Dreiunddreißig

Ein Wunder. Es gab noch Leben in Siebenlehen. Ein kleiner Anbau neben einem unscheinbaren Haus, ein paar Straßen hinter der Kirche Richtung Altenbrunn, beleuchtet mit der vielversprechenden Reklame »Pizza Pasta Döner«. Die Einrichtung war spartanisch: ein paar Bistrotische, Barhocker und ein Spielautomat, der alle paar Minuten losjaulte und mit blinkenden Lichtern versuchte, die Aufmerksamkeit der wenigen Gäste auf sich zu ziehen. Im Schaufenster, das ganz beschlagen war, versuchte es ein Christbaum aus Plastik mit vorweihnachtlicher Stimmungsmache.

Hinter einem hohen Verkaufstresen stand ein Mann in mittleren Jahren, den es aus südlicheren Gefilden ausgerechnet in den Harz verschlagen hatte und dem das trotzdem nicht aufs Gemüt geschlagen war. Er war gerade dabei, eine Pizza zu belegen, und nickte ihnen beim Eintreten freundlich zu.

»Buona sera! Zum Mitnehmen oder Hieressen?«

»Hieressen«, antwortete Leon.

Zwei der hohen Tische waren besetzt. An einem knutschte ein Pärchen wild herum, am anderen saß ein älterer Mann, der gedankenschwer auf seinen Hund starrte, einen Terriermix, der es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte.

Leon steuerte auf den dritten Tisch am Fenster zu. Nico schälte sich aus ihrer Jacke. Es war warm, es roch lecker und man nahm so gut wie keine Notiz von ihr. Auf dem Tisch lagen bedruckte Zettel mit der Speisekarte. Beide studierten das Angebot. Nico wusste schnell, was sie wollte.

»Ich nehme die Salami mit Extrakäse, Zwiebeln, Thunfisch, Schinken und Peperoni.« Schon diese Aufzählung ließ Nico das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Also einmal alles. Richtig?«

Sie nickte. Leon ging zu dem Mann, um die Bestellung aufzugeben. Er wechselte noch ein paar Worte mit ihm. Offenbar war Nicos Bestellung etwas kompliziert. Vorsichtig hob Nico den Blick, um zu ergründen, ob das Pärchen oder der Mann sie jetzt anstarrten. Das Pärchen holte kurz Luft, er fuhr ihr durch die Haare, sagte »Oh, du …« oder etwas ähnlich Geistreiches und sie knutschten weiter. Nico rieb ein Guckloch in dem beschlagenen Fenster frei. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Kleine Eiskristalle, die vom Himmel fielen. Der Schnee funkelte im Licht der Laternen wie Milliarden von Diamanten.

Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und schaute herüber. Er trug einen langen, dunklen Mantel, sein Gesicht lag im Schatten. Wie ertappt zuckte Nico zurück. Er hatte ihr direkt in die Augen gesehen, als ob er darauf gewartet hätte, dass sie sich zeigte. Sie sah zu Leon, der gerade die Bestellung beendet hatte. Der Chef schob die Pizza in den Ofen. Leon kam mit einem Bier und einer Cola zu ihr.

»Ist was?«

Sie sah noch einmal hinaus. Der Mann war weg.

»Nein.«

Er schob ihr die Colaflasche über den Tisch zu. »Ist das okay?«

»Klar.« Sie trank einen Schluck. Dass es das noch gab. Prickelnde, belebende Limonade, Zucker, Sprudelwasser … Pizza. Wenn sie nicht bald etwas zu essen bekäme, würde sie tot vom Stuhl fallen.

»Cheers.«

Er berührte ihre Flasche kurz mit seiner. Natürlich. Sie hatte wieder einmal nicht warten können.

»Willst du Anzeige erstatten?«

»Ich?«, fragte Nico verblüfft. »Weshalb?«

»Sie ist immerhin mit einer Knarre auf dich losgegangen.«

»Sie hätte noch nicht mal einen Elefanten getroffen, wenn er direkt vor ihr gestanden hätte.«

Nico leerte den Rest der Flasche in einem Zug. Leon sah ihr dabei zu. Sie konnte diesen Blick nicht deuten. Amüsierte sie ihn? Wollte er sie aushorchen? Mit seinem Pizza-Friedensangebot hatte sich zumindest ihr innerer Sturm gelegt, mit dem sie gegen ihn angelaufen war. Aber sie musste aufpassen, was sie von sich preisgeben würde. In jeder Beziehung. Eine kurze Weile schwiegen sie sich an.

»Das ist eine echt harte Nummer, die du hier durchziehst«, sagte er schließlich. »Hast du denn außer deinen Vermutungen auch Beweise?«

»Warum fragst du nicht einfach, ob ich etwas im Keller gefunden habe?«

»Hast du was gefunden?«

Ja, sie war käuflich. Für eine Pizza tutto completto gab sie jedes Geheimnis preis. Noch war die Vertrautheit nicht wieder da, aber sie wollte mit dem, was sie gefunden hatte, nicht alleine bleiben. Der Einzige weit und breit, mit dem sie reden konnte, war Leon. Außerdem rettete er sie regelmäßig vor dem Hungertod.

»Die Gästebücher. Ich hab sie in einem der alten Kartons gefunden. Übrigens: Wenn der Schwarze Hirsch schon immer so mit seiner Buchhaltung umgegangen ist, wundert mich die Pleite nicht.«

»Meine Rede. Also?«

Vorsichtig sah Nico sich um. Das Pärchen hing immer noch aneinander wie zwei Tintenfische bei der Paarung. Der Hund stand auf, schüttelte sich, dass die Steuermarke klirrte, und legte sich wieder hin. Sein Herrchen murmelte: »Gut so, feini.«

Nico zog die herausgerissenen Blätter aus ihrer Hosentasche und legte sie auf den Tisch. Leon streckte die Hand aus, als ob er sie an sich ziehen wollte, ließ es dann aber bleiben, weil die Pizza kam. Hastig steckte Nico die Blätter wieder weg.

»Buon appetito.« Der Mann lächelte sie freundlich an.

Nico war über diese nette Behandlung so perplex, dass sie die Antwort vergaß. Sie wickelte ihr Besteck aus einer dünnen Papierserviette und wartete, bis Leon auch so weit war.

»Also dann …«

Überrascht lächelte er sie an. »Oh, du hast gewartet?«

Nico grinste. »Mein Fehler. Hau rein.«

Sie machten sich über die Pizza her, und Nico hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen wieder in der echten Welt gelandet zu sein.

»Ist schon was anderes als Dosenrouladen, nicht?«, fragte Leon.

Nico vergaß vor Schreck zu kauen. »Minx!«, rief sie. Es klang wie »Mist!«, und Leon hob fragend die Augenbrauen. Sie würgte den Bissen hinunter.

»Minx. Ich habe sie total vergessen. Sie ist seit heute Nachmittag ganz allein in Schattengrund.«

»Was? Willst du gleich los? Wir können das auch einpacken lassen.«

Nico brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er einen Witz gemacht hatte. Wenn sie ehrlich war – sie hätte hier gut den Rest des Abends und ihretwegen auch die Nacht verbringen können. Irgendwo spielte leise ein Radio, verträumte Tanzmusik vergangener Jahrzehnte. Der Patron lehnte mit dem Rücken an seiner Arbeitsfläche und kaute auf einem Streichholz herum. Zwischendurch griff er nach einem Geschirrhandtuch und fuhr damit über die spiegelblanke Anrichte. Wäre das Schnarren und Blinken des Spielautomaten nicht gewesen, der kleine Imbiss hätte einer der gemütlichsten Orte der Welt sein können.

»Sie muss auf jeden Fall noch was zu Fressen kriegen«, antwortete Nico.

Die Pizza war dünn, knusprig, mit einem saftigen Belag und wunderbarem würzigen Käse, der Fäden zog, wenn sie ein Stück zum Mund führte. Leon beobachtete die wenigen Menschen im Raum und schien zu dem Schluss zu kommen, dass keiner auf sie achtete.

»Also?«

Sie wischte die Finger an der Serviette ab und griff zu den herausgerissenen Seiten. In mehreren Spalten waren Namen, Anschriften, Telefon- und Passnummern eingetragen. Die Handschriften unterschieden sich. Wahrscheinlich hatte immer derjenige das Buch geführt, der an der Rezeption Stallwache schob.

»Am dritten Januar waren fünf Zimmer belegt.«

»Das ist ja beschissen für die Wintersaison. Von wem?«

Nico kniff die Augen zusammen, um das Gekritzel des ersten Eintrags zu entziffern.

»Jobst und Sabine Stadlberger aus Fürth. Das war ihre … Moment …« Sie nahm das andere Blatt und suchte etwas in den Spalten. »… sechste Nacht. Sie sind nach Weihnachten gekommen und über Silvester geblieben.«

»Die kenne ich.« Leon säbelte sich das nächste Stück Pizza ab. »Kannst du abhaken. Wenn Fili die gemalt hätte, wären zwei Medizinbälle dabei herausgekommen. Klein und dick, beide.«

»Katharina und Hilde Wallmann aus … Das kann ich nicht lesen.«

Sie wollte ihm das Blatt hinüberreichen, aber von seinen Fingern tropfte gerade alles, was von einer Pizza tropfen konnte.

»Zwei Frauen. Das sind sie wohl auch nicht.«

»Ludwig Kress aus Finsterwalde.«

Sie sah hoch, aber Leon sagte nichts. »Beruf: Schornsteinfeger, steht hier.«

»Ach ja, die kommen zweimal im Jahr. Wenn sie es nicht rechtzeitig zurückschaffen, haben sie schon mal übernachtet.«

Nico runzelte die Stirn. »Ein Schornsteinfeger ist definitiv ein schwarzer Mann.«

»Okay, dann kommt er auf die Liste.«

»Der Nächste ist Gero Schumacher aus … ach. Siebenlehen?«

Leon blieb die Pizza im Hals stecken. Er hustete, verschluckte sich und der Mann am Nebentisch sprang auf und schlug ihm beherzt auf den Rücken. Der Hund hob lediglich interessiert den Kopf.

»Danke … danke«, krächzte Leon. Er trank einen Schluck Bier, danach ging es ihm besser. »Das ist der Pfarrer.«

Nico blieb der Mund offen stehen.

»Der Pfarrer? Warum übernachtet er im Schwarzen Hirschen?«

»Ich weiß es nicht. Aber der wird es wohl kaum gewesen sein.«

Nico schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann ihn nicht ausschließen. Auch er trägt Schwarz.«

Leon seufzte. »Noch jemand?«

Nico ließ das Blatt unter dem Tisch verschwinden. Sie nahm ein Stück Pizza und biss davon ab. Aber plötzlich hatte sie keinen Hunger mehr.

»Nein.«

»Also wenn du nach schwarzen Männern suchst, müsstest du auch Maik Krischek dazuzählen. Der hat immer die Kohlen gebracht, als wir noch mit Kachelöfen geheizt haben.«

Wir. Wie schnell Leon sich mit der Familie identifizierte, die ihn noch vor ein paar Tagen über den Tisch ziehen wollte. Sie schob den Teller ein Stückchen weg.

»Was? Bist du schon fertig?«Leon nahm sich ein Stück von ihrer Pizza. »Schwarze Männer … Einen Moment habe ich auch in eine ganz andere Richtung gedacht. Aber ehrlich gesagt, nach Siebenlehen hat sich auch noch nie ein Farbiger verirrt. Ich glaube, Zita würde in Ohnmacht fallen, wenn sie einem gegenüberstehen würde. Was bleibt also?«

»Der Pfarrer, Maik und der Schornsteinfeger.«

Er biss eine Ecke ab und holte sein Handy heraus. Der Empfang musste gut sein, denn er tippte eine Nummer ein und hatte wenig später jemanden am Apparat.

»Könnten Sie mich mit einem …«

»… Ludwig Kress aus Finsterwalde«, soufflierte Nico.

»Ludwig Kress aus Finsterwalde verbinden? Danke.« Er hielt die Hand über das Mikrofon. »Es gibt ihn noch. Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen.«

Er stellte sein Handy auf Lautsprecher um, schob die Teller zusammen und legte es auf die Tischplatte. Nico rückte an seine Seite. Beide beugten sich über den Apparat, damit die anderen Gäste möglichst nichts mitbekamen. Nach viermal Klingeln wurde abgehoben.

»Jaaaa … Guten Abend?«, säuselte eine nasale Stimme.

»Herr Kress?«, fragte Leon.

»Am Apparat, mein Süßer. Was kann ich für dich tun?«

Nicos Augen weiteten sich vor Erstaunen. Dann prustete sie los und konnte sich in letzter Sekunde noch die Hand vor den Mund halten.

»Mein … äh … Schornstein«, stotterte Leon. Nico erstickte fast vor Lachen. »Er …« Leon warf einen irritierten Blick auf Nico, die dabei war, vom Stuhl zu fallen. »Er zieht nicht richtig.«

»Na so was!« Herr Kress war entweder zum Kabarett gewechselt oder hatte seinen Tee mit Kreide genommen. »Und da soll ich kommen und ein wenig, nun … kehren?«

Nico röchelte nur noch. Auch Leon begriff, dass das Gespräch eine Wendung nahm, die schwer in Richtung »nicht jugendfrei« tendierte.

»Nein, also …« stotterte er.

Aber Herrn Kress interessierte Leons Schornstein offenbar weniger als befürchtet. »Weißt du, wie spät es ist? Außerdem haben wir Sonntag, und ich bin nur an den Apparat gegangen, weil ich auf einen Anruf von meinem Mann gewartet habe.«

Nico lag fast unter dem Tisch vor Lachen.

»Aber wenn du Hilfe brauchst, dass dein … Schornstein … wieder funktioniert, dann wende dich an den Kollegen in Altenbrunn. Der macht das zwar nicht so zärtlich wie ich, dafür ist er jünger. Ich bin seit vier Jahren in Rente. Und glaube mir, mein Junge, da fängt das Leben erst an!«

Nico riss sich zusammen und beugte sich über das Handy. »Herr Kress, eigentlich rufen wir aus einem ganz anderen Grund an.«

»Oh, eine junge Dame? Sagen Sie bloß, der Herr mit diesem erotischen Timbre in der Stimme ist vergeben!«

Leon grinste und schüttelte den Kopf, was wohl hieß, dass er sich blendend über die Flirtversuche des ehemaligen Schornsteinfegers amüsierte.

»Ich fürchte ja«, antwortete Nico. Ihr fiel ein, dass sie so gut wie gar nichts über Leon wusste. Noch nicht einmal, ob er in England liiert war. »Herr Kress, wir sind in Siebenlehen und wollten fragen, ob Sie sich noch an den Winter vor zwölf Jahren erinnern können.«

»Mein reizendes Kind! Da überschätzen Sie mich aber. Vor zwölf Jahren?«

»Es war eiskalt. Noch kälter als jetzt. Das Thermometer ist unter die –20-Grad-Marke gefallen. Das war Rekord, glaube ich.«

»Ach ja. Nun, es gibt ja nicht viel, in was unsere Gegend Weltniveau erreicht. Wenn es denn die Kälte ist …«

»Sie haben in der Nacht vom zweiten auf den dritten Januar im Schwarzen Hirschen übernachtet.«

Schweigen. Beinahe hätte Nico geglaubt, die Verbindung wäre unterbrochen, da hörte sie ein lang gezogenes Schnauben, das am anderen Ende wohl als Seufzer begonnen hatte.

»Das Mädchen«, sagte Herr Kress. Mit einem Mal klang seine Stimme völlig normal. »Ruft ihr deshalb an?«

»Ja.«

»Ein Kind wurde vermisst. Tage später habe ich aus der Zeitung erfahren, dass es oben am Berg erfroren ist. Haben Sie diesen Winter gemeint?«

»Ja.« Nico spürte, wie die Aufregung in ihr stieg. »Warum haben Sie im Schwarzen Hirschen übernachtet?«

»Verzeihen Sie, aber aus welchem Grund wollen Sie das wissen?«

Nico wechselte einen kurzen Blick mit Leon. Der nickte ihr zu.

»Ich war mit dem Mädchen befreundet. Ich habe keine Erinnerung mehr an diese Nacht. Ich suche Menschen, die mir etwas darüber erzählen können.«

»Warum kommen Sie dann nicht einfach her?«

»Wir sind eingeschneit.«

»Ah so. Und es ist so dringend?«

»Ja, Herr Kress. Es ist sogar mehr als das. Wenn Sie im Schwarzen Hirschen waren, ist Ihnen vielleicht etwas aufgefallen, das mit dem Mädchen zu tun hat. Ich bin dankbar für jede Information. Für jeden kleinen Schnipsel, mit dem ich das Puzzle zusammensetzen kann. Ich muss wissen, was in dieser Nacht geschehen ist. Ich … Ich bin damals mit Fili zusammen weggelaufen. Aber ich weiß nicht mehr, was da oben passiert ist. Es ist wichtig.«

»Sie waren dabei?«

»Ja«, antwortete Nico leise.

»Wie alt waren Sie damals?«

»Ich war sechs. Genauso alt wie Fili, als sie starb.«

»Fili. Fili …« Kress wiederholte den Namen, als ob er damit seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen könnte. »Mein Auto hat in der Kälte den Geist aufgegeben. Ich kam nicht mehr zurück. Der ADAC meinte, dass es Stunden dauern würde, bis ein Wagen nach Siebenlehen käme. Also habe ich mir ein Zimmer in diesem Hotel genommen. Da war ein kleines Mädchen im Schwarzen Hirschen. Blond? Dünn und blass?«

»Ja! Das ist sie!«, rief Nico.

Das war sie, setzte sie im Geist hinzu, brachte es aber nicht fertig, die Worte auszusprechen. Sie spürte Leons Atem auf ihrer Wange.

»Herr Kress … Bitte denken Sie nach. Ist Ihnen an diesem Tag etwas aufgefallen?«

»Natürlich. Das Kind ist wohl kurz vor sechs noch einmal zu einer Freundin gegangen. Waren Sie das?«

»Ja.«

»Aber es kam nicht zurück. Nach dem Abendessen, so gegen zehn, kam eine Frau in die Gaststube. Sie war sehr aufgeregt und behauptete, ihre Tochter wäre gemeinsam mit Fili verschwunden. Sie machte große Vorwürfe. Sie sah sehr müde und besorgt aus und war wohl schon Stunden in der Kälte und der Dunkelheit unterwegs gewesen, um die Kinder zu suchen. Die Frau regte sich sehr darüber auf, dass niemand zurückgerufen hätte.«

»Die Frau? Kiana?«

»Kiana! Ja, so war ihr Name. Sie hatte ein Haus in Siebenlehen, Schattengrund. Komplizierter Kamin, verstopft sehr schnell. Die waren sich wohl nicht grün, die von Schattengrund und dem Schwarzen Hirschen. Ich habe keine Ahnung, warum. Sie hatte wohl Hausverbot oder so etwas, jedenfalls wollten sie sie am Anfang gar nicht hereinlassen. Es klang so, als ob sie vor Kurzem schon einmal da gewesen wäre und Krawall geschlagen hätte. Jedenfalls … Wissen Sie, man ist nur Gast und bekommt nicht alles mit. Jedenfalls wurde erst mal das Haus auf den Kopf gestellt und dann haben sich Suchtrupps gebildet. Auf einmal behauptete die Wirtin steif und fest, sie hätte gesehen, wie Fili mit Ihnen Richtung Berg marschiert wäre. Wenn Sie mich fragen – das stimmte nicht. Ich war eigentlich ab sechs unten. Das Mädchen ist alleine losgelaufen. Und niemand ist danach vor die Tür gegangen. Es war ja auch viel zu kalt. Kurz: Jeder, der behauptet, er hätte an diesem Abend zwei Kinder aus Siebenlehen in den Bergen verschwinden sehen, hat gewissermaßen sozusagen vielleicht eine getrübte Wahrnehmung der Dinge.«

»Sie meinen … Die Wirtin hat gelogen?«

»Hoffentlich trete ich damit niemandem zu nahe. Aber es klang mir sehr nach einer Schutzbehauptung.«

Nico sah zur Decke und holte tief Luft. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Herr Kress entlastete sie. Die Schuld, diese grässliche Schuld, schrumpfte, wurde immer kleiner und machte einer zaghaften, vorsichtigen Freude Platz. Es kam Nico so vor, als ob sie zum ersten Mal seit damals wieder tief durchatmen konnte.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja!«

Leons und Nicos Köpfe stießen beinahe zusammen, als sie sich wieder über das Handy beugten.

»Herr Kress.« Nico fürchtete sich vor der Frage. Auch Leons Gesicht verdüsterte sich. Vielleicht, weil ihm erst jetzt bewusst wurde, dass Fili den ganzen Abend nicht von ihrer Familie vermisst worden war. Das zu hören musste bitter für ihn sein. Aber lange nicht so schrecklich wie der Vorwurf, der auf Nico gelastet hatte. »Können Sie sich noch erinnern, ob irgendetwas vorgefallen ist, bevor Fili verschwand? Hat ein Gast sich mit ihr gestritten? Oder hat sie sich besonders gut mit einem verstanden?«

»Nein. Ich bin ihr ja auch nur ganz kurz begegnet. Im Treppenhaus. Sie kam aus einem Zimmer und hat mich fast umgerannt.«

»Können Sie sich erinnern, welches Zimmer das war?«

»Also wirklich, es ist doch so lange her. Nein. Im ersten Stock vielleicht? Wo war ich denn?«

Nico blätterte in den Seiten. Sie achtete darauf, dass Leon sie nicht sehen konnte.

»Zimmer 14.«

Leon räusperte sich. »Das ist im ersten Stock.«

»Dann muss es der zweite gewesen sein, denn das Mädchen war über mir. Ich wunderte mich noch. Ja. Ich wunderte mich.«

»Worüber?«

»Fili hat geweint. Sie war außer sich. Sie rief noch irgendetwas. Lass mich in Ruhe oder so. Geh weg. Nein! Geh zurück! Zurück, das hat sie gesagt. Merkwürdig, nicht? Dann stürmte sie die Treppe hinunter und hätte mich im Flur beinahe umgerannt.«

»Ja«, antwortete Nico nachdenklich. »Das ist alles sehr merkwürdig. Vielen Dank. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich?«

Herr Kress schien einen Moment zu überlegen. »Es bringt doch nichts. Es ist doch schon so lange her.«

»Ich muss mein Mosaik zusammenkriegen und da fehlen einfach noch ein paar Steine. Sie hat wirklich zurück gesagt?«

»Ja. Wirklich. Mein armes Kind. Ich hoffe, du bist über die Tragödie hinweggekommen.«

»Geht so«, antwortete Nico.

»Dann grüß deinen Freund mit der erotischen Stimme von mir. Wenn er Lust auf eine Tasse Tee hat, ist er gerne gesehen. Du natürlich auch«, setzte er schnell hinzu.

Nico grinste. »Danke. Wir werden es uns überlegen.«

Leon beendete das Gespräch mit einer Berührung seines Zeigefingers auf dem Display. Dann steckte er das Handy ein.

»Ich glaube, Herrn Kress können wir aus dem Kreis der Verdächtigen streichen«, sagte Nico. »Er steht weder auf Mädchen noch auf Frauen.«

»Ja«, brummte Leon. »Das Gefühl habe ich auch. Und nun?«

»Er scheidet aus. Aber er hat uns einen wichtigen Tipp gegeben. Im zweiten Stock ist etwas vorgefallen.«

»Wer wohnte da?«

Nico sah auf die herausgerissenen Blätter. »Der Pfarrer. Maik Krischek können wir wohl ausschließen, er wird die Kohlen ja wohl nicht in ein Gästezimmer geliefert haben.«

»Nein.« Leon holte sein Portemonnaie heraus und stellte die Teller zusammen. »Ich fürchte, wir sind auf einer ganz falschen Fährte, wenn wir weiter bei der Gästeliste bleiben. Wir müssten herausfinden, wer wirklich an diesem Abend im Schwarzen Hirschen gewesen ist, und daran wird sich kaum jemand erinnern. Es könnte nämlich jeder gewesen sein. Falls es stimmt, was du glaubst.«

»Es stimmt«, sagte Nico leise. »Du hast es doch gehört. Herr Kress kann bezeugen, dass Fili vor jemandem davongerannt ist.«

»Ja. Aber dieser Jemand könnte wirklich halb Siebenlehen gewesen sein. Die Zimmerschlüssel hingen am Bord hinterm Tresen in der Gaststube. Keiner hat so richtig darauf geachtet. Es war wohl viel los in der Gaststube an diesem Abend, sonst wäre es Trixi und Zach viel früher aufgefallen, dass Fili weg war.«

Ich habe Fili nicht in den Wald gelockt, dachte Nico. Fast schämte sie sich, dass sie so glücklich war. Trixi hat sich das ausgedacht, um nicht als Rabenmutter dazustehen. Daher auch die schreckliche Auseinandersetzung mit Kiana. Daher der ganze, alte Hass. Versäumnisse, Vorwürfe, bittere Schuldzuweisungen.

Sie hat nicht aufgepasst.

Und übrig blieben nüchterne Fakten: Ein Kind war gequält worden. Die Eltern bekamen es nicht mit, weil sie überfordert waren. Fili hatte eine Freundin. Das war Nico, die die Ferien bei Kiana verbrachte. Die Mädchen spielten oft zusammen. Fili malte das, was sie bedrückte, in Kianas Märchenbuch.

Hatte Kiana die Zeichnung gefunden? Hatte sie Zach und Trixi zur Rede gestellt? War das der Grund für die Auseinandersetzung gewesen, von der der Schornsteinfeger gesprochen hatte? Hatte Fili ein schlechtes Ge-wissen bekommen und das Bild deshalb herausgerissen und in ihrem Zimmer versteckt? So musste es gewesen sein.

Der schwarze Geist war ein Mann gewesen. Am selben Tag, an dem Fili weggelaufen und Nico ihr aus irgendeinem Grund gefolgt war, hatte er es noch einmal versucht. Fili konnte ihm gerade noch entwischen – vielleicht, weil der Schornsteinfeger, ohne es zu wollen oder zu verstehen, den Mann bei seinen Übergriffen gestört hatte. Fili war zu Nico gerannt – zu Kianas Haus, dem einzigen Schutzort, den sie gehabt hatte.

»Sie wollte in den Berg.« Nico spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. »Sie war verzweifelt. Sie wollte nicht mehr zurück. Jemand hat ihr wehgetan.«

»Ist das die Wahrheit oder reimst du dir das nur so zusammen?«

Kapierte Leon immer noch nicht? Was sollten diese Fragen, die ihre Glaubwürdigkeit immer wieder in Zweifel zogen?

»Es ist die Wahrheit. Das weiß ich jetzt. Was Herr Kress eben am Telefon erzählt hat, bestätigt das doch alles.«

»Du glaubst, ich stehe nicht auf deiner Seite. Aber das tue ich. Wenn so etwas wirklich passiert ist und der Täter immer noch frei herumläuft, dann muss er dafür büßen. Aber dafür müssen deine Beweise hieb- und stichfest sein. Und bei aller …« Er brach ab und trank einen Schluck. »Bei allem Respekt: Bis jetzt hast du nichts, aber auch gar nichts in der Hand. Du musst dich erinnern. An jede Einzelheit. Jedes Wort. Jeden Schritt, den ihr zusammen getan habt. Kannst du das?«

Nico dachte nach. »Ich kann es.«

»Dann versuch es.«

»Jetzt?«

»Jetzt. Morgen ist es zu spät.«

Sie schloss die Augen. Sie sah die heilige Barbara vor sich mit ihren Tränen aus Eis. Fili, dachte sie, rede mit mir. Sag mir, was geschehen ist.

Die Wachspuppe schlug die Augen auf. Nico sah in Filis Gesicht. Sie hatte von der Kälte gerötete Wangen und nassen Schnee in den Haaren. Sie war außer Atem vom Laufen. Nico hatte sie schon von Weitem gesehen, von ihrem Platz am Fenster mit den Kissen und den kuscheligen Decken, wo sie in jenem Winter oft gesessen hatte, wenn es draußen zu kalt zum Spielen gewesen war.

Die Geräusche des Spielautomaten wurden leiser. Das Dudeln und Klingeln vermischte sich mit einer Weihnachtsmelodie. Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit … Fili mit den roten Stiefeln eilt die Straße hinauf zu Schattengrund.

»Fili kam zu uns, es muss früher Abend gewesen sein. Es war schon dunkel draußen. Ich mache ihr die Tür auf. Sie weint. Sie hat …«

… Tränen aus Eis.

Jemand ergreift ihre Hand. Ist es Leon? Nico sitzt immer noch mit geschlossenen Augen da. Sie sieht Fili vor sich, klar und deutlich, als ob es gestern gewesen wäre.

»Sie ist außer sich. Sie sagt, sie will nie wieder zurück. Sie will ins silberne Grab, zu dem schlafenden Ritter im Berg. Ich soll mitkommen. Ich habe Angst. Ich glaube an Gott, an das Christkind, an die Zahnfee und an Engel. Ich glaube tief und fest an den silbernen Ritter. Aber es ist der Glaube eines Kindes. Etwas ganz tief in mir drin sagt mir, dass er sich vom Glauben der Erwachsenen unterscheidet.«

»Weiter«, sagt Leon leise. »Gut. Du machst das gut.«

Er drückt ihre Hand. Er ist wie ein Führer in der Nacht, wie der Lotse eines kleinen, zerbrechlichen Schiffs. Seine Berührung gibt ihr Kraft, sich zu konzentrieren.

»Ich will nicht. – Dann gehe ich allein, sagt Fili. – Du weißt doch gar nicht wo das ist, sage ich. Ich will zu Kiana, die in der Küche arbeitet. Es riecht so gut nach Zimt und Bratäpfeln. Das Feuer knackt im Ofen. Minx liegt davor und schläft. Es ist die Wärme und die Liebe, die mich in Schattengrund halten. Aber Fili ist auf der Flucht vor dem Bösen …«

Leon legt den Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich heran. Sie vergräbt ihr Gesicht in seinem Pullover. Es ist dunkel und warm. Sie fühlt sich geborgen. Sie kann ihm alles sagen. Die Bilder jener Nacht – sie sieht sie so deutlich, als wäre all das erst vor Kurzem geschehen. Warum? Woher kommt die Erinnerung? Hatte die Schuld, die man ihr in die Schuhe geschoben hatte, den Blick darauf versperrt?

»Fili rennt raus. Ich muss mich entscheiden. Ich habe Angst. Ich kenne den Wald nicht und ich war noch nie auf dem Berg. Aber Fili ist schon fast am Gartentor. Ich nehme Mantel, Schal, Mütze und Handschuhe. Sie sind noch feucht vom Schneemann-Bauen am Nachmittag. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich will Kiana Bescheid sagen, und ich weiß, sie wird mich zurückhalten. Aber ich kann Fili nicht allein lassen.«

Der Schmerz wird groß und drückt ihr fast die Kehle zu.

»Sie war doch meine Freundin! Und … und …«

Leon drückt sie noch fester an sich. Seine Schulter ist der einzige Halt, den sie hat.

»… ich wollte den silbernen Ritter sehen.«

Leon streicht ihr übers Haar. Es tut so gut, seine Arme zu spüren. Er ist da. Er hört zu. Er lässt sie nicht allein, wenn sie das dunkelste Tor ihrer Kindheit öffnet.

»Ich sehe den Besen neben der Haustür. Wir haben damit gespielt. Wir waren Winterhexen. Uns kann nichts passieren, denn wenn es ernst wird, fliegen wir einfach davon. Doch ich lasse den Besen stehen. War das ein Fehler? Hätte ich fliegen können, statt mich zu verirren? Fili ist schon ein Stück voraus. Ich rufe sie und renne hinterher. Der Wald ist dunkel. Ich drehe mich noch einmal um und sehe Schattengrund.«

Weißer Rauch steigt aus dem Schornstein. Das Licht in den Fenstern leuchtet warm. Die Nacht ist blau. Tiefdunkles Blau. Der Himmel wie ein gefrorener See. Leon wiegt sie weiter in den Armen wie ein kleines Kind. Nico will die Augen nicht öffnen. Sie hat Angst, dass das zarte Band zu ihrer Erinnerung reißt.

»Schon nach kurzer Zeit verliere ich die Orientierung. Irgendwann kommen wir an einem Wegweiser vorbei. Eine alte Hexe hockt darauf und grinst uns an.«

»Die Kreuzung«, sagt Leon leise. »Nach rechts führt sie auf den Brocken, nach links hinunter nach Altenbrunn. Welchen Weg habt ihr genommen?«

»Keinen«, flüstert Nico. »Wir sind einfach geradeaus hinein in den Wald gelaufen. Ein alter Holzfällerweg vielleicht. Baumstämme liegen am Wegrand. Fili läuft weiter. Wohin willst du?, fragte ich sie. Sie lächelt.«

Sie hat Raureif auf den Wimpern und Perlen aus gefrorenem Schnee in den Haaren. Sie trägt einen weißen schäbigen Anorak und Wollhandschuhe, die irgendwann einmal weiß gewesen sind. Das Kunstfell an der Kapuze ist verfilzt. Doch es sieht in dieser Nacht aus wie das Diadem einer Prinzessin. Es ist nicht mehr weit, sagt sie. Alles ist still. Der Wald hält den Atem an. Und dann beginnt es zu schneien. Dichte, schwere Flocken fallen vom Himmel. Durch die entlaubten Äste der Bäume schwebt ein letzter Gruß der Engel.

»Ich spüre meine Beine nicht mehr. Es ist so kalt. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich werde langsamer. Fili läuft voraus. Ab und zu kann ich sie noch sehen zwischen den Baumstämmen. Ich folge ihren Spuren, aber der Schnee fällt dichter. Ich will umkehren, doch der Weg zurück verschwindet vor meinen Augen. Er wird einfach von oben zugedeckt. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Ich rufe. Ich schreie. Ich habe Angst.«

Nico blinzelt. Verschwommen erkennt sie bunte Reflexe. Es ist der Spielautomat mit seinen rotierenden Walzen. Edelsteine, Zaubertränke, schwarze Katzen. Eine junge, schöne Hexe schwenkt den Zauberstab. Happy witch – goldene Buchstaben blinken auf, Lichter explodieren. Geldspielautomaten sind für Nico das Zuhause heimatloser Zocker. Traurige Gestalten, die mit einem schalen Bier auf die billigen Lichter starren und darauf warten, dass ein paar Euro doch noch zurückkommen von ihrer Reise ins Nirgendwo. Die Walzen stoppen. Zweimal Zaubertrank, einmal Edelstein. Verloren. Vorbei. Ein kurzes Spiel.

Sie spürt Leons Wärme. Sie riecht Holz und Farn, den trockenen Geruch von Schnee und einen Hauch von Leder. Sie möchte in ihn hineinkriechen und nie mehr zurück in eine Welt, die Dinge wie Spielautomaten und Todesangst hervorbringt. Sie fängt seinen Blick auf und sieht Sorge in seinen Augen und Mitgefühl und etwas anderes, das dahinter verborgen liegt. Das sie verwirrt und beunruhigt, weil es einen Weg direkt in ihr Herz findet.

»Denk nach«, flüstert er. »Geh weiter. Du kannst es. Du hast die Tür aufgemacht. Du musst nur noch hindurchgehen.«

»Es ist furchtbar.«

»Ich weiß. Erinnere dich. Es ist wichtig. Auch wenn du Angst hast – du bist sicher. Ich passe auf dich auf. Okay? Okay?«

Sie nickt.

»Wo ist Fili?«

»Sie … Sie ruft nach mir.«

Leon streicht ihr die Haare aus der Stirn. Er ist so betörend nah. Sie ist so froh, diesen Weg nicht alleine gehen zu müssen.

»Die Tür. Ich sehe die Tür zum silbernen Grab. Ein in den Felsen getriebener niedriger Gang mit halbrundem Deckengewölbe. Versperrt wird er von einem Gitter aus geschmiedetem Eisen. Es hat eine Verzierung, sie sieht aus wie ein Symbol. Irgendwelche Werkzeuge.« Nico kreuzt die Unterarme. »So sah das aus, ungefähr.«

Leon nickt. »Schlägel und Bergeisen. Eine Art Fausthammer und ein Meißel, mit dem die Bergleute den Fels bearbeitet haben. Ihr habt definitiv das Mundloch entdeckt – den Eingang des alten Stollens.«

»Die Gitter ist zu, aber nicht abgeschlossen. Fili läuft in den Stollen. Wir haben kein Licht, keine Taschenlampe. Nach ein paar Metern wird es stockdunkel. Und dann … Oh mein Gott.«

Nico schlägt die Hände vor die Augen.

»Was war dann? Nico! Hör nicht auf! Geh weiter!«

»Fili schreit. Sie ist gestürzt, hat sich den Knöchel verknackst oder so was. Ich finde eine Packung Streichhölzer in meiner Jackentasche, vom Feuermachen. Und einen Kerzenstummel aus dem Schwippbogen. Ich zünde ihn an. Wir sind in einer Art Höhle. Einem Raum mit geschlagenen Wänden, von dem mehrere Gänge abgehen. Ich setze mich neben sie. Es ist nicht ganz so kalt wie draußen vor der Tür, doch wir können dort unmöglich bleiben. Aber Fili will nicht zurück. Sie will einfach nicht zurück! Sie sagt, sie will den silbernen Ritter suchen. In einem der Gänge muss er sein. Wenn sie ihn gefunden hat, wird ihr niemand mehr wehtun.«

»Wer hat ihr wehgetan? Wer?«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Sie hat es nicht gesagt. »

»Hat sie eine Andeutung gemacht? Hat sie gesagt, was ihr passiert ist?«

»Sie war ein Kind! Sechs Jahre alt! Was weiß man denn da, außer, dass etwas wehtut und einfach furchtbar ist? Vielleicht hat sie sich ja auch geschämt. Viele Kinder suchen die Schuld erst einmal bei sich. Sie trauen sich nicht, etwas zu sagen oder sich zu wehren. Die meisten Missbrauchsfälle ereignen sich doch innerhalb der Familie oder im engsten Freundes- und Bekanntenkreis. In Siebenlehen kennt jeder jeden. Was kann da die Aussage eines Kindes schon anrichten? Nichts. Die Einzige, der etwas aufgefallen ist, war Kiana. Und die wurde hochkant rausgeschmissen und für den Rest ihres Lebens als Nestbeschmutzerin gebrandmarkt.«

»Okay. Okay!« Leon nahm den Arm von Nicos Schulter. Genauso gut hätte er aufstehen und gehen können. Der Verlust von Wärme und Schutz tat Nico förmlich weh.

»Wie ging es weiter?«

»Ich hab sie gefragt, was sie macht, wenn wir den silbernen Ritter nicht finden. Sie hatte diese Möglichkeit gar nicht auf dem Schirm. Für sie war so klar, dass da oben im Stollen alle Probleme gelöst würden. Aber da war nichts. Nur Kälte und Dunkelheit. Jetzt begreife ich erst, wie groß ihre Enttäuschung gewesen sein muss. Sie hatte nur noch eine Hoffnung und selbst die wurde ihr genommen.«

»Und dann?«

»Wir sitzen im Dunkeln. Es sind Stunden vergangen. Irgendwann habe ich begriffen, dass wir sterben werden. Ich wollte zurück. Fili konnte nicht mehr laufen. Sie hatte Schmerzen. Und Angst. Ich hab sie noch mal gefragt. Sag die Wahrheit! Wovor bist du davongelaufen? Sie hat nur den Kopf geschüttelt. Sie sagt’s dem lieben Gott. Das waren ihre Worte. Sie sagt’s dem lieben Gott …« Nico schluchzt auf. »Da bin ich losgegangen.«

»Mach dir keine Vorwürfe.«

Doch, dachte Nico. Das tue ich. Sie rieb sich mit der Hand über die Augen, suchte nach Worten, hob die Schultern und ließ sie resigniert sinken.

»Jetzt ist es zu Ende. Aus. Alles dunkel. Ich habe keine Erinnerung mehr, was danach geschehen ist. Ich nehme an, Fili ist weiter in den Stollen gekrochen. Und ich habe versucht, alleine den Weg zurückzufinden und Hilfe zu holen. Dabei bin ich in die falsche Richtung gelaufen. Das war die Tragödie. Man hat mich auf dem Weg zum Brocken gefunden. Alle haben natürlich diese Gegend als Erstes abgesucht. Keiner hat an den Stollen gedacht, der ganz woanders lag. Ich weiß nicht, wie lange sie gebraucht haben, bis sie mich gefunden haben. Ich war schon im Delirium. Ich war halb tot und bin erst Tage später wieder in der Klinik zu mir gekommen. Da war Fili schon gestorben und ich hatte keine Erinnerung mehr an all das.«

»Es tut mir leid.« Leons Worte klangen ehrlich. »Das muss furchtbar für dich gewesen sein.«

»So furchtbar, dass ich es komplett ausgeblendet habe. Meine Eltern haben Siebenlehen nie mehr erwähnt. Kiana wurde zu einer fernen exzentrischen Verwandten, von der man sich am besten fernhielt. Ich habe immer geglaubt, dass es normal ist, keine Freunde zu haben und Angst vor Beziehungen. Jetzt weiß ich, dass es daher kommt, dass ich jemanden im Stich gelassen habe und mir das nie verzeihen konnte.«

»Angst vor Beziehungen?«, fragte Leon.

Nico sah zum Spielautomaten. Zweimal lucky witch, ein Halloween-Kürbis. Was wollte das Schicksal ihr mit dieser Kombination eigentlich sagen?

»Weiß nicht.« Sie begann, die Kruste von einem kalten Stück Pizza abzubrechen und in kleine Krümel zu zerlegen. »Vergiss es.«

Er stand auf und ging zum Tresen, um die Rechnung zu bezahlen. Was nun? Nico hatte ihre Erinnerung wiedergefunden, aber sie war auf der Suche nach dem wahren Schuldigen der Tragödie nicht weitergekommen. Sie faltete die Blätter aus dem Gästebuch so klein wie möglich zusammen und steckte sie ein. Wenn sie daran dachte, wer alles in jener Nacht im Schwarzen Hirschen gewesen war, wollte sie eigentlich auch gar nicht weitersuchen. War es nicht vielleicht besser, die ganze Sache wirklich auf sich beruhen zu lassen?

Die Reise nach Siebenlehen hatte sich schon allein aus dem Grund gelohnt: dass sie endlich die Wahrheit über ihre Rolle bei Filis Verschwinden herausgefunden hatte. Sie musste den Stein nicht mehr zurückbringen. Eigentlich reichte das doch. Sie war nicht schuld, sie hatte sogar helfen wollen. Jeder, der etwas anderes behauptete, wollte nur von seinem eigenen Versagen ablenken. Fahr nach Hause und vergiss Schattengrund, dachte sie. Und lerne, mit dir und dem was da oben passiert ist, klarzukommen.

Morgen würden die Straßen wieder frei sein. Ihre Mutter würde wie eine Furie im Dorf einfallen, ihr den Kopf waschen, sie ins Auto stecken und mit ihr zurück nach Hause fahren. Und dann würde das Leben weitergehen. Irgendwie.

Leon kam zurück. Er steckte sein Portemonnaie in die Hosentasche und sah sie aufmunternd an.

»Los geht’s.«

Nico stand auf. »Ich will jetzt nach Schattengrund zurückkehren. Ich gehe nicht mehr in den Schwarzen Hirschen.«

»Da wollte ich auch gar nicht hin.«

Er sah sich um. Der Mann mit dem Hund war verschwunden. Das Liebespärchen knutschte sich gerade halb unter den Tisch und verschwendete seine Aufmerksamkeit nicht an zwei Gäste, die nur am Tuscheln und Flüstern waren.

»Ich habe Fili gemocht. Und ich glaube ihr. Deine Geschichte klingt zwar haarsträubend, aber sie ist wahr. Ich will wissen, wer der schwarze Mann war. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen mit allen reden, die an diesem Abend im Schwarzen Hirschen waren. Und deshalb gehen wir jetzt zum Pfarrer. Einverstanden?«

Er hielt ihr die Hand hin. Nico nahm sie und in ihrem Herzen blühten wohl gerade Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen gleichzeitig.

Schattengrund
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