und begann, über ihre Arme herzufallen, die sie eng um den Oberkörper geschlungen hatte. Was kam als Nächstes? Irgendwann, hatte sie einmal gelesen, würde ihr unglaublich warm werden. Heiß. So heiß, dass sie sich ausziehen würde, weil sie es sonst nicht mehr aushalten könnte. Das wäre die letzte Reaktion ihres erfrierenden Körpers.

Ihre Hand tastete über den Boden. Sie hörte ein leises Klirren wie von einem verlorenen Schlüssel. Mit jagendem Herzschlag riss sie sich den Handschuh ab und tastete danach. Als ihre tauben Finger den Gegenstand gefunden hatte, jaulte sie auf vor Schmerz und Enttäuschung. Kein Schlüssel. Ein kleines Ding aus Eisen. Zwei kreuzweise aufeinandergeschmiedete Nägel.

Es dauerte einen Moment, bis ihr betäubter Verstand begriff, was sie gefunden hatte. Das kleine Kreuz, das sie als Kind verloren hatte – hier, an dieser Stelle. Was hatte das zu bedeuten, dass sie es ausgerechnet in dieser Stunde höchster Not wiederfand? Ein so unglaublicher, unwahrscheinlicher Zufall … Und dann fiel ihr ein, dass dies die Stelle sein musste, an der sie mit Fili gesessen hatte.

Sie stöhnte auf und ließ den Kopf zurück an die Wand fallen. Jede Bewegung kostete unendlich viel Kraft. Nach einer halben Ewigkeit gelang es ihr, das Kreuz in ihre Jackentasche zu stecken und den Handschuh wieder anzuziehen. Als sie endlich fertig war und die Arme wieder kraftlos in den Schoß sinken ließ, dachte sie an ihre Eltern. Eines Tages würde man sie finden. Sie und das Kreuz. Für Steff und Theo wäre das kein Trost, aber ihr half der Gedanke, dass sie in dieser dunklen Stunde nicht auch noch von Gott verlassen war.

Sie blinzelte. Helle Schlieren huschten über ihre Augen, obwohl sie sie geschlossen hielt. Gehörte das zum Sterben dazu? Dass man Schleier sah und plötzlich das Gefühl hatte, jemand wäre in der Nähe?

Sie riss die Augen auf – nichts. Absolute Dunkelheit. Langsam wendete sie den Kopf nach rechts, in die Richtung, in die der Stollen noch weiter, noch tiefer in den Berg führte. Wer wusste, wohin? Zum Kyffhäuser? Nach Thale? Zum silbernen Grab?

Die zarten Schleier verdichteten sich. Es sah so aus, als ob in weiter, weiter Ferne ein Licht durch den Gang geistern würde. Nico blinzelte noch einmal. Das musste eine Täuschung sein. Sie war alleine hier. Und wäre sie das nicht, hätte sie es längst bemerkt. Was dahinten geschah, so weit weg, so unendlich tief unten, musste etwas anderes sein. Sankt Elms Feuer. Oder, natürlich, eine Sinnestäuschung.

Das Licht wurde heller und verdichtete sich zu einer kleinen Gestalt. Der Gestalt eines Kindes, das über dem Boden zu schweben schien. Fassungslos beobachtete Nico die Erscheinung, die langsam durch den Gang auf sie zukam und immer klarer, immer deutlicher wurde.

»Fili?«

Wer hatte das gesagt? Ihre Lippen waren verschlossen. Sie schmerzten. Ihre Haut war trocken und aufgerissen. Das Sprechen hatte ihr schon bei Leon Mühe bereitet.

»Fili?«

Doch, das musste sie sein. Ihre Stimme hatte ihren Körper verlassen, genau wie der Geist oder die Seele oder die Aura des Mädchens, oder was auch immer dieses Hirngespinst war, das immer näher kam. Jetzt sah Nico die langen hellen Haare, die ihm über die Schultern fielen. Sie war sich sicher, dass sie Angst empfinden sollte. Wenn schon nicht vor dieser Erscheinung, dann wenigstens deshalb, weil sie anfing, verrückt zu werden.

Dabei erkannte sie immer klarer jede winzige Einzelheit: dunkle Sommersprossen, ein wachsbleiches Puppengesicht, den viel zu großen, abgetragenen Anorak und Stiefel – in einem ausgeblichenen, ausgelaugten Rot. Spröde und farblos, wie Plastik, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Das Mädchen blieb stehen oder hörte mit dem Schweben auf, was auch immer, jedenfalls hielt es ungefähr einen Meter von Nico entfernt an. Das schimmernde Geschöpf erhellte die Umgebung gerade so weit, dass Nico ihre eigenen Stiefel noch erkennen konnte. Sie hatte Angst, dieses Etwas würde verschwinden, wenn sie nur einmal pusten würde.

»Du bist zurückgekommen.«

Eine klare, helle Kinderstimme. Freude flutete in Nicos Herz, als sie sie wiedererkannte. Das war das Mädchen, mit dem sie in den Ferien immer gespielt hatte. Ihre erste, richtige, feste Freundin. Nie wieder hatte sie sich später anderen Menschen so verbunden gefühlt – ihre Eltern vielleicht ausgenommen, aber die lebten für ein Kind sowieso auf einem anderen Stern. Meine Freundin. Meine beste, einzige Freundin. Wie schön das gewesen war und wie lange sie gebraucht hatte, wieder so einen Menschen zu finden. Wie hatte sie das alles jemals vergessen können?

»Es tut mir leid.« Nico hörte sich sprechen, aber sie tat es nicht. Auch ihre Stimme klang anders – jünger, kindlicher. »Ich wollte dich nicht allein lassen. Wirklich.«

»Das weiß ich.« Fili lächelte. Dieses Lächeln erinnerte Nico an die Figur der heiligen Barbara. Genau derselbe leicht gesenkte Kopf, die halb geschlossenen Lider und die Tränen aus Eis in den Wimpern. Sie konnte nicht erkennen, ob Fili weinte. Wahrscheinlich nicht. Sie sah glücklich aus.

»Magst du mitkommen?«

»Wohin?«, fragte Nico. Ihr wurde klar, dass sie zwar irgendwie mit diesem Wesen kommunizierte, dabei aber gleichzeitig wie ein Eisblock zusammengekauert auf dem Boden saß und sich keinen Millimeter bewegte.

»Nur ein kleines Stück. Es dauert nicht lange. Du wirst sehen, es ist wunderschön.«

Nico stand auf. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder. »Hast du den silbernen Ritter gefunden?«

Die Augen des Mädchens glühten grün wie dunkle Fjorde. Es sah unheimlich aus in diesem blassen Gesicht, aber Nico fürchtete sich nicht. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und sah sich immer noch auf dem Boden sitzend, den leeren Blick ins Dunkle gerichtet.

»Etwas viel Schöneres. Es wird dir gefallen.«

Fili griff nach ihrer Hand, aber Nico spürte die Berührung nicht. Sie waren beide gleich groß. Das Mädchen zog sie mit sich in den Gang. Nico wusste nicht, ob sie lief oder schwebte. Alles fühlte sich schwerelos und leicht an. Noch einmal sah sie zurück. Ihr Körper war nur noch ein Schatten, der von der Dunkelheit verschluckt wurde. Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass das nicht gut war: So den Kontakt zu sich selbst zu verlieren.

»Ich will nicht.«

Fili ließ sie los und sah sie mit großen, traurigen Augen an. »Das ist aber schade.«

»Wo … Wo bist du?«

Erstaunt antwortete das Wesen: »Hier. Hier bin ich. Bei dir. Ich habe auf dich gewartet, so lange. Ich war immer bei dir. Ich hab geschlafen in dir. Du hast das gar nicht bemerkt. Erst als du wieder hier warst, konnte ich aufwachen.«

»Es tut mir so leid.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Die langen Haare schwebten um sie herum, als ob sie unter Wasser wären. »Ich wollte nie, dass du traurig bist. Das war nicht deine Schuld, dass du dich verlaufen hast. Vielleicht habe ich es sogar gewollt und dich in die Irre geschickt? Ich bin glücklich, da, wo ich jetzt bin. Da wollte ich immer sein. Ich bin nicht allein. Viele andere sind auch hier.«

»Wo ist das?«

»Auf der anderen Seite vom Berg«, flüsterte das Wesen. »Alles ist so, wie ich es geträumt habe. Nur noch viel schöner.«

Sie waren stehen geblieben. Nico wusste nicht, wie weit sie sich schon von ihrem Körper entfernt hatte. Sie wollte zurück.

»Ich will nicht mit«, sagte sie. »Ich finde leben auch ganz schön. Im Moment wenigstens. Ich würde gerne noch ein bisschen weitermachen.«

Fili nickte. Sie schien ein wenig bleicher zu werden, falls das noch möglich war. Oder verschwand langsam das Leuchten um sie herum?

»Dann geh ich jetzt. Soll ich dich allein lassen?«

»Nein!« Nico wollte die Hand ausstrecken und Fili zurückhalten, aber sie griff ins Leere. Das Wesen wurde noch durchsichtiger, war zart wie ein Hauch. »Geh noch nicht! Sag mir, wer dir das angetan hat. Wer hat dir wehgetan? So sehr, dass du lieber auf die andere Seite gegangen bist?«

Fili war nur noch ein schwaches Glimmen. Der Umriss ihres Körpers schien sich aufzulösen und mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

»Sag es mir!«

»Ich kann nicht!« Nun weinte das Wesen doch. Das Schluchzen war leise, so als ob es sich immer weiter von Nico entfernte. »Ich kann nicht … Leb wohl, Nico. Danke, dass du gekommen bist. Du hast dein Versprechen gehalten. Denk immer daran, du hast es gehalten …«

Ein allerletztes Schimmern, und unmittelbar, bevor die letzte Ahnung von Filis Geist verschwunden war, sah Nico eine Zeichnung an der Wand. Ein Bett, ein schwarzer Mann, vier Buchstaben … aus. Ende. Nico fiel, und der Abgrund, der sich auftat, war bodenlos.

Schattengrund
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