Eins

Ein Besen. Eine halbe Postkarte. Ein Stein.

Nico sah nach links zu ihrer Mutter, nach rechts zu ihrem Vater, dann geradeaus zu dem Notar – einem bleichen Mann mit schütterem grauen Haar und randloser Lesebrille, der sich einen Aktenhefter aus dunkelblau marmorierter Pappe vor die Nase hielt und daraus mit leiser, monotoner Stimme vorlas. Sie saßen zu dritt vor einem riesigen Schreibtisch. Wahrscheinlich war er nötig. Bei solchen Erbschaften ging man vermutlich gerne mal auf den Testamentsvollstrecker los.

»Diese drei Dinge vermache ich meiner Großnichte Nicola Wagner zum weisen Gebrauch.«

Der Notar ließ den Aktenhefter sinken und sah Nico zum ersten Mal, seit sie in Begleitung ihrer Eltern den holzgetäfelten Raum im ersten Stock eines noblen Altbaus betreten hatte, genau an. Er wollte sehen, wie sie reagieren würde. Auf einen Besen, eine halbe Postkarte, einen Stein.

»Das ist ein Scherz«, entfuhr es Nico.

Sie spürte, wie ihr Gesicht brannte. Vielleicht war es die Enttäuschung, vielleicht auch die Wärme in diesem überheizten Raum. Sie hatten keinen Parkplatz gefunden und das Auto schließlich weit entfernt abstellen müssen. Um sich nicht zu verspäten, waren sie die ganze Strecke fast gerannt.

Aber Nico hatte weder den Regen noch die Kälte gespürt. Sie war so aufgeregt gewesen, so erfüllt von Vorfreude. Eine Erbschaft! So etwas kam doch sonst nur in viktorianischen Familienromanen vor. Und dann auch noch von einer Verwandten, von der man seit Jahren nichts gehört und gesehen hatte. Kein Fake, kein Witz. Und trotzdem hatte sie erst daran geglaubt, als sie das Messingschild am Eingang des Hauses gelesen und noch immer außer Atem das Büro betreten hatte. Die Dame am Empfang hatte sie freundlich angelächelt und ihr und ihren Eltern Kaffee angeboten, der in hauchdünnen weißen Porzellantassen serviert wurde – mit Keksen aus der Confiserie. Da hatte sie noch gedacht, im Vorzimmer eines neuen Lebens zu sitzen. Hatte nur geflüstert, auf die alten Ölbilder an den Wänden gestarrt und versucht, die Titel der Bücher in einem wuchtigen Bibliotheksregal zu entziffern. Mit den Füßen gescharrt. Auf ihre Armbanduhr gesehen. Nicht verstanden, warum ihre Eltern keine Miene verzogen und so aussahen, als wären sie beim Zahnarzt und hätten eine komplizierte Wurzelbehandlung vor sich.

Und dann das. Eine abgefahrene Nummer, das musste man Tante Kiana schon lassen.

»Das ist doch ein Scherz«, wiederholte Nico vorsichtig. »Oder?«

Der Notar hieß Gustav von Zanner und machte ein Gesicht, als ob Humor in seinem Leben keine große Rolle spielen würde. Wahrscheinlich hatte er schon jede Menge enttäuschte Erben erlebt, die unruhig auf den Ledersesseln vor ihm hin- und hergerutscht waren. Nico hatte für diesen Termin auf Jeans und Pullover verzichtet. Sie trug stattdessen eine schwarze Hose, die durch den weißen Rolli und den etwas zu engen, nicht mehr ganz neuen Blazer auch nicht besser wurde. Ihre langen dunkelbraunen Haare hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Sie trug sie sonst meistens offen, denn ihre Mähne musste kaum je geschnitten werden – wieder Geld gespart. Sie hatte nur einen Hauch von Lipgloss aufgelegt. Er zauberte ein wenig Frische in ihr blasses, rundes Gesicht. Präraffaelitisch, nannte ihr Vater das. Sie und Stefanie, ihre Mutter, würden ihn an Gemälde aus der Renaissance erinnern. Unschuldig, aber dann hatten sie es faustdick hinter den Ohren. Davon war im Moment allerdings wenig zu merken. Ihre Mutter schien genauso geplättet wie sie. Nico sah sich vorsichtig um und rechnete im Stillen damit, dass jeden Moment ein Team der versteckten Kamera in das Büro stürmen würde.

Der Testamentsvollstrecker räusperte sich. »Nein.«

»Das ist alles?«

»Nehmen Sie das Erbe an?«

Von Zanner tat so, als wäre es ihm egal, ob er Immobilien in Schweizer Nobelskiorten oder die übrig gebliebenen Reste einer Dachbodenentrümpelung beurkundete. Wahrscheinlich war es ihm das auch. Mitgefühl für eine Siebzehnjährige, die gottweißwas erwartet und erst auf dem Weg in die Kanzlei erfahren hatte, worum es wirklich ging, kannte er wohl nicht.

»Tante Kiana hat mir ihren Sperrmüll vermacht?« Sie wandte sich an ihre Mutter und die Enttäuschung in ihrer Stimme war abgrundtief. »Das glaube ich nicht.«

»Liebes, sie war schon immer so …« Nicos Mutter holte tief Luft, um dann zu schweigen. Das war ihre Art zu reden, wenn sie erwartete, dass man sich den Rest denken konnte.

»… spinnert«, vollendete Nicos Vater erwartungsgemäß den Satz. Er holte sein Smartphone aus der Tasche, checkte mit einem kurzen Blick, dass niemand angerufen hatte, und schob es zurück in seine Anzugtasche. Das tat er mit genau der Hast, die allen zeigen sollte, dass er diesen Termin mittlerweile für ein Kasperletheater hielt. Er hatte sich extra den Vormittag freigenommen, und Nico wusste, dass er im Anschluss in sein Reisebüro zurück musste. »Sag es ruhig, Stefanie. Ich fand immer, sie kam sehr nach deiner Mutter. Wir hätten gar nicht kommen sollen. Ich habe keine Zeit für solche Scherze.«

Nicos Mutter griff nach ihrer Handtasche, die sie neben dem Stuhl abgestellt hatte. Sie berührte ihre Tochter leicht am Arm. »Nimm es dir nicht zu Herzen, mein Schatz. Wir hätten das vorher als deine gesetzlichen Vertreter wissen müssen. Wir haben lange überlegt, ob wir diesen Termin nicht ganz absagen. Aber dann dachten wir, man weiß ja nie, was alte Damen so unter dem Kopfkissen liegen haben.«

»Steine, Altpapier und Besen«, murmelte Nico.

Der Besen war vielleicht einen Meter lang, gebaut aus einem knorrigen Ast und einem Bündel Stroh, zusammengehalten von Hanfkordel. Das Ding sah zerfranst und ziemlich benutzt aus. Staub und Dreck rieselten schon beim Hinsehen auf die hochglanzpolierte Schreibunterlage aus schwarzem Leder. Nico wollte die Hand danach ausstrecken, aber die Berührung ihrer Mutter wurde zu einem festen Griff.

»Lass das. Wir wollen das nicht.«

»Ich kann ihn mir doch wenigstens mal ansehen.«

Stefanie Wagner stieß einen Seufzer aus und ließ sie los. »Das Ding kommt mir nicht ins Haus.«

Dabei wechselte sie einen schnellen Blick mit Nicos Dad.

Nico nahm den Besen, wog ihn in der Hand, drehte und wendete ihn. Strohhalme lösten sich und fielen auf den Perserteppich. Gustav von Zanner schob die Lesebrille mit spitzem Zeigefinger hoch auf die Nasenwurzel und schaute ihr missbilligend zu.

»Entschuldigung.« Nico bückte sich, um die Halme aufzulesen. Hoffentlich löste sich das Teil nicht gleich komplett in der Kanzlei auf. Sie fühlte sich, als ob es ihre Schuld wäre, dass man ihr so einen Schund vererbte. Als ob sie nichts Besseres verdient hätte.

Was hatte sie sich nicht alles ausgemalt. Ein Termin in der Stadt, für den sie sich feingemacht und herausgeputzt hatten … Und dann im Auto – als ihre Eltern ihr von dem Erbe erzählt hatten – hatte sie die wildesten Überlegungen angestellt, ob sie wohl als Millionärin zurück in die enge Mietwohnung kehren würde. Alles Quatsch. Natürlich nicht. Sie hatte gelacht, hatte sich gefreut, dass jemand mal an sie gedacht hatte, hatte sich vielleicht gewundert, dass ihre Eltern so schweigsam waren und so spät damit rausgerückt hatten, aber umso größer war ihre Aufregung gewesen … Und das alles für – Müll.

Nicos Blick fiel auf die Schuhe ihrer Mutter. Hellbraune Pumps mit Goldschnallen. Die trug sie selten. Ausgehen lag kaum noch drin im schmalen Familienbudget, seit die Leute ihre Reisen im Internet buchten und erwarteten, dass kein Flug mehr als zwanzig Euro zu kosten hatte. Ihr Vater hatte Chinos und Hemd gegen Anzug und Krawatte eingetauscht. Das letzte Mal hatte er sich bei Tante Kianas Beerdigung so fein gemacht.

Nico war nicht dabei gewesen. Zum einen, weil sie an diesem Tag eine Deutschklausur geschrieben hatte. Zum anderen, weil sie sich kaum noch an Tante Kiana erinnern konnte. Und wenn, dann mit einem unguten Gefühl. Von Kiana sprach man in ihrer Familie in einem ganz speziellen Ton. Man wurde leiser, verzog bedauernd den Mund, versuchte, wie von einer Kranken zu reden, aber man bekam den Ärger nicht aus der Stimme heraus. Kiana musste ungeheuer nervig gewesen sein. Nicht ganz richtig im Kopf. Jemand aus der entfernten Verwandtschaft, den man kaum noch erwähnte. Nico hatte ein verschwommenes Bild von ihr aus der untersten Schublade ihrer Erinnerungen gekramt: eine zierliche Frau mit weißen krausen Haaren, die wohl einmal blond gewesen sein mussten. Ein verschmitztes Lächeln. Apfelkuchen. Ja. Der Duft von Apfelkuchen, das war der Duft von Kiana.

Nico tauchte aus ihren Grübeleien wieder auf und legte den Besen zurück auf den Schreibtisch. Die Halme behielt sie in der Hand. Sie wusste nicht, wohin damit.

Gustav von Zanner ließ die Mappe sinken und nahm die Lesebrille ab.

»Nun denn. Nicola Wagner, nehmen Sie das Erbe an?«

Den Pruster, den Nico ausstieß, konnte sie nur mit Mühe mit einem Niesen kaschieren.

»Also ich weiß nicht. – Darf ich?« Sie nahm den Stein in die Hand. Er war groß wie ein Ei, scharfkantig, dunkel und schwer. An manchen Stellen glitzerte er. Ein Stein, wie man ihn an jedem Wegrand, an jeder Bushaltestelle, auf jedem Parkplatz finden konnte. »Das ist schon eine enorme Verantwortung. Schwer zu sagen, ob ich dem gewachsen bin. Was sagt ihr?«

Der Witz kam nicht an. Weder bei von Zanner noch bei ihren Eltern.

Theo Wagner stand auf. »Das ist das letzte Mal, dass ich mich von Kiana habe zum Narren halten lassen«, sagte er. »Ich muss jetzt wirklich. Es tut mir leid, Nico. Ich wünschte, sie hätte dir ein Häkelkissen hinterlassen oder ihre Strickmustersammlung oder irgendetwas, das Großtanten ihren Nichten normalerweise vererben.«

Ein bisschen Geld, dachte Nico. Daran haben wir doch alle gedacht. Es hätte nicht viel sein müssen. Genug, um mal wieder zusammen ins Kino zu gehen. Vielleicht ein neues Handy zu kaufen. Oder ein Laptop, das nicht alle fünfzehn Minuten den Geist aufgibt und ins Gefrierfach gelegt werden muss.

»Fräulein Wagner?«

»Ja? Äh …« Nico warf die Strohhalme in einen Papierkorb aus Leder, der neben dem Schreibtisch stand. Der Besen sah witzig aus. Er war cool. Handarbeit. Er war benutzt worden, das Ende des Stils glänzte dunkler als der Rest. So was gab es heutzutage gar nicht mehr. Sie überlegte, ob er in ihr Zimmer passen würde. Im Moment waren alle ganz wild auf Karos, Hirschgeweihe und Landleben. Ein alter Strohbesen hatte etwas Uriges, Authentisches. Sie könnte ihn neben das Bett stellen und »Der ist von meiner Großtante« sagen.

Sie setzte sich wieder. »Ja, ich nehme an.«

»Nico?« Stefanie beugte sich zu ihr. »Du lässt das bitte bleiben. Das ist Plunder. Dafür kriegst du auf dem Flohmarkt keinen Cent.«

»Ich mag den Besen. Und er ist ein Erbstück. Vielleicht ist er schon hundert Jahre alt. Ihr sagt doch immer: Nur wer weiß, wo er herkommt, weiß auch, wohin die Reise geht.«

»Theo, nun sag doch auch was!«

Nicos Dad hob hilflos die Schultern. »Das ist deine Verwandtschaft. Du musst das entscheiden.«

»Ich nehm das Zeug«, sagte Nico.

Von Zanner sah zu Nicos Eltern. Theo nickte und ließ sich resigniert wieder neben Nico in den Sessel plumpsen. »In Gottes Namen. Pack es ein. Können wir jetzt?«

Der Notar setzte sich die Lesebrille auf und nahm seine Mappe wieder zur Hand.

»Dann sind wir beim zweiten Teil der Nachlassregelung.«

Stefanie ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen. Nicos Dad atmete scharf ein. Ein zweiter Teil? Ihre Mutter knetete nervös die Hände. Es war still, nur das Ticken der Standuhr drang an Nicos Ohren. Und das Rascheln von Papier, als der Notar die Seite umschlug und sich der Fortsetzung dieser merkwürdigen Testamentseröffnung widmete.

»Liebe Nicola.« Er blickte auf und musterte die Angesprochene mit einem kühlen Blick. Es war klar, dass die Ansprache nicht seine Worte waren, sondern die von Tante Kiana. »So lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Als Kind warst Du oft bei mir und hast mein Haus mit Lachen und Freude erfüllt. Es trägt zwar den Namen ›Schattengrund‹, aber wenn Du da warst, schien die Sonne in allen Räumen. Nichts wäre schöner, als dieses Haus in Deine Hände zu legen. Es ist alt und vielleicht willst Du es auch gar nicht haben. Dann verkaufe es und erfülle Dir einen Wunsch von dem Geld. Ich habe niemanden, und der Gedanke, Dir damit eine Freude zu machen, lässt mich leichter gehen.«

Von Zanner unterbrach kurz, um das Blatt umzuwenden. Stefanie Wagner sah, die Lippen zusammengepresst, zu Boden. Nicos Dad verrieb mit dem Schuh einen unsichtbaren Fleck auf dem Perserteppich. Keine Freude. Nur Unbehagen. Zum ersten Mal dämmerte es Nico, wie einsam Tante Kiana gewesen sein musste.

»Die erste Probe hast Du ja schon bestanden.«

Probe? Welche Probe?

»Du hast dir den wertlosen Plunder nicht ausreden lassen. Liebe Stefanie, ich weiß, dass Du es versucht hast, aber Deine Tochter hat eben ihren eigenen Kopf.«

Nicos Mutter zuckte zusammen.

»Und Du, Theo …« Der Notar sah kurz hoch. Nicos Dad verschränkte die Arme und lehnte sich zurück wie jemand, der eine Standpauke nur deshalb über sich ergehen lässt, damit sie schnell vorbei ist. »… stehst ihr natürlich bei. Ich kann Euch gut verstehen. Aber lasst Nico entscheiden, denn sie ist es, um die es hier geht. Das wisst Ihr beide ganz genau. Ich habe mich Eurem Willen stets gebeugt. Nun aber ist es an der Zeit, dass Ihr Nicki ganz allein herausfinden lasst, ob sie den Weg in die Vergangenheit noch einmal gehen will.«

Nicki. Etwas in Nicos Herz wurde warm. Fast tat es ein wenig weh. Hatte Kiana sie so genannt?

Von Zanner machte eine kleine Kunstpause. Der Wind warf eine Handvoll Regen an die Scheiben. Das graue Tageslicht verlor sich in der Mitte des Raumes, die altertümliche Messinglampe zeichnete einen scharf geschnittenen Lichtkegel auf die Tischplatte. Ein Luftzug streifte Nicos Nacken, als ob jemand hinter ihrem Rücken gerade den Raum betreten hätte. Sie drehte sich um. Nichts. Sie fröstelte.

»Drei Rätsel sind an Schattengrund gebunden. Die musst Du lösen, Nicki, und erst dann gehört es Dir. Das Erste: Nutze den Besen. Das zweite: Finde den Turm und das Schwert. Das dritte: Bring den Stein dorthin zurück, wohin er gehört. Dann gehört Schattengrund Dir.«

Der Notar schloss die Akte. Nico wartete, aber es kam nichts nach. Sie beugte sich vor und nahm die halbe Postkarte in die Hand. Sie war in der Mitte durchgerissen und ziemlich alt. Es war die Schwarz-Weiß-Fotografie einer Statue; ein Ritter vielleicht? Ein Kirchenmann? Er trug ein Schwert, und zu seinen Füßen stand ein kleiner Turm aus demselben Material, Stein oder Holz, der ihm bis zu den Knien reichte. Sie drehte die Postkarte um, aber auf der Rückseite stand nichts. Bis auf den kleinen Aufdruck »Romanische Meisterwerke im Harz«.

»Das soll ich finden?«, fragte sie verblüfft. »Und dann? Den Stein zurückbringen und einmal kehren?«

»Wenn Sie, Nicola Wagner, der Meinung sind, die Aufgaben gelöst zu haben, kommen Sie bitte wieder und machen einen Termin zur Beurkundung. Wir werden dann gemeinsam diesen zweiten Umschlag öffnen und prüfen, ob Sie den Bedingungen der Erblasserin vollständig nachgekommen sind.«

Der Notar zeigte den Anwesenden einen weiteren Brief, auf dem in Tante Kianas zittriger Schrift sein Name stand. Langsam kam Nico diese ganze Sache vor wie eine Matrioschka: Immer, wenn man eine Puppe geöffnet hatte, lächelte einem die nächste entgegen.

»Das war’s aber dann«, sagte sie. »Oder gibt es noch einen und noch einen?«

»Dies ist das letzte Schreiben. Es dient nur der Überprüfung, denn ich kann Ihnen bedauerlicherweise nicht zur Hand gehen. Ich bin Notar, kein Straßenkehrer. Nun? Werden Sie der Bitte der Erblasserin nachkommen?«

Nico holte Luft und öffnete den Mund.

»Nein«, sagte Nicos Dad. »Das wird sie nicht tun. Wir lehnen das Erbe ab.«

Sie stieß die Luft mit einem lauten Pfff aus. Theo Wagner stand auf, Stefanie griff wieder nach ihrer Handtasche und erhob sich ebenfalls. Nur Nico blieb sitzen, immer noch mit der halben Postkarte in der Hand.

»Nico?« Stefanies Stimme klang etwas zu freundlich. »Kommst du bitte?«

Aber ihre Tochter kam nicht. Stefanie trat einen Schritt auf sie zu.

»Schatz, ich kann deine Enttäuschung verstehen. Uns geht es auch so. Obwohl ich Kiana gekannt habe und einiges von ihr erwarten konnte. Aber das hier ist … Mir fehlen die Worte.«

»Mein Erbe«, murmelte Nico und starrte auf den halben Ritter in ihrer Hand.

»Wir schlagen es aus. Damit haben wir weder Unkosten noch die Verantwortung für Schattengrund. Wer weiß? Vielleicht fällt es an die Gemeinde und die kann etwas Sinnvolles damit anfangen.«

»Und warum wir nicht?«

Verunsichert sah Stefanie zu ihrem Mann. Theo Wagner fühlte sich sichtlich unwohl dabei, eine Erklärung aus dem Hut zaubern zu müssen.

»Nico, diese Frau war nicht ganz richtig im Kopf. Dir Aufgaben stellen. Keiner weiß, was damit gemeint ist.« Er deutete auf die halbe Postkarte. »Finde den Turm und das Schwert. Was soll das heißen? Den Stein zurückbringen! Das einzig Vernünftige ist das Kehren. Unsere Einfahrt hätte es mal wieder nötig. Also los jetzt. Wir haben schon genug Zeit verplempert.«

»Vielleicht sollten wir erst mal hinfahren und es uns ansehen?«

»Hast du nicht gehört?«

Langsam legte Nico die Postkarte zurück. »Ich verstehe euch nicht. Ein Haus. Das ist doch was wert!«

»Aber nicht Schattengrund«, erwiderte ihre Mutter. »Es ist heruntergekommen, im Fachwerk ist der Holzwurm und durch das Dach regnet es rein. Herr von Zanner, wir lehnen das Erbe ab.«

»Das könnt ihr nicht machen!«

»Du bist noch nicht volljährig, wir sind deine gesetzlichen Vertreter. Damit ist das Thema erledigt.«

»Nein!«

»Doch. Theo?«

Ihr Vater hob die Hände. »Es tut mir leid, deine Mutter hat recht.«

Herr von Zanner verstaute die Akte in einer Schreibtischschublade. »Wann wird Ihre Tochter volljährig?«

»Am sechsten Dezember«, sagte Nico schnell. »Nikolaus.«

Von Zanner zog einen in schwarzes Leder gebundenen Terminplaner heran und blätterte ihn durch.

»Die Widerspruchsfrist beträgt sechs Wochen ab Bekanntwerden des Erbes –«

Ihr Vater unterbrach ihn. »Wir haben das bereits ausgerechnet. Ihr Brief kam am Freitag, also endet die Frist genau einen Tag vor Nicos Volljährigkeit. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, aber wir sind, wenn auch nur knapp, juristisch einwandfrei berechtigt, das Erbe im Namen unserer Tochter auszuschlagen.«

»In meinem Namen?«

»Nico, es ist das Beste. Glaub es mir.«

»Nein! Das glaube ich eben nicht!«

Von Zanner schlug den Kalender zu. Einen Moment lang sah er so aus, als ob er etwas sagen wollte, dann ließ er es bleiben.

Fassungslos musste Nico mit ansehen, wie ihr Vater seine Aktenmappe öffnete und zwei aufgesetzte Schreiben herauszog. Beide legte er vor dem Notar auf den Tisch. Nico fehlten die Worte. Ihr eigener Vater war bereits mit der fertigen Ablehnung hereingekommen. Hätte sie nicht schon ihr klägliches Erbe zu verkraften gehabt, die Enttäuschung wäre kaum zu toppen gewesen.

»Unser Widerspruch. Mit Datum und Unterschrift. Wenn Sie eine Ausfertigung für unsere Akten bitte quittieren und zurückgeben würden? Dann können wir es sofort beim Nachlassgericht einreichen.«

»Sie haben sich über die Tragweite dieser Entscheidung informiert?«

»Selbstverständlich.«

»Die Widerspruchsfrist ist gesetzlich definiert als …«

»Wir wissen, was wir tun. Bitte halten Sie uns nicht weiter auf.«

»Dad?«

Theo Wagner legte die Blätter vor von Zanner auf den Tisch. »Es tut mir leid.«

»Das kannst du nicht tun.«

Er drehte sich zu ihr um und machte eine unbeholfene Bewegung, als ob er sie in den Arm nehmen wollte. Nico stand auf und stolperte einen Schritt zurück. »Bitte glaube mir. Wir haben unsere Gründe.«

»Welche Gründe? Erklär sie mir!«

»Alles, was von Kiana kam, hat Unglück gebracht.«

Stefanie sah zu Boden. Der Notar schraubte seinen Füllfederhalter auf und sah nachdenklich auf die Feder. Die Standuhr tickte. Eine Windbö heulte um die Ecke und rüttelte an den Fensterläden. Wieder fuhr ein Luftzug durch den Raum. Es war ein schlecht isolierter Altbau, da konnte das vorkommen. Und trotzdem hatte Nico das Gefühl, jemand stünde direkt hinter ihr.

»Das stimmt doch gar nicht«, sagte sie leise.

Stefanie trat neben sie. »Doch. Es ist besser so. Bitte glaube uns einfach.«

»Aber …«

»Kein Aber. Nein. Das ist unser letztes Wort.«

Von Zanner unterschrieb und reichte ein Blatt an Nicos Vater zurück. Vielleicht täuschte sie sich, aber in den Augen hinter den funkelnden Brillengläsern glaubte sie, plötzlich so etwas wie Mitgefühl zu entdecken. Mit ihr?

Sie verließen die Kanzlei in eisigem Schweigen. Auch den ganzen Weg zurück sagte Nico kein einziges Wort. Es war, als hätte sich eine dunkle Wand zwischen sie und ihre Eltern geschoben und keiner fand die Tür, um hindurchzugehen. Sie verstand ihre Eltern nicht. Aber was noch schlimmer war: Ihr Nein war endgültig, und sie erklärten noch nicht einmal, warum.

Schattengrund
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