Neununddreißig

»Ich kann nicht mehr.«

Nico ließ sich auf einen Baumstumpf sinken und griff nach der Thermoskanne mit heißem Tee, die sie vorsorglich noch vor ihrem Abmarsch gefüllt hatte. Sie hatten die Wegkreuzung erreicht. Ihnen gegenüber hockte die Hexe im Schnee.

Das sah natürlich nur so aus. Es hatte so viel geschneit, dass der Wegweiser fast ganz versunken war. Die Holzfigur trug eine weiße Mütze. Sie hielt sich krumm, als ob sie einen Buckel oder eine Kiepe auf dem Rücken hätte. Das Größte an ihr war die gewaltige Nase. Wenn Nico sich nicht täuschte, hatte ihr der Schöpfer dieser bezaubernden Arbeit auch noch eine gewaltige Warze auf den Zinken gesetzt.

Die Schrift auf den drei Brettern war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Aber Nico wusste, was auf ihnen stand: SIEBENLEHEN. Aus dieser Richtung waren sie gekommen. Wenn sie sich umgedreht hätte – aber zu dieser unnötigen Bewegung fehlte ihr einfach die Kraft – , dann hätte sie gesehen, dass der Weg hinter ihrem Rücken sanft hinabführte und nach einer Biegung zwischen den Felsen verschwand. Richtung Altenbrunn zeigte der Wegweiser nach rechts. Auf den Brocken kam man, wenn man links abbog. Nur geradeaus ging es nicht weiter. Die Lücke zwischen den Baumstämmen könnte ein verwehter Trampelpfad sein, doch er verlor sich schon nach wenigen Metern.

Immer noch schwebten winzige Kristalle vom Himmel. Ab und zu, wenn das Gewicht auf den Zweigen der Bäume zu schwer wurde, rauschte eine kleine Lawine herab. Der Wind frischte auf. Noch war davon nicht viel zu merken, aber Nico sah die zerrissenen Wolkenfetzen, die schneller und schneller über den dunklen Himmel zogen und den Mond fast vollständig verbargen. Sie hatte keine Ahnung vom Wetter, aber das sah nicht gut aus. Vor ihrem Mund bildete der Atem weiße Wölkchen. Das kam vom Tee, aber auch von der Kälte. Die Temperaturen mussten weit unter dem Gefrierpunkt liegen. Trotzdem war ihr nicht kalt. Vielleicht hatte sie Fieber? Am liebsten hätte Nico den Reißverschluss ihrer Jacke geöffnet, doch dazu hätte sie die Handschuhe ausziehen müssen. Kraftverschwendung.

Maik stapfte ein paar Schritte voraus auf den verschneiten Trampelpfad zu, dann kam er wieder zurück. Bis jetzt war er ein aufmerksamer und geduldiger Führer gewesen. Er kannte jeden Stein, jeden Baum. Nico wusste, dass sie ohne ihn verloren wäre.

»Wie weit ist es denn noch?«

Sie hörte sich an wie ein kleines, quengelndes Kind. Doch die Müdigkeit und der wenige Schlaf forderten ihren Tribut.

»Bis hierhin ist es die Hälfte.«

Maik ging in die Hocke. Sie reichte ihm die Flasche. Er nahm einen tiefen Schluck.

»Erst die Hälfte?«

»Das Schlimmste haben wir geschafft. Jetzt geht es nicht mehr so steil bergauf. Das ist nur noch ein kleiner Hügel. Wenn wir oben sind und dem Bergrücken folgen, kommen wir genau an den Eingang zum Stollen.«

»Du warst oft hier. Stimmt’s?«

Er stand auf. »Früher. Jetzt nicht mehr.«

Ohne sich umzusehen, lief er los. Nico musste sich beeilen, um ihm folgen zu können. Bis sie die Flasche verschlossen hatte, war er schon fast in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschwunden. Ein letztes Mal sah sie sich um. Was tat sie hier? War sie wahnsinnig geworden? Mitten in der Nacht mit Maik in den Stollen zu gehen?

Ob Leon sie … Nein! Es war verboten, an ihn zu denken. Er würde sie nicht vermissen. Er glaubte ihr nicht. Er wird froh sein, wenn er Siebenlehen und mich endlich hinter sich lassen kann, dachte sie.

Der Stein lag in ihrer Jackentasche. Sie hatte ihn noch schnell eingesteckt. Ihr wurde leichter ums Herz, wenn sie ihn durch den dicken Stoff fühlen konnte. Er war ein letzter Gruß von Kiana, die es ihr ganzes Leben lang nicht akzeptiert hatte, Nicos Trauma zu verschweigen. Sogar über den Tod hinaus.

Sie würde Kianas drittes Rätsel lösen. Und dann war alles, alles gut.

Sie folgte Maik in den dunklen Wald.

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