Zwei

In der Nacht wälzte sich Nico auf der vergeblichen Suche nach Schlaf in ihrem Bett herum. Sie war immer noch aufgewühlt von dem, was am Vormittag geschehen war. Jeden Satz, jede Szene war sie im Geist noch einmal durchgegangen, und nach wie vor konnte sie sich keinen Reim darauf machen, warum ihre Eltern so strikt gegen diese Erbschaft waren.

Ihren Vater hatten sie am Reisebüro abgesetzt, danach war ihre Mutter mit ihr nach Hause gefahren. Nico hatte sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert und gehofft, dass irgendwann jemand nach ihr sehen und ihr eine vernünftige Erklärung geben würde – vergeblich.

Am Abend hatte sie noch einmal versucht, das Gespräch auf Kiana zu bringen. Ihr Vater, genervt von dem Thema und der Stornierung einer großen Reisegruppe, hatte sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen und wollte nicht mehr gestört werden. Stefanie hatte wiederholt, was sie schon beim Notar gesagt hatte: Das Haus sei alt und Kiana in den letzten Jahren ihres Lebens nicht ganz richtig im Kopf gewesen.

»Warum hatten wir denn so gar keinen Kontakt mehr zu ihr?«

Stefanie zuckte mit den Schultern. »Sie hat wie ein Einsiedler gelebt und Siebenlehen kaum noch verlassen.«

»Dann hätten wir sie doch mal besuchen können.«

»Nico. Das passiert auch in den besten Familien. Man verliert den Kontakt zueinander und eines Tages ist es zu spät.«

»Tut es dir wenigstens leid?«

Stefanie, die gerade einen Stapel Teller aus der Geschirrspülmaschine geholt und ihn Nico weitergereicht hatte, wandte sich ab.

»Ja. Natürlich. Aber wir hatten es auch nicht leicht. Das Reisebüro hat von Anfang an schrecklich viel Arbeit gemacht. Und im Moment sieht es noch nicht einmal danach aus, als ob sie sich gelohnt hätte.«

»Dann verstehe ich euch erst recht nicht.«

»Wir hatten einen Streit.« Stefanie räumte das Besteck aus und sortierte es in der Schublade ein. »Es ging um dich und darum, dass sie unserer Meinung nach nicht gut genug auf dich aufgepasst hatte. Es war ein Zerwürfnis, das wir nie wieder kitten konnten. Alte Damen können so schrecklich nachtragend sein.«

»Das klang aber heute ganz anders.«

»Nein.« Stefanie schenkte ihr ein merkwürdiges, fast unechtes Lächeln. »So war das immer. Sie war unglaublich nett und lieb, aber in Wirklichkeit hat sie immer was im Schilde geführt. Noch haben wir die Verantwortung für dich.«

»In sechs Wochen nicht mehr! Es geht um vierundzwanzig Stunden!«

»Eben. Merkst du das nicht? Das ist doch kein Zufall. Sie ist im Sommer gestorben. Und erst jetzt, Monate später, kommt es zur Testamentseröffnung. Sie hat gewusst, dass wir das Erbe ablehnen und wie sehr dich das treffen wird. Hätte sie ihre Notarsankündigung nur um einen Tag nach hinten verschoben, wäre alles allein deine Entscheidung gewesen. Sie hat diesen Streit vorausgesehen. Und glaube mir – ich kann ihr Kichern hören, als sie alles genau so ihrem lieben Freund von Zanner in die Feder diktiert hat.«

Nico setzte sich auf den nächstbesten Küchenstuhl. »Das war Absicht?«

»Was sonst?«

Damit war das Gespräch beendet gewesen. Ihre Gedanken waren es aber keineswegs; sie rasten weiterhin durch Nicos Kopf und gaben ihr keine Ruhe. Nico setzte sich in ihrem Bett auf und knipste die Lampe an, ein billiges Modell von einem Möbeldiscounter, auf dem mehrere Schlümpfe Ringelreihen tanzten. Ihr ganzes Zimmer war ein Sammelsurium von Dingen aus verschiedenen Lebensabschnitten. An den Kindergarten erinnerte noch die Messlatte mit den Strichen neben der Tür. Den Schreibtisch hatte sie zur Einschulung bekommen, wobei man darauf geachtet hatte, dass er »mitwuchs«. Die Bücherregale wurden eigentlich nur noch durch die Bücher zusammengehalten, die sich in ihnen stapelten. Ihre Bettwäsche stammte aus der rosa Phase, die Vorhänge hingegen waren ein echtes eBay-Schnäppchen gewesen. Sie mochte ihr Zimmer. Die beiden kleinen Sessel hatte sie vom Flohmarkt, genauso wie den uralten Schemel, den sie zu einem Beistelltisch umfunktioniert hatte. Neben der Tür stand der Besen. Er passte zu ihr und er passte zu diesem Zimmer. Nur der Gedanke, dass Kiana sie alle zum Narren gehalten hatte, der passte überhaupt nicht.

Sie stand auf und schlich leise über den Flur in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war fast ein Uhr nachts. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern und hoffte, sie würden nicht schon wieder über den Rechnungen sitzen. Auf dem Rückweg bemühte sie sich, besonders leise zu sein.

»Es war unverantwortlich. Wir hätten das niemals zulassen sollen.«

Ihr Vater. Nico blieb stehen, etwas Wasser schwappte über den Glasrand und tropfte auf den Boden.

»Es war ein Notartermin.« Stefanie. »Was hätten wir tun sollen? Ihn einfach unterschlagen? Irgendwie habe ich gehofft, sie würde eine wurmstichige Kommode kriegen und gut wär’s. Aber Schattengrund – das ist unfassbar. Sie hat versprochen, nie wieder Kontakt zu Nico aufzunehmen. Und sie hat sich sogar daran gehalten. Ich habe wirklich geglaubt, sie hält weiterhin ihr Wort, aber da sieht man mal, wie man sich irren kann. Ich kann nur hoffen, Nico wird es vergessen und verschmerzen.«

Nico wollte weitergehen.

»So wie damals?«, fragte ihr Vater. »Sie ist fast erwachsen. Wir hätten es ihr sagen sollen.«

»Nein!«

»Leise, Steff.«

»Nein.« Die Stimme ihrer Mutter wurde zu einem Flüstern. Nico lauschte angestrengt, aber mehr als ein paar Wortfetzen drangen nicht durch die Tür. »… die alten Wunden … nie wieder … die Schuld an allem …«

Offenbar machte ihren Eltern die Familienfehde mehr zu schaffen, als sie zugeben wollten.

»Sie war so krank. Wir mussten sie sogar aus der Schule nehmen und sie ein Jahr später einschulen … hängt ihr bis heute nach … darf es nie erfahren … sie ist darüber hinweg …«

Was durfte sie nie erfahren? Worüber war sie hinweg? Mit pochendem Herzen näherte sich Nico der Tür. Dabei knarrte eine Diele. Erschrocken huschte sie zurück in ihr Zimmer und löschte das Licht. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie hören konnte, dass ihre Mutter kurz in den Flur kam, um nachzusehen. Vorsichtig stellte Nico das Glas auf den Boden und wartete, bis es wieder still war.

Sie versuchte, das Puzzle aus Wortfetzen, das sie aufgeschnappt hatte, zusammenzusetzen, aber es gelang ihr nicht. Alte Wunden, etwas, an dem Kiana schuld war und das sie, Nico, wohl vergessen hatte. Sie hat nicht gut genug auf dich aufgepasst. War es das?

Oder die Krankheit? Sie wusste bis heute nicht genau, was sie gehabt haben sollte. Ein Nervenfieber, hieß es. Dabei hatten es Erstklässler eigentlich selten mit den Nerven. Manchmal betrachtete sie die Fotos von ihrer ersten Einschulung: Zart war sie gewesen, kleiner als die anderen. Wo will denn die Schultüte mit dem Mädchen hin?, hatte ihr Vater einmal im Scherz gesagt.

Von der zweiten Einschulung gab es keine Fotos. Und Nico konnte sich auch gar nicht mehr richtig daran erinnern. Ein verkorkster zweiter Anfang musste es gewesen sein. Sie hatte den Anschluss verloren und ihn nie so ganz wiedergefunden. In den ersten Jahren hatte die Außenseiterrolle noch geschmerzt, dann hatte sie sich daran gewöhnt. Sie war eben eine Einzelgängerin. Manchmal hatte es noch wehgetan, wenn die anderen sie links liegen ließen. Wenn sie bei der Mannschaftsauswahl im Sport immer als Letzte übrig blieb. Wenn sie It-Girls der Klasse von ihren tollen Geburtstagspartys erzählten, zu denen sie nie eingeladen war. Aber sie hatte gelernt, damit zu leben. Ihre Freunde waren ihre Bücher, und als die Jungen endlich aufhörten, in prustendes Gelächter auszubrechen, sobald sie in die Nähe kam, wurde es auch mit dem Selbstwertgefühl besser. Sie war keine Schönheit, aber manchmal stand sie lange vor dem Spiegel, schaute sich in die Augen und dachte, irgendeinen wird es schon geben, der runde Gesichter und schnittlauchglatte Haare mag. Aber er ließ einfach verdammt lange auf sich warten.

Das wurde erst anders, als sie durch Zufall in diesem Schuljahr neben Valerie gelandet war. Valerie, die schon allein wegen ihrer Körperfülle zwei Drittel der Schulbank für sich beanspruchte und die das letzte Drittel in ihrer umwerfend frechen Art auch noch mit ihren Sachen zupflasterte. Sie war neu, und sie erklärte auch sofort, dass sie nicht einmal quer durch die Stadt umgezogen waren, weil sie eine Luftveränderung wollten, sondern weil sie einfach eine billigere Wohnung brauchten. Valeries freches Grinsen eroberte Nicos Herz im Sturm. Jemand, der so offen mit seiner desaströsen Lage umging, kam auch mit einer Loserin wie Nico als Sitznachbarin klar.

Seitdem war sie nicht mehr allein. Der Gedanke an ihre Freundin und wie sie am nächsten Morgen vor der Schule diese rätselhafte Geschichte durchhecheln würden, tröstete sie.

Nico kuschelte sich in ihr warmes Bett und versuchte, sich an den Duft von Kianas Apfelkuchen zu erinnern. An karamellisierten Zucker und warme Hefe, an Milch und Butterstreusel. Und an ein Lächeln im Gesicht einer Frau, die sich zu ihr hinunterbeugte und fragte: »Möchtest du ein Stück?« Fast schon im Traum erwiderte sie das Lächeln. Im letzten halbwachen Moment wunderte sie sich noch, warum sie sich bei dieser Frau so geborgen fühlte. Bei der Frau, die nicht gut genug auf sie aufgepasst hatte.

Schattengrund
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