Fünfzig

Was hatte ihr die Kraft gegeben, diesen Weg zu gehen? Als Nico hinter den Baumwipfeln zum ersten Mal Schattengrund erkannte, ging die Sonne in ihrem Herzen auf. Vielleicht hatte sie die Strecke geschafft, weil es bergab ging. Vielleicht auch, weil Maik ihr immer wieder Karamellbonbons zusteckte und das Klirren seines Gürtels wie die Rüstung eines mittelalterlichen Soldaten klang, der sie alle beschützen würde. Vielleicht, weil Leon vorangegangen war und sie in seine Fußstapfen treten konnte. Immer wieder hatte er sich nach ihr umgesehen, sie gefragt, ob sie es schaffen würde, ihr die Hand an besonders gefährlichen Stellen gereicht oder ihr einfach ein aufmunterndes Lächeln geschenkt. Ja, es musste dieses Lächeln gewesen sein, das sie den ganzen Abstieg lang getragen hatte.

»Wir sind da!«, jubelte sie.

Das Gelände war nicht mehr so steil. Leon, der wieder ein paar Schritte voraus war, blieb stehen, um auf sie zu warten. Der Gedanke an heißen Tee, prasselndes Feuer und Minx, die sich an sie kuscheln würde, saugte Nico beinahe die letzte Kraft aus den Knochen.

»Das war großartig«, sagte er. »Wir bringen dich noch ins Haus.«

»Wir müssen uns alle erst mal aufwärmen.«

Er antwortete nicht und lief weiter. Nach ein paar Minuten hatten sie Kianas Grundstück erreicht – den Waldsaum, der sich an das flach abfallende Gelände schmiegte. Das Haus lag still und friedlich da, ein bisschen verwunschen, tief verschneit, und zum ersten Mal hatte Nico das Gefühl heimzukommen.

Im Vergleich zu der beißenden Kälte im Freien war es drinnen mollig warm. Die Wanderer hielten sich nicht damit auf, die Stiefel abzuklopfen. Die drei stürmten gleich in die Küche, wo Nico als Erstes den Wasserkocher in Betrieb nahm. Dann ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen, dass es krachte.

»Zu Hause. Ich glaube es nicht.«

Maik setzte sich auch, Leon blieb stehen. Er sah auf seine Uhr.

»Es ist gleich fünf Uhr morgens. Ich gehe in den Schwarzen Hirschen, wecke alle und rufe dann die Polizei.«

»Ich komme mit«, sagte Nico schnell.

Aber Leon schüttelte entschlossen den Kopf. »Sorry, aber du legst dich ins Bett und ruhst dich aus. Und du«, er wandte sich an Maik, »musst ins Krankenhaus. Kann man hier irgendwo telefonieren?«

»Vom Dachboden«, sagte Nico. »Bist du jetzt mein Pfleger oder was? Natürlich gehe ich mit. Das geht mich genauso viel an wie dich.«

Der Wasserkocher schaltete sich aus. Nico wuchtete sich hoch und hatte das Gefühl, ihre Beine wären aus Beton.

»Da reden wir noch mal drüber.«

Leon verließ die Küche. Sie hörte, wie er die Stufen hinauflief. Maik legte die Arme auf den Tisch und bettete seinen Kopf darauf. Er sah erbarmungswürdig aus.

»Tee?«, fragte sie.

Er grunzte nur. Noch bevor Nico drei Becher aus dem Regal geholt hatte, war das Grunzen in Schnarchen übergegangen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn nicht gleich auf die Couch gelegt hatten, aber jetzt schien es ein Ding der Unmöglichkeit, ihn zu wecken oder ins Wohnzimmer zu tragen.

Noch bevor der Tee fertig war, kam Leon zurück. »Sie schätzen, dass in drei Stunden die Straße frei ist, und schicken dann sofort einen Krankenwagen.« Er nahm einen Becher und trank. Dabei vermied er es Nico anzusehen.

»Und die Polizei?«

»Die rufe ich hinterher an. Wenn … Wenn wir alles besprochen haben.«

Mit einem misstrauischen Blick entfernte Nico den Teebeutel aus ihrem Becher. »Was soll das heißen, hinterher? Warum nicht gleich?«

Er stellte den Becher ab. Dann beugte er sich kurz hinunter zu Maik und überzeugte sich, dass der tief und fest schlief. »Was haben wir denn in der Hand?«, fragte er leise. »Eine Kinderzeichnung.«

»Einen Namen.«

»Das reicht noch nicht mal für eine Anzeige. Das ist nichts, Nico. Nichts.«

»Nichts?«, fauchte sie. »Fili hat ihren Peiniger gemalt! Sie hat seinen Namen an die Wand geschrieben! Wovor hast du Angst? Dass man dich in Siebenlehen auch nicht mehr leiden kann, wenn die Wahrheit ans Licht kommt? So weit waren wir doch schon mal.«

»Ja. Und ich habe mit meinem Vater gesprochen. Das war kein schönes Gespräch, das kannst du mir glauben. Wie wird es erst ablaufen, wenn wir den Richtigen haben? Denkst du, er knickt ein, gesteht alles und bittet um ein paar nette Jahre Knast mit anschließender Therapie? Es gibt keine Beweise! Fili ist tot! Seit zwölf Jahren!«

»Dann wird es Zeit, dass das endlich gesühnt wird!«

»Indem du die Polizei einschaltest und alles nur noch schlimmer machst? Was willst du denen sagen? Dass du was aufgeschnappt hast, als du ein kleines Mädchen warst? Dass dein lieber Freund Maik tote Kinder im Berg sieht? Dass Fili ein Märchen, ein blödes, dummes Märchen, für bare Münze genommen hat?«

Nico wandte sich ab. Ihre Knie zitterten. Mit der Enttäuschung kam ein mindestens genauso furchtbares Gefühl: Leon hatte recht. Sie würden den Täter niemals zur Rechenschaft ziehen können. Leon trat auf sie zu und wollte ihre verletzte Wange berühren. Unwillig drehte sie den Kopf weg. Er sollte nicht sehen, wie sehr sie das alles mitnahm.

»Und dass er mich umbringen wollte?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.

Leon seufzte. »Alles, was da oben zu finden ist, ist Maiks Schloss. Damit wirst du höchstens den Falschen in den Knast bringen.«

»Seine Verletzungen?«

»Ein Sturz. Selbstverstümmelung. Irgendwas. Ich hasse es, dir das zu sagen. Aber alles, was wir tun können, ist, den Täter mit unserem Wissen zu konfrontieren und zu sehen, wie er reagiert. Und da, Nico, will ich dich lieber raushalten.«

»Ich komme mit. Ich will ihm ins Gesicht sagen, was er Fili angetan hat!«

»Nein!«

»Doch!«

Leon umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. In seinen Augen funkelten Wut und Zärtlichkeit. Eine Mischung, die Nicos Knie noch wackeliger machten.

»Du kannst dich kaum noch auf den Beinen halten. Überlass es mir. Bitte.«

»Nein.«

Sie sahen sich in die Augen. Keiner senkte den Bick, keiner gab auch nur einen Millimeter nach.

»Okay«, sagte er schließlich.

»Wann?«

»Jetzt. Im Morgengrauen fällt das Lügen schwerer.«

Schattengrund
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