Einundzwanzig

Nico lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Ihre Augen waren geschwollen vom vielen Weinen, ihre Kehle war ganz rau. Ab und zu trank sie einen Schluck Wasser. Immer wieder schlug der Schmerz zu. Dann krümmte sie sich zusammen und schrie in das Kissen, so lange, bis Minx sich wieder zu ihr traute und ihre Pfoten sanft und vorsichtig auf ihren Arm setzte, als ob sie Nico bitten wollte, zurückzukommen aus ihrem Jammertal.

Am bittersten war die Einsicht, dass sie hier nichts mehr verloren hatte. Am liebsten hätte sie sofort ihre Tasche gepackt und wäre losgelaufen. Egal in welche Richtung, nur weg von hier. Aber es war aussichtlos. Sie schaltete das Radio ein, um den Wetterbericht nicht zu verpassen, aber alle Sender spielten Musik – fröhliche, dämliche Pop-Musik, Chart-Hits und Schlager, als ob es keinen Kummer und keine Schuld gäbe in dieser Welt.

Der Gedanke an ihre Eltern ließ Nico wieder in Tränen ausbrechen. Alles ergab jetzt einen Sinn. Kiana, die aus ihrem Leben verschwunden war. Die totale Ablehnung von Nicos seltsamem Erbe. Das Schweigen, wenn Nico nach dem Grund fragte. Ausflüchte, kleine Notlügen …

sie hat nicht gut genug auf dich aufgepasst …

Nein, dachte Nico, das hast du nicht. Und dafür hast du büßen müssen, und ich muss es jetzt auch.

Sie blinzelte zum Fenster. Es war früher Nachmittag. Der Himmel hatte sich wieder zugezogen. Nico hoffte, dass es endlich genug war mit dem Schnee. Sie wollte weg, nur weg, und war gefangen am Ort ihres schlimmsten Versagens und im Visier eines Menschen, der nicht vergessen konnte, was sie ihm angetan hatte.

Zach?

Nico stand senkrecht im Bett. Natürlich! Es musste Zacharias gewesen sein. Wer sonst hätte es auf sie abgesehen? Sie lief zum Fenster und spähte hinunter zum Schwarzen Hirschen. In einigen Fenstern brannte Licht. Die Gaststube war dunkel, aber der Raum, in dem die alte Frau lebte, war hell. Nico glaubte, einen Schatten hinter dem Fenster zu erkennen. Ihr Blick fiel auf ein Dachfenster, hinter dem auch eine Lampe brannte. Ihr Herz zog sich zusammen.

dass wir einen Sonderpreis auf die Dachkammer kriegen? …

Leon. Er wusste nicht, was geschehen war. Niemand hatte es ihm gesagt. Er musste Fili gekannt haben. Hatte sie geliebt, mit ihr gespielt, herumgealbert auf seinen Besuchen in dem kalten Haus seiner Verwandtschaft. Wenn er erfahren würde, dass sie Schuld am Tod seiner Nichte war … Ihr Herz zog sich zusammen.

Sie nahm ihr Handy und schaltete es noch auf der Leiter zum Dachboden ein. Der Akku hatte sich etwas erholt. Ein schmaler Strich zeigte an, dass sie vielleicht noch ein, zwei Telefonate führen könnte. Sie öffnete die Luke und lehnte sich weit hinaus. Sie rief ihre Mutter an, und als nach dem dritten Klingeln der Anrufbeantworter anging, war die Enttäuschung grenzenlos.

»Mama? Ich …«

Sie brach ab. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie in ein paar Worten beschreiben, wie ihr zumute war? »Mein Akku ist fast alle. Ich wollte nur sagen, es geht mir gut. Ich komme so schnell wie möglich nach Hause.«

Das Licht in Leons Dachkammer war ausgegangen. Es kam ihr vor wie ein Zeichen.

»Ich … Ich weiß alles. Ihr hättet es mir sagen sollen. Ich wäre nie hierhergekommen«, sagte sie und legte auf.

Sie schaltete das Handy aus, schloss das Fenster und wankte zu den alten Samtkissen. Eines hob sie hoch und roch daran. Staub. Muffige Feuchtigkeit. Und etwas anders. Etwas, das sie schon einmal gerochen hatte … vor Kurzem erst …

Sie sah sich um. Hier oben hatten sie gesessen, Fili und sie. Der Dachboden hatte anders ausgesehen. Kräuterbündel hatten an den Sparren gehangen. In den Ecken lagerte Reisig in dicken Bündeln – wahrscheinlich für die Werkstatt im Keller. Es war kalt, eiskalt. Ein Winter, so schlimm wie dieser, den sie gerade erlebten. Aber das Haus war geheizt, und durch die Ritzen und die geöffnete Kaminluke drang die Wärme nach oben. Nicht genug, dass sie die dicken Schals ablegen konnten. Aber ausreichend, um sich diesen verwunschenen Raum zu ihrem geheimen Rückzugsort zu machen. Fili saß auf dem Kissen. Sie hatte Kianas Buch aufgeschlagen. Sie deutet auf die Seite mit dem silbernen Grab. In der Hand hielt sie einen Stift und malte etwas dazu.

Nico schloss die Augen. Erinnere dich. Denk nach! Es ist wichtig! Was hat sie gemalt? Warum wollte Kiana, dass ich wiederkomme? Sie hat mich geliebt. Sie hat all die Jahre keinen Kontakt aufgenommen, um mich zu schützen. Aber sie wollte, dass ich wiederkomme. Sie wollte …

Nico riss die Augen auf. Sie wollte, dass ich noch einmal in den alten Stollen gehe.

In diesem Moment betrat jemand das Haus.

Schattengrund
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