Achtundvierzig

Sie schlug auf, dass es klatschte. Links, rechts. Es schmerzte höllisch und fuhr durch Mark und Bein. Ihr Körper wurde hin- und hergeschleudert, sie prallte gegen Felsen und etwas anderes, Weicheres.

»Wach auf!« Klatsch. »Nico!« Klatsch.

Sie hob die Hände, um die Schläge abzuwehren. Augenblicklich hörten sie auf. Jemand schnaufte neben ihr, keuchte, als ob er Stunden gerannt wäre. Es war nicht Leon. Es war Maik.

Benommen öffnete sie die Augen und starrte in eine Horrorfratze. Maiks halbes Gesicht musste in einen Fleischwolf gekommen sein. Eine klaffende Wunde zog sich von seiner Stirn über das linke Auge und quer über die Wange. Immer noch sickerte Blut. Entsetzt versuchte Nico, von ihm wegzurücken. Aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr.

»Was ist passiert?«, krächzte sie.

»Komm mit.«

Er zog sie hoch. Nicos Beine glitten weg. Sie strampelte und suchte nach Halt, bis sie schließlich, immer noch in Gefahr wegzurutschen, in seinen Armen hing. Sie verstand das alles nicht.

»Du hast mich eingeschlossen?«, keuchte sie mit letzter Kraft.

»Hab ich nich.«

»Wo ist Leon?«

Er ließ sie los. Sie konnte sich nicht schnell genug abstützen und geriet ins Straucheln. Maik fing sie wieder ein.

»Leon kommt gleich.«

»Wie gleich? Wo ist er? Hast du ihn getroffen?«

Er wich ihrem Blick aus. Versuchte, sie aus dem Stollen Richtung Eingangshalle zu schleifen. Nico wehrte sich verzweifelt.

»Lass mich los! Wo ist er?«

»Draußen.«

»Du weißt, wo er ist! Was hast du mit ihm gemacht?«

Ihre Stimme war wieder da. Hell, gellend, glasklar vor Angst. »Was hast du ihm angetan? Was ist mit ihm passiert?«

Er schleifte sie weiter, achtete gar nicht auf sie. Ein dumpfer Muskelberg, der nur seinen eigenen Befehlen folgte. Nico hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Für einen verzweifelten Moment sehnte sie Fili herbei, Fili, die sie mitgenommen hätte an einen Ort ohne Angst und Gewalt. Sie fühlte sich so ausgeliefert wie noch nie in ihrem Leben.

»Maik …« Sie begann zu schluchzen. »Maik, lass mich los. Bitte! Ich hab dir doch nichts getan!«

»Kann nicht.«

»Aber warum denn nicht? Lass mich einfach liegen und geh, keiner wird erfahren, was hier passiert ist. Keiner!«

»Kann nicht. Darf nicht.«

»Dann sag mir …« Wieder versuchte sie, sich loszureißen, und wieder musste sie, rasend vor Wut und Verzweiflung, einsehen, dass er stärker war. »… sag mir, wo Leon ist!«

»Hier!«

Nico glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Während sie von Maik in die Eingangshöhle geschleift wurde, polterten von dort, wo der Eingang zum Stollen war, schwere Schritte hinunter, begleitet vom Rutschen und Kollern kleiner Steine.

»Nico! Hast du sie?«

»Ja«, brüllte Maik, dass die Wände zitterten. »Hab sie!«

Jemand rannte auf sie zu und riss sie in die Arme. Bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, hielt sie fest, zärtlich und stark zugleich, und flüsterte lauter merkwürdige Dinge in ihre Ohren, so in etwa wie »Dass du lebst! Nico! Mein Gott, ich bin so glücklich!«, und Nico konnte nichts anderes tun, als zu versuchen, nicht wie eine viktorianische Salonschönheit in Ohnmacht zu fallen.

Vorsichtig ließ Leon sie auf den Boden gleiten. Maik wickelte ein Bonbon aus und steckte es ihr in den Mund.

»Hab nichts anderes.«

Nico schmeckte Zucker, Sahne, Karamell. So unglaublich es war, dieses Bonbon schien ihr das Leben zu retten. Sie spürte, wie ein wenig Kraft und Wärme in ihre Glieder zurückkehrte.

»Wie lange warst du weg?«

»Über drei Stunden. Maik ist schwer verletzt, aber er wollte unbedingt zu dir, um dich hier rauszuholen. Ich hätte ihn nicht liegen lassen können, er wäre erfroren. Also sind wir beide wieder hoch, aber das hat eben gedauert und er ist wie ein Irrer vorangelaufen. Er hat das Schloss mit dem Hammer zerschmettert. Alles andere wäre Zeitverschwendung gewesen. Irgendjemand muss es Ihnen geklaut haben. Schaffst du es? Sonst trage ich dich.«

»Danke, danke.« Nico lutschte voller Hingabe ihr Bonbon. Ihr war mit einem Mal so leicht ums Herz. Maik sah sie treuherzig aus seinem einen, nicht so verschwollenen Auge an, und Leon … Leon hockte vor ihr und hielt ihre Hände, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.

»Ich habe Fili getroffen.«

Maik nickte. »Ich seh sie auch manchmal. Da drinne, nich?«

Er wies auf den mittleren Stollen. Nico wunderte sich nicht. Sie musste eine Grenzerfahrung gehabt haben. Völlig erschöpft, kurz vorm Erfrieren, dazu noch unendlich verzweifelt – sie hatte geträumt oder fantasiert. Und Maik, Maik konnte eben noch eine Menge anderer Dinge sehen, von denen »normale« Menschen höchstens träumten.

»Du bist fast erfroren«, sagte Leon, der Einzige, der offenbar noch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stand. »Da gaukelt einem der Geist manchmal etwas vor.«

»Wir müssen noch mal da rein.« Sie griff nach Leons Taschenlampe und leuchtete in den mittleren Stollen. »Da ist was. Ich habe es gesehen.«

»Du konntest gar nichts sehen, da drin ist es viel zu dunkel!«

»Fili hat es mir gezeigt. Sie hat dort etwas an die Wand gemalt. Maik, du hast es doch auch gesehen, oder? Was ist es?«

Der Riese senkte den Kopf. »Hab nicht so genau hingeguckt. Ging mich nichts an.«

Nico zog scharf die Luft ein, entspannte sich dann aber, soweit es möglich war. Maik steckte seine Nase eben nicht in fremde Angelegenheiten, Punkt.

»Du gehst nirgendwohin. Außer mit mir zusammen zurück nach Siebenlehen.« Leon stand auf. Die liebevolle Wärme war einer finsteren Entschlossenheit gewichen. »Wir haben dich in letzter Sekunde befreit. Ich will nicht, dass du da noch mal reingehst.«

»Maik?«, fragte sie. »Kommst du mit?«

Der Angesprochene zog es vor, nach einem kurzen Blick auf Leon zu schweigen.

»Dann geh ich eben alleine.«

Sie stand auf. Zornig. Ihre Knie knickten weg, Leon konnte sie gerade noch auffangen. Aber der Schwindel verflog schnell.

»Siehst du?«, fragte er. »Du schaffst es ja noch nicht mal, gerade zu stehen.«

»Und ob.« Sie schob ihn auf Armlänge weg. »Geht wohl. Ich muss da rein, Leon. Und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, willst du es auch. Und du Maik, auch. Dich haben sie alle schief angeguckt, weil du so lange in diesem Stollen gewesen bist, als Fili starb.«

Maik ging ein paar Schritte auf und ab. Er schien die Schmerzen gar nicht zu spüren, die man ihm zugefügt hatte.

»Sie war fast tot«, sagte er leise und blieb stehen. Ängstlich starrte er in den Eingang des Stollens. »Sie war weg. Sie hat noch Tschüss gesagt, aber anders. Wie ein Geist. Aber sie selbst war tot und kalt. Und da habe ich geweint und versucht, sie aufzutauen, aber das ging nicht. Und da hab ich sie runtergetragen. Bin selbst fast erfroren dabei, aber ich wollt sie nich fallen lassen. Um nichts auf der Welt. Und auch nich alleine lassen, um Hilfe zu holen. Ich dachte, so ganz allein hier oben darf kein Kindlein sein.«

Nico ging zwei Schritte zu Maik und berührte ihn sanft am Arm. »Weil es dich daran erinnert hat, was dir hier passiert ist?«

Er nickte, heftig und aufgewühlt. »War ich zwölf. War ich hier unten, aber in dem anderen Gang.« Er wies nach rechts und deutete auf den verfüllten Stollen, in dem Nico sich zuerst vor dem unbekannten Verfolger versteckt hatte. »Da ging er noch tief in den Berg und ist dann zusammengestürzt. Ich war lange bewusstlos und sie haben auch viel zu spät nach mir gesucht. Und als ich fast tot war, da kamen die Kinder. Viele Kinder. Kinder mit Holzschuhen und Kitteln, in Lumpen oder mit Fellen, und Kinder mit schwarzen Gesichtern und Kohle überall. Welche mit zerrissenen Hosen und Kopftüchern und so. Eins hat eine Kiepe, mit der musste es immer barfuss über den Berg, um Ziegenfutter zu holen. Und wieder eins hat noch die Hacke in der Hand, mit der es ins Bergwerk geschickt worden ist. Ein paar sehen auch ganz verhungert und erfroren aus.«

Nico und Leon wechselten einen schnellen Blick. Was Maik gerade stammelnd erzählte, waren die seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden ewig gleichen Schicksale von zu Tode geschundenen Kindern, die Armut, Hunger, Not und Willkür wehrlos ausgesetzt gewesen waren. Woher wusste er davon? Hatte er es auf den verwitterten Inschriften der Grabkreuze gelesen oder das Flüstern alter Frauen belauscht, die sich grausame Geschichten erzählten?

»Und die siehst du?«, fragte Nico.

Maik hob die Schultern, als ob er sich das selbst fragen würde. »Manchmal. Es heißt ja immer, die sind ins silberne Grab. Ist eine Geschichte, die man sich nicht mehr erzählen darf, weil die Kindlein sonst weggehen und nie mehr wiederkommen.«

»Woher weißt du von der Geschichte?«

»Von meiner Mutter. Und die hat sie von ihrer Mutter. Als ich klein war, hat sie immer gesagt, sie schickt mich dahin, wenn ich nicht brav bin.«

Nico merkte, dass Leon näher an sie herangetreten war. »Deine Mutter hat dir solche Schauergeschichten erzählt?«

Maik nickte unsicher. Ihm war nicht wohl dabei. Er wollte seine Mutter nicht schlechtmachen, aber irgendwo in seinem Kopf begriff er, dass diese Geschichte eine Menge Unheil angerichtet hatte.

»Und Fili hatte sie von dir?«

Maik nickte. Tränen traten in sein eines Auge. Er blinzelte und wandte sich ab.

Leon legte seinen Arm um Nicos Schulter. Sie hob ihr Gesicht zu ihm und hatte eine wahnsinnige Sehnsucht, ihn zu küssen. Richtig. Voller Hingabe. Aber stattdessen sagte sie: »Und Fili ist damit zu Kiana gegangen, die uns natürlich eine Soft-Version des Ganzen aufgetischt hat.«

»Die Geschichte vom silbernen Ritter, der hier oben seine schützende Hand über all die Kinder legt, die verloren sind«, ergänzte Leon.

»Verloren.« Nico löste sich sanft aus seiner Umarmung. »Lass uns nachsehen. Ich will wenigstens die Seele eines dieser Kinder retten. Fili ist tot. Aber der Schuldige muss gefunden und bestraft werden. Darum sind wir doch hier.«

Leon kämpfte mit sich. Schließlich nickte er.

»In Ordnung. Aber lass mich vorgehen.«

Er lief los. Nico folgte ihm und als Schlusslicht trottete Maik hinter ihnen her. Nico brach fast das Herz, wenn sie daran dachte, wie man ihn als Kind eingeschüchtert hatte.

»Warum bist du damals eigentlich hier hochgekommen, wenn das silberne Grab so schrecklich war?«

»Hab mich beim Beerensammeln verlaufen. Und wusste den Weg nicht zurück. Und als es dunkel wurde, bin ich hier rein. So kam das.«

Ja, dachte Nico, so kam das. Der Junge versteckte sich, wurde verschüttet, keiner vermisste ihn so richtig, und seitdem war er nicht mehr ganz richtig im Kopf.

»Und wer hat dich so zugerichtet?«

»Weiß ich nich. Habs nich gesehen. Kam von hinten, bumm.«

Bumm. Fast wäre sie in Leon hineingelaufen, der abrupt stehen geblieben war und sorgfältig den Boden ableuchtete.

»Meinst du die Stelle hier?« Er wies auf die zertretene Brotbox.

»Ja, aber noch ein Stück weiter.«

Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad setzte Leon seine Suche fort. Etwa fünfzig Meter weiter wurde er fündig. Nico, die ihm aufgeregt gefolgt war und nicht aus den Augen ließ, was er beleuchtete, hielt die Luft an.

»Streichhölzer.«

Nico wandte sich an Maik. »War das hier?«

Ratlos kratzte sich der Riese am Hinterkopf. In diesem Licht sah er gemeingefährlich aus. Er braucht einen Arzt, dachte Nico, so schnell wie möglich.

»Ich denk schon.«

Leon ging in die Hocke. Er beleuchtete den gegenüberliegenden Felsen und hob die andere Hand, um sanft über etwas zu fahren, das Nico nicht erkennen konnte. Sie ging zu ihm. Auf dem Boden lag ein angekokelter gelber Buntstift, mit dem Fili mit letzter Kraft etwas auf die Wand gemalt haben musste.

Es war fast die gleiche Zeichnung wie auf den Blättern aus Kianas Märchenbuch. Nur gröber, wie mit Holzkohle gezeichnet. Ein Bett, ein Kind darin, davor ein schwarzer Schatten. Und darüber vier Buchstaben.

»Ich kann es nicht glauben«, flüsterte Leon.

Er zitterte so stark, dass er die Taschenlampe sinken lassen musste. Vier Buchstaben, die alles, aber auch alles in Grund und Boden traten, an das man einmal geglaubt hatte. Nico nahm ihm vorsichtig, beinahe zärtlich die Lampe aus der Hand. Es war so klar. So einfach. Sie wusste jetzt, warum Fili geschwiegen hatte. Warum Kiana verflucht worden war. Warum Maik zu einem Irren abgestempelt worden war. Warum alles, aber auch alles darangesetzt worden war, diese Untat verheimlichen. Warum sie, Nico, von einem Menschen so gehasst wurde, dass er bereit gewesen war, sie umzubringen.

Vier Buchstaben. Nico leuchtete sie noch einmal an. Filis Vermächtnis, zwölf Jahre in einem Berg begraben. Sie hatten es gefunden. Und die Welt würde nie mehr so sein, wie sie gewesen war.

Hinter ihr begann Maik zu schluchzen.

Schattengrund
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