Sechsundzwanzig

Immer noch hing ein Hauch von Bratwurst in der Luft. Wahrscheinlich kam er vom Mittagessen, denn die Küche des Schwarzen Hirschen war kalt. Allerdings stapelte sich benutztes Geschirr in der Spüle und auf dem Herd stand eine fettige Pfanne.

Leon begann, das dreckige Geschirr in die Maschine zu räumen.

»Kann ich helfen?«

»Ja. Setz dich hin und rühr dich nicht vom Fleck.« Er nahm die Pfanne, hob sie hoch und hielt sie mit einem resignierten Seufzen unter laufendes Wasser. »Wolltest du abhauen?«

»Bin ich hier gefangen?«

»Nein.« Er warf die Pfanne mit einem Scheppern in die Spüle. »Aber wenn du schon vor meinen Füßen zusammenklappst, habe ich ja wohl eine gewisse Pflicht, dich von der Straße aufzulesen. Leider kann ich nicht stundenlang an deinem Bett sitzen und Händchen halten, falls du das erwartet hast.«

»Hab ich nicht«, zischte Nico. »Ich wache in einem fremden Bett in einem fremden Haus auf, und kaum will ich es verlassen, taucht dein verrückter Clan auf und geht auf mich los.«

»Das haben wir ja nun geklärt.«

»Ja. Danke. Ich fühle mich geborgen und herzlich aufgenommen.«

Er schüttelte ärgerlich den Kopf und kehrte ihr den Rücken zu, während er die Pfanne sauber machte. Ihr Magen knurrte. Aber der Hunger verschwand, als sie daran dachte, was sie auf dem Friedhof herausgefunden hatte.

»Hast du Fili gekannt?«

»Natürlich. Nicht sehr gut. Sie war ein Sonnenschein. Uns haben ja nur zwei Jahre getrennt. Ich habe mich ein bisschen wie ihr älterer Bruder gefühlt.«

»Sind wir uns damals begegnet?«

»Ich glaube nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht an dich erinnern. Und das hätte ich, glaub es mir.«

Es klang nicht nach einem Kompliment, sondern nach dem genauen Gegenteil. Er ließ die Pfanne abtropfen und stellte sie auf den Herd.

»Und …« Nico schluckte. Es fiel ihr schwer, Filis Tod anzusprechen. »Und als es damals passiert ist? Wie war das?«

Leon strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er dachte nach. Lange. Nico wartete darauf, Abscheu und Zorn in seinem Gesicht zu entdecken. Aber sie sah nur einen tiefen, traurigen Ernst.

»Ich glaube, Zach und Trixi sind daran kaputtgegangen. Das, was du grade erlebt hast, ist nur eine der Auswirkungen, die so eine Tragödie hat. Ich fand sie immer merkwürdig. Wir hatten nie einen Draht zueinander. Ich war geduldet, mehr nicht. Ich kam auch nur, weil mein Vater darauf bestand. Damit ich nicht den Kontakt zur Heimat verliere. Für mich war das nicht einfach. Ich war weder in Wales noch in Siebenlehen richtig zu Hause. Wir beide haben also was gemeinsam: Wir sind nicht besonders gerne hier gesehen.«

»Das tut mir leid«, sagte Nico leise.

»Jedenfalls war ich nicht da, als es passiert ist. Mein Vater war auf der Beerdigung, das weiß ich noch. Ich war dann ein paar Jahre nicht hier, aber ich erinnere mich daran, dass mir Filis Lachen gefehlt hat. Sie ist immer zu mir gelaufen und hat sich in meine Arme geworfen. Das war hart. Ich war seitdem auch nicht mehr in ihrem Zimmer.«

Er ging zum Kühlschrank und holte eine Packung Bratwürste heraus. Nico schluckte.

»Ich glaube, ich hab keinen Hunger.«

»Kann schon sein. Aber du musst was essen. Keine Widerrede. Die Pizzeria hat noch nicht auf.«

»Es gibt eine Pizzeria hier?«

»Na ja. Sagen wir so: Pizza, Döner, Currywurst. Aber ist ja grade mal fünf Uhr, du musst dich also noch ein bisschen gedulden.«

»Kein Problem. Filis Zimmer … Ich kann mich gar nicht daran erinnern. Ich glaube, wir waren immer nur bei Kiana.«

»Damals lief der Schwarze Hirsch noch ganz gut. Wahrscheinlich war das Haus voller Gäste, und da wollte man nicht auch noch fremde Kinder hier herumwuseln haben.«

»Gibt es das Zimmer noch?«

Leon zündete die Gasflamme an. »Ja.«

»Kann ich es sehen?«

»Ich weiß nicht. Ehrlich. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Zita wird das gar nicht gefallen.«

»Zita wird’s der Herr vergelten.«

Leon lachte. Er stellte die Pfanne auf die Gasflamme, goss ein paar Löffel Öl hinein und wartete, bis sie heiß genug war. Dann legte er zwei Würste in die Pfanne. Es zischte und brutzelte. Der Duft, der Nico in die Nase stieg, war unwiderstehlich, aber ihre Kehle war immer noch wie zugeschnürt.

»Ich wusste nicht, dass du mit Fili losgezogen bist. Das ist gar nicht bei mir angekommen. Und du kannst dich wirklich an gar nichts mehr erinnern? Wie ihr in den Berg gekommen seid? Warum ihr da hoch wolltet?«

»Ich habe mich bis vorgestern überhaupt nicht an Fili erinnert. Das macht mir wirklich zu schaffen. Wie konnte ich so ein Unglück denn völlig aus meinem Leben ausblenden?«

»Es gibt Schutzmechanismen. Deine Seele wollte es nicht.«

»Und kaum bin ich hier, geht es Schlag auf Schlag. Fili ist mir im Traum erschienen. Wir waren Hexen. Winterhexen. Vielleicht sollte ich noch mal da hoch.«

»Auf den Berg? Nicht wirklich, oder?«

Nico stand auf und holte zwei Teller aus dem Regal. Beide stellte sie auf die Arbeitsplatte aus Aluminium. Sie wollte nicht in der Gaststube essen.

»Ich will Antworten. Es ist mir zu einfach, dass ich sie einfach so in den Berg geschleift und da sitzen gelassen haben soll!«

»Wer sagt das?«

»Der Pfarrer. Und dem muss ich ja wohl glauben.« Sie drehte sich weg. Er sollte nicht sehen, wie sehr sie dieser Vorwurf getroffen hatte. Und wie schlimm die Befürchtung war, er könnte die Wahrheit sein.

Leon zog die Pfanne vom Feuer. Er holte Besteck aus einer Kiste und ein frisches Brot, das man ihm wahrscheinlich schräg gegenüber mit freudenroten Bäckchen verkauft hatte.

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Ich weiß es nicht. Warum sollte der Pfarrer lügen?«

Leon brach ein Stück Brot ab, steckte es sich in den Mund und kaute. Nico holte die Pfanne und verteilte die Würstchen auf den Tellern.

»Ja«, sagte er schließlich. »Warum sollte er. Nico.«

Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich. Es war eine so normale Berührung in so merkwürdigen Zeiten, dass Nico höchstens ein bisschen rot wurde. Durch die Wärme und den Hunger wirkte das auch sehr plausibel.

»Ich habe kaum eine Erinnerung an die Zeit, als ich sechs war«, sagte er. »Ein paar Bilder vielleicht. Die Einschulung. Der Tod meines Großvaters. Der schwarze Anzug, den mein Vater trug, als er damals aus Siebenlehen zurückkam. Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, da sind wir mal hingereist. Fetzen, Eindrücke, verworren und verschwommen. Wie soll das erst mit einer so schrecklichen Geschichte sein, die jeder vergessen will? Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.«

Sie entzog ihm ihre Hand. »Dann sag das bitte auch dem, der ständig um Kianas Haus schleicht und mich ausspioniert und mir meine Hausschuhe klaut. Und sie anschließend wieder zurückstellt. Das ist doch völlig krank, oder? Er hat die Augen aus meinen Schuhen geschnitten. Ist das pervers oder nicht?«

»Die Augen aus deinen Schuhen?«

»Ja, sie hatten … Ach, vergiss es.«

Sie zog den Teller zu sich heran und verzichtete auf Besteck; sie aß die Wurst einfach mit den Fingern. Kniggemäßig war sie ja bei ihm auch unten durch. Und ihr Magen machte sowieso, was er wollte. Eben noch war ihr speiübel, und kaum stand etwas Essbares auf dem Tisch, brachen alle Dämme mühsam anerzogener Zivilisation.

Leon schob ihr ein Stück Brot herüber. »Hier bist du sicher. Ich würde sogar deinen Hausschuhen Asyl geben. Gerade jetzt, wo sie so plötzlich erblindet sind …«

Nico gab mit vollem Mund ein Geräusch von sich, das ihm sagen sollte, was sie von dieser Frechheit hielt.

»Ich zeige dir Filis Zimmer. Es liegt auf der anderen Seite vom Dachgeschoss.«

Er stand auf und ging in die Gaststube. Sie hörte, wie er Schubladen aufzog und etwas suchte. Schließlich kam er mit einem triumphierenden Grinsen zurück. Sie konnte sich gerade noch den letzten Wurstzipfel in den Mund schieben. Leon hatte sein Essen nicht angerührt. Sie überlegte, wie unhöflich und pietätlos es wäre, seine Portion auch noch aufzuessen. Sehr, gab sie sich schweren Herzens die Antwort.

»Der Generalschlüssel.« Er legte ihn vor Nico auf den Tisch. »Eigentlich ist er für die Haustür und den Bierkeller gedacht. Statt Bier liegt da unten mittlerweile alles Mögliche, an das man immer wieder ranmuss. Aber: Man kommt damit in alle Zimmer.«

Sie wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und nahm den Schlüssel vorsichtig in die Hand.

»Du bist klasse.«

»Sag ich doch. Immer wieder. Es hört nur keiner.«

Schattengrund
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