Acht

Nico wachte auf, weil ein schrappendes Geräusch sie aus ihren Träumen holte, das sie von irgendwoher kannte. Sie tastete nach ihrer Armbanduhr, die sie auf dem Nachttisch abgelegt hatte. Gleich acht. Sie hatte geschlafen wie ein Stein. Entschlossen schlug sie die Decke zurück. Es war eiskalt im Raum, offenbar war das Feuer in der Nacht ausgegangen. Aber die Wasserleitungen waren aufgetaut. Sie gönnte sich eine Katzenwäsche in dem winzig kleinen Badezimmer, schlüpfte in Jeans und Sweatshirt und lief hinunter ins Erdgeschoss.

Noch bevor sie den Kachelofen wieder anwarf, öffnete sie die Fensterläden.

Vor ihr lag das Dorf. Die Häuser trugen weiße Mützen aus Schnee, die Wälder waren tief verschneit, und eine frühe Morgensonne schien so strahlend herab, dass sie in den Augen schmerzte. Das Geräusch kam vom Schneeschippen. Ein paar Tapfere hatten sich gut eingepackt und befreiten nun die Gehwege vor ihren Häusern. Ob ihr das auch blühte?

Die Fußspuren, die sie gestern noch beunruhigt hatten, waren verschwunden, vom Wind verweht, vom Schnee geglättet. Offenbar hatte niemand mehr versucht, sich dem Haus zu nähern. Gut so. Sie würde aufpassen müssen. Irgendjemandem schien es nicht zu gefallen, dass sie in Siebenlehen war.

Aber dann soll er sich zeigen und nicht den Yeti spielen, dachte sie wütend. Nico schloss das Fenster und widmete sich der Herausforderung, den Aschekasten aus dem Ofen zu entfernen, ohne den Dreck gleich in der ganzen Wohnung zu verteilen. Sie legte einen neuen Brand an und freute sich wie ein Kind, als die Flammen das Holz entzündeten und wenig später die Briketts zum Glühen brachten. Dabei überschlug sie, was sie wohl brauchen würde, um ein Wochenende durchzuhalten.

Milch. Kaffee. Katzenfutter, sofern Minx noch einmal auftauchte. Brot. Marmelade. Vielleicht gab es ja ein Restaurant oder ein Gasthaus, wo sie eine warme Mahlzeit bekommen würde. Sie hatte ihre gesamte Barschaft mitgenommen. Es war nicht viel, aber für ein paar Tage würde es reichen. Ein Blick auf den Küchenherd hatte genügt, um davon Abstand zu nehmen, ihn jemals ohne Einweisung zu benutzen. Sie stöberte in den Schränken und der Speisekammer und brachte schließlich einige überlebensnotwendige Dinge zum Vorschein: einen Wasserkocher. Tee. Salz. Zucker. Reis und Mehl. Öl. Luxus in biblischem Ausmaß.

Nico zog ihre Winterjacke an und schlüpfte in die Stiefel. Als sie das Haus durch den Vordereingang verließ, warf sie noch einen Blick um die Ecke. Ihre Bärchenschuhe waren nirgendwo zu entdecken. Wer weiß, wo sie sie verloren hatte. Wahrscheinlich hatte der Neuschnee sie unter sich begraben. Die Sonne bringt es an den Tag, dachte sie. Der deutsche Balladenschatz und seine gruseligen Moritaten lassen grüßen.

Sie schüttelte den Kopf über die merkwürdigen Gedanken, die sie hier hatte. Das musste an diesem Haus liegen und den bruchstückhaften Erinnerungen an Ferienerlebnisse und Märchen. Dinge, die sie nicht bewusst verdrängt, sondern einfach nur vergessen hatte. Der Traum dieser Nacht musste auch damit zusammenhängen. Nur ein paar kurze Fetzen davon waren in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Winterhexen. Ein Wort, ebenso fremd wie vertraut. Ob das Gestalten aus längst vergessenen Gute-Nacht-Geschichten waren?

Sie nahm sich vor, ihre Eltern direkt nach ihrer Rückkehr zu fragen, warum Kiana aus ihrem Leben verschwunden war. Was genau sie getan – oder unterlassen – hatte, das zu diesem tiefen Zerwürfnis geführt hatte. Böse Menschen, wirklich böse Menschen stellten keine Schüssel Karamellbonbons ins Gästezimmer.

Wenigstens Minx musste am Morgen kurz aufgetaucht sein. Ihre kleinen Pfotenabdrücke verliefen rund ums Haus und dann hinein in den Wald. Wahrscheinlich hatte sie sich dort ein Plätzchen zum Überwintern gesucht. Warum hatte sich niemand um Kianas Katze gekümmert? Sie war so mager, so dünn und alt. Der Gedanke, dass irgendwelche fremden Leute sie vielleicht aus dem Haus gejagt hatten … oder, noch schlimmer: die Nachbarn?, war schrecklich. Hier kannte doch eigentlich jeder jeden …

Nico kletterte über die Gartenpforte und sah sich um. Der schmale Weg führte hinunter zu den ersten Häusern. Vermutlich würde sie an der Kreuzung einen Laden finden. Irgendwo mussten die Leute von Siebenlehen ja einkaufen. Sie lief los und grüßte die wenigen Menschen, die sie unterwegs traf, mit einem fröhlichen »Guten Morgen«. Mehr als ein kurzes Nicken bekam sie nicht zurück. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass man ihr hinterhersah und sie beobachtete. Merkwürdiger Ort. Merkwürdige Leute. Vielleicht waren es alle Zombies, und Siebenlehen gab es nur alle sieben Jahre, wenn verirrte Wanderer eine verwunschene Klamm durchschritten und von gut aussehenden Männern in ihren Jeeps gerettet wurden. Vielleicht war es auch einfach nur der perfekte Ort, um verrückt zu werden. Sie grinste. Guter Titel für eine Scriptet Docu.

Sie checkte ihr Handy. Zwei magere Balken. Immerhin, man konnte es versuchen. Nach dem dritten Klingeln nahm Valerie ab.

»Nico! Wo zum Teufel steckst du? Ich habe mindestens zwanzigmal versucht, dich zu erreichen!«

Ein mulmiges Gefühl machte sich in Nico breit. »Warum?«

»Deine Mutter macht mir die Hölle heiß. Sie will dich unbedingt sprechen. Wenn du mich fragst, hat sie irgendwas mitbekommen.«

»Ich melde mich bei ihr. Der Empfang ist hier einfach zu schlecht. Das muss an den Bergen liegen.«

Sie nickte einem älteren Mann zu. Er hatte die Hände auf den Stil seiner Schneeschaufel gelehnt und die Arbeit nur zu einem Zweck unterbrochen: ihr zuzusehen, wie sie auf der Mitte der Straße durch den knietiefen Schnee stapfte. Vielleicht sollte sie beim nächsten Mal Eintritt verlangen.

»Wie läuft es?«

Nico sah sich um. Der Mann äugte immer noch hinter ihr her.

»Na ja. Die Bude war eiskalt. Aber ansonsten okay. Ich versuche jetzt erst mal, was Essbares aufzutreiben.«

Sie verschwieg ihre unheimliche Begegnung von gestern. Jetzt, im strahlenden Schein der Morgensonne, kam sie ihr beinahe irreal vor. Vielleicht hatte der Mann sie ja nur für einen Einbrecher gehalten?

»Bist du mit den Rätseln schon weitergekommen?«

»Äh … ja«, antwortete Nico zerstreut. Dann riss sie sich zusammen. »Ich glaube, der Stein ist Silbererz. Er muss hier irgendwo aus dem Berg kommen.«

»Silber? Du meinst, eine Mine oder so was?«

»Hoffentlich nicht.«

»Aber er soll doch irgendwohin.«

»Das kann vieles heißen. Vielleicht reicht es auch, wenn ich ihn über den Zaun kicke.«

»Glaube ich nicht. Es hieß doch, du sollst ihn zurückbringen. Also musst du erst mal rauskriegen, woher er stammt.«

Nico erreichte die Kreuzung und sah sich um. Das Hotel zum Schwarzen Hirschen stand da, die Fensterläden der beiden Obergeschosse waren geschlossen. Sie erkannte eine Metzgerei, eine Bäckerei, einen Gemischtwarenladen. Immerhin. Das sah nach Beute aus.

»Ich muss Schluss machen. Sonst fällt mir das Handy vor Entkräftung in den Schnee und ich finde es nie wieder. Ich hab schon meine Hausschuhe verloren.«

»Du bist mit Hausschuhen im Schnee?«

»Ciao.«

Nico legte auf und stieg die Treppen zur Bäckerei hinauf. Hinter den beschlagenen Scheiben der Schaufenster konnte sie Bleche mit Broten und Kuchen erkennen. Die Türglocke begleitete ihr Eintreten mit einem melodischen Schellen. Der Laden war rammelvoll.

»Ich nehme noch zwei Harzer Kanten dazu«, hörte sie eine schrille Frauenstimme. In dem winzig kleinen Geschäft verkeilte sich ein Dutzend Kunden vor der Ladentheke.

»Das sind die letzten!«, empörte sich eine andere Kundin. »Du kannst hier doch nicht einfach den Laden leer kaufen. Wir müssen alle mit der Situation klarkommen!«

Welche Situation?, fragte sich Nico.

»Wir backen heute Mittag noch einmal.«

Nico reckte sich, um zu erkennen, was es noch im Angebot gab. Die Verkäuferin zog gerade zwei Laibe Brot aus dem geplünderten Regal. »Keine Sorge, es gibt genug. Wir halten das schon noch eine Weile durch.«

Nicos Magen, der sich seit dem vergangenen Abend mit nichts anderem als einer im Wasserkocher auf Lauwarm getunten Gemüsekonserve zufriedengeben musste, machte sich lautstark bemerkbar. Sie lugte zum Schaufenster – die Kuchen und Brote waren Dekoration.

Die Kasse klingelte, die Verkäuferin rief: »Wer war der Nächste?«, und eine Frau, eckig und schmal, mit verkniffenem, hagerem Gesicht, boxte sich durch die Wartenden und schlug beim Hinausgehen Nico auch noch die Tür in den Rücken.

Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis Nico endlich an der Reihe war. Sie schob sich vor, deutete auf die letzten Brötchen und wollte gerade den Mund aufmachen, da sah die Verkäuferin sie zum ersten Mal an und stieß einen Überraschungslaut aus.

»Nein!«

Nico drehte sich um, weil sie glaubte, irgendetwas hinter ihrem Rücken hätte diesen Ausruf ausgelöst. Sie sah in ungläubige, erstaunte Gesichter.

»Sie sieht aus wie die junge Kiana«, flüsterte eine kleine, dicke Frau mit roten Wangen.

»Ich bin ihre Nichte«, antwortete Nico freundlich. »Ich war früher mal in den Ferien hier.«

Sie drehte sich wieder zu der Verkäuferin um. Die verschränkte die Arme unter dem üppigen Busen und musterte sie, als hätte Nico sich gerade vor ihren Augen in eine Küchenschabe oder schlimmer noch: in einen Mehlwurm verwandelt.

»Du bist das? Und da kommst du ausgerechnet hierher?«

Nico hob unsicher die Schultern. »Ähm … Brötchen?«

»Heute nicht.«

»Dann … vielleicht das Baguette da hinten?«

»Das ist vorbestellt.«

Nico schluckte. »Was haben Sie denn noch?«

Die Türglocke schellte, neue Kunden kamen in den Laden. Es war unglaublich eng, und trotzdem kam es Nico vor, als würden die Leute um sie herum auf Abstand gehen.

»Nichts.«

Nicos Blick wanderte hinunter zur Vitrine. Dort lagen Mürbeteigkekse, Ochsenaugen, Nusskracher und Mandelhörnchen.

»Ich nehme ein Mandelhörnchen«, sagte sie leise.

Die Verkäuferin schüttelte den Kopf.

»Der Nächste bitte?«

Jemand trat neben sie und reichte einen Stoffbeutel über den Tresen. Das eben noch finstere Gesicht der Frau hellte sich schlagartig auf.

»Was darf’s sein?«

»Ein Vollkornbrot und … das Baguette da hinten.«

Nico fuhr herum. Neben ihr stand Leon. Er nahm die Ware in Empfang, zahlte, bedankte sich und hielt Nico das Baguette unter die Nase.

»Hier. – Eine milde Gabe an Bedürftige.«

Jemand lachte. Die Spannung schien sich aufzulösen. Die Verkäuferin schüttelte den Kopf – offensichtlich gefiel es ihr, dass Leon sie ausgetrickst hatte. Aber als ihr Blick noch einmal zu Nico wanderte, gefror ihr Lächeln. Nicos Brötchengeber nahm sie beim Arm und bugsierte sie durch die Menschen hinaus auf die Straße.

»Danke«, sagte sie verdutzt. »Was war das denn?«

Leon stapfte, ohne nach links oder rechts zu sehen, durch den tiefen Neuschnee quer über die Kreuzung. Das ging, weil weit und breit kein Auto unterwegs war. Vermutlich waren sie alle stecken geblieben, denn auch von Räumfahrzeugen war nichts zu sehen.

»Komm schon.«

Nico folgte ihm. Er holte einen Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete die geriffelte Glastür zum Schwarzen Hirschen. Das sanfte Klingen eines Windspiels begleitete ihren Eintritt.

»Willst du einen Kaffee?«

»Ja, gerne. Großartige Idee.« Nico brach das knusprige Ende des Brotes ab. Normalerweise hätte sie kein Wort herausgebracht, wenn jemand wie Leon sie angesprochen hätte. Er trug wieder diese abgefahrene Holzfällermütze und seine Polarjacke, und seine Jeans waren in die Stiefel gesteckt. Ein paar lockige Strähnen fielen über seine strahlend blauen Augen, und dass er sich am Morgen nicht rasiert hatte, machte sein schmales Gesicht noch interessanter. Er hatte was von einem sexiest norwegian alive, aber er war es auch gewesen, der sie mit den drei peinlichsten B der Welt auf dem Weg zum Brocken erwischt hatte: Besen, Badeanzug, Bärchenhausschuhe. Valerie würde als einzigen Kommentar Limbo sagen – so was von unten durch, tiefer ging’s nicht. Also brauchte sie sich gar nicht anzustrengen, verlegen zu sein – es half sowieso nichts mehr. Ist der Ruf erst ruiniert, dachte sie und schob ein »Mit Milch, wenn’s geht« hinterher.

Sie steckte den Kanten in den Mund, kaute und sah sich um. Leon verschwand in einem Raum, der wohl die Gaststube gewesen war. Die Stühle waren allesamt hochgestellt. An den holzgetäfelten Wänden hingen Geweihe und Schützenscheiben.

»Geht auch Kaffeesahne?«

Der Ruf kam aus der Küche hinter einem lang gezogenen Tresen. Nico folgte ihm und fand sich in einem sauber gekachelten Raum inmitten von stahlblanken Herden und Spülen wieder. Hinter der geöffneten Tür eines gewaltigen Kühlschranks tauchte Leon auf. Er hielt triumphierend ein Milchkännchen in der Hand.

»Alles da für die Lady.«

Die Lady steckte sich noch ein Stück Brot in den Mund.

»Willst du Käse? Wurst? Ich kann dir auch ein Spiegelei mit Speck machen.«

Sie nickte eifrig.

Wenig später brutzelten die Eier in der Pfanne. Leon beobachtete den Vorgang mit gerunzelter Stirn, dann nahm er zwei Teller von einem Stapel über der Spüle und verteilte den Inhalt der Pfanne darauf.

»Hier.«

Nico klemmte sich das fast zur Hälfte geschrumpfte Baguette unter den Arm und nahm die Teller. Leon holte Besteck aus einem Kasten, stellte zwei Tassen unter eine Kaffeemaschine und drückte einen Knopf.

»Geh schon mal rüber.«

In der Gaststube suchte sie einen Tisch am Fenster aus und nahm die Stühle herunter. Bevor sie sich setzte, nahmen einige gerahmte Fotografien ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Es waren Aufnahmen vom Schwarzen Hirschen. Uralte, vergrößerte Postkarten vom Anfang des vorigen Jahrhunderts: ein Pferdefuhrwerk, das frisch geschlagene Baumstämme transportierte. Stolz saß der Kutscher auf seinem Bock, die Peitsche in der Hand, und dahinter konnte Nico den Eingang zum Wirtshaus erkennen.

Eine Straßenszene. 30er-, 40er-Jahre vielleicht. Es musste Sommer sein, vor dem Schwarzen Hirschen standen Biertische und zierliche Klappstühle, eine kräftige Frau mit weißer Schürze stemmte mehrere Krüge in jeder Hand.

Eine Prozession. Winter. Die grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte Ministranten, die eine Holzfigur trugen. Dahinter hatte sich das halbe Dorf eingereiht. Fünfzigerjahre? Die Frauen trugen weite, dunkle Röcke und einen Kopfputz, der aussah wie ein umgedrehter Blumentopf und von einem langen schwarzen Band gehalten wurde. Die Männer hatten sich in weiße Mäntel geworfen und runde, flache Hüte aufgesetzt – offenbar die Tracht von Siebenlehen.

»Das ist die Prozession der heiligen Barbara.«

Leon kam zu ihr und reichte ihr einen Becher mit Kaffee. Nico schloss kurz die Augen und schnupperte.

»Eine meiner frühesten Erinnerungen«, sagte sie. »Frisch gebrühter Kaffee, wie er nur an einem kalten Morgen duftet. Danke.«

Sie trank einen Schluck und deutete auf das Foto. »Von wann ist das?«

Leon nahm es herunter und drehte es um. »Neunzehnhundertneunundvierzig. Ein alter Brauch, der sich bis heute gehalten hat. Jedes Jahr am vierten Dezember holen wir die heilige Barbara aus der Kirche und tragen sie durchs Dorf. Sie ist die Schutzpatronin der Bergleute. Und der Gefangenen. Und der Schlesier.«

»Der Schlesier?«

Nico ging zum Tisch und setzte sich. Leon folgte ihr.

»Der Geologen, der Architekten, der Glöckner, der Sterbenden … Sie hat eine Menge zu tun, die Gute. Hier im Harz ist sie allerdings definitiv für die Bergleute im Einsatz.«

»Aber es gibt doch so gut wie keinen Bergbau mehr hier.«

»Stimmt.« Leon schob ihr einen Teller hinüber und machte eine Geste, die sowohl Fang-endlich-an-bevor-es-kalt-wird wie auch Guten-Appetit heißen konnte. »Aber jahrhundertelang hat er unser Leben bestimmt und geprägt. Morgen kannst du dich selbst davon überzeugen. Falls das Wetter der Prozession keinen Strich durch die Rechnung macht. Es soll ein Sturmtief im Anmarsch sein.«

Nico nahm den ersten Bissen und musste sich beherrschen, Eier und Speck nicht gleich mit den Händen in den Mund zu stopfen. Sie war so ausgehungert, dass sie kaum darauf achtete, was Leon erzählte.

»Siebenlehen ist durch Silber reich geworden. Aber das ging schon vor über hundert Jahren langsam zu Ende. Dann, in den 30er-Jahren, kam das Uran. Das war rentabler. Die Nazis brauchten es und die DDR brauchte es erst recht. Aber im Gegensatz zum Erzgebirge gab es im Harz keine nennenswerten Vorkommen. Sie haben gesucht und den halben Berg durchlöchert, aber nichts gefunden. – Schmeckt’s?«

Nicos Teller war fast leer, während Leon noch gar nicht angefangen hatte.

»Äh, ja.« Sie brach ein Stück Baguettebrot ab. »Das heißt, es gibt viele alte Stollen hier?«

»Der Berg ist wie Schweizer Käse. Manche sagen, es gab zu DDR-Zeiten sogar Geheimgänge in den Westen. Ich weiß es nicht. Unsere Familie ist ja kurz vor dem Mauerbau ausgewandert.«

»Wie kam das?«

»Durch meinen Großvater. Eigentlich hätte er den Schwarzen Hirschen übernehmen sollen. Aber er war jung und wollte was sehen von der Welt. Wir Geologen sind eben neugierig. Wir wollen immer zum Kern vordringen. Zum Wesentlichen.«

Er brach ein Stück Brot ab, dabei sah er sie an. Nico spürte zu ihrem Entsetzen, dass sie rot wurde.

»Warm hier«, nuschelte sie.

Leon grinste. Er hatte seine widerspenstigen Haare im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug ein offenes kariertes Holzfällerhemd und ein graues T-Shirt darunter, das sich eng an seine Brust schmiegte. Er musste Sport treiben oder als angehender Geologe hauptsächlich Steine klopfen, denn er sah ziemlich gut trainiert aus. Die Ärmel hatte er halb hochgekrempelt. Ihr fiel auf, dass die Härchen an seinen Unterarmen heller waren, fast blond. Seine Hände waren schmal, aber kräftig. Sie stellte sich vor, wie er mit ihnen eine Axt führen würde, um Holzscheite in wunderschöne kleine kaminofentaugliche Stücke zu schlagen.

»Was?« Sie fuhr hoch.

»Ob du noch was willst.«

Er wies auf ihren leeren Teller. Siedend heiß wurde Nico bewusst, dass die Einzige, die sich hier wie ein Holzfäller benahm, sie selbst war. Zumindest aß sie, als ob es kein Morgen gäbe.

»Nein, danke. Ich will noch mal rüber in den kleinen Laden. Vielleicht bekomme ich dort ja was zu essen.«

Sein Mund verzog sich bedauernd. »Der hat samstags zu.«

Nico konnte ihre Bestürzung schlecht verhehlen. »Dann … Wann fährt denn der Bus nach Altenbrunn? Vielleicht gibt es da einen Supermarkt.«

»Wohl kein Radio gehört heute Morgen, was?« Er schob die Teller zusammen und stand auf. »Wir sind eingeschneit.«

»Bitte?«

»Die Räumfahrzeuge kommen nicht durch. Mehrere alte Bäume sind unter der Schneelast zusammengebrochen und haben die Straße versperrt. Sie brauchen schweres Gerät aus Halberstadt. Aber bis das hier ist …«

Nico stand auf und folgte ihm in die Küche. »Und der Weg, den wir gekommen sind?«

»Heute Nacht sind fünfzig Zentimeter Neuschnee gefallen. Und für den Nachmittag sagen sie mindestens das Doppelte voraus. Das schafft kein Jeep mehr.«

»Das heißt, es kommt keiner mehr rein nach Siebenlehen?«

Leon grinste und öffnete die Vorderluke der Geschirrspülmaschine. »Und keiner mehr raus.«

»Oh.«

Öl. Mehl. Haferflocken. Das konnte ja heiter werden.

»Entnehme ich diesem hingehauchten Klagelaut, dass ein gewisser Versorgungsengpass besteht?«

Sehr witzig. Nico reichte ihm die Teller, die er sorgfältig einsortierte.

»Ich brauche Katzenfutter.«

»Echt? Du stehst auf Kitekat?«

Nico verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. »Nur am Wochenende. Da gönne ich mir mal was.«

»Vielleicht kriegst du was bei Krischeks. Da musst du sowieso hin, wenn du Kohlen brauchst.«

»Katzenfutter beim Kohlenhändler?«

»Du wirst erstaunt sein, was es wo in Siebenlehen gibt.«

»Wohl eher was und wo für wen«, entgegnete Nico. »Brot beim Bäcker gab es für mich jedenfalls nicht. Warum eigentlich?«

Nico wusste, dass Anfänge nicht ihre Stärke waren. Aber so unfreundlich wie hier war sie noch nie irgendwo empfangen worden. Leon, der die Tür der Spülmaschine schließen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne.

»Das ist … schwierig.«

»Ist es wegen Kiana?«

»Möglich.«

»Aha. Vielleicht kann mir das mal einer erklären. Offenbar hat Kiana verbrannte Erde hinterlassen, wo immer sie aufgetaucht ist.«

Leon drückte die Tür zu und betrachtete die Knöpfe samt Programmauswahl, als wären sie Hieroglyphen. »Sie war wohl nicht sehr beliebt«, murmelte er und fuhr mit dem Zeigefinger über die verschiedenen Einstellungen. »Mehr weiß ich auch nicht. – Wie funktioniert das denn?« Er drückte einen Knopf.

»Hast du sie gekannt?«

»Nein. Eigentlich nicht. Ich komme nicht mehr oft her. Alle reden zwar davon, wir wären eine Familie. Aber Fakt ist: Ich habe mit Siebenlehen nicht viel am Hut. Ich bin auch ein Fremder. Ich habe nur im Gegensatz zu dir einen Stammbaum, der es ihnen schwer macht, mich zu ignorieren.« Er wich ihrem Blick aus und drehte an einem Schalter.

»War das schon immer so?«

Die Geschirrspülmaschine startete. Leon grinste, als wäre ihm gerade der Durchbruch des St. Gotthard-Tunnels gelungen. »Was?«

»Ob das schon immer so war.«

Er zuckte mit den Schultern, und Nico musste sich eingestehen, dass ihre Fragen vielleicht ein wenig zu persönlich waren. Schließlich kannten sie sich kaum. Auch wenn er sie vor dem Erfrieren und Verhungern gerettet hatte und keines der drei B’s noch einmal erwähnt hatte. Gemeinsam gingen sie zurück in die Gaststube und stellten die Stühle wieder hoch.

»Warum ist das Hotel denn geschlossen?«, fragte sie.

»Zu wenig Gäste. Siebenlehen liegt ziemlich ab vom Schuss. Man müsste eine Menge Geld investieren, um das Haus attraktiv zu machen. So ist es einfach ein in die Jahre gekommenes Hotel. Früher war hier echt mal was los. Da mussten sogar wir Kinder ran. In den Sommerferien habe ich oft ausgeholfen.«

Nico nahm das Foto der Prozession vom Tisch und hängte es wieder an seinen Nagel.

»Aber der Hype hat nicht lange angehalten. Die Feriengäste wollten mehr Komfort und Infrastruktur. Viele aus dem Dorf sind dann weggezogen«, fuhr Leon fort. »Oder sie arbeiten in den größeren Städten und kommen nur noch am Wochenende her. An Siebenlehen kann man ziemlich gut ablesen, wie eine Gegend den Aufschwung erlebt – und den Niedergang.«

Irgendwo im Haus schlug eine Tür und aus irgendeinem Grund machte das Leon nervös. Wahrscheinlich war sie ihm schon viel zu lange auf die Nerven gefallen.

Nico nahm ihre Jacke und schlüpfte hinein. »Ich muss los«, sagte sie, ohne zu wissen, warum und wohin.

»Sag Bescheid, wenn du was brauchst.«

Er begleitete sie in den Flur, der mit hässlichen blassgelben Fliesen gekachelt war. Ihr fiel ein, dass Leon ihr neben seinen wertvollen Versorgungstipps vielleicht auch bei einer anderen Sache helfen könnte. »Du hast gesagt, du kennst dich aus.«

Leon nickte. »Na ja, geht so.«

»Ich suche einen Ort, um einen Stein zurückzubringen. Vielleicht in einen alten Stollen.«

»Einen … Stein?«

»Ja. Er schimmert so.«

»Silbererz?«

»Könnte sein.«

Er sah sich vorsichtig um, als ob die Kacheln Ohren hätten. »Lass das lieber bleiben«, sagte er leise.

»Warum?«

»Weil …«

Polternde Schritte kamen eine Treppe hinunter. Nico drehte sich um und sah einen kräftigen Mann, Anfang Fünfzig vielleicht, in ausgebeulten Jogginghosen und einem verpillten Pullover. Er hatte ein rotes Gesicht mit Halbglatze und einen Stiernacken. Die kleinen, dunklen Augen verengten sich noch mehr, als er Nico sah.

»Wer ist das?«

»Dein geliebter Neffe«, antwortete Leon, der sich wie unbeabsichtigt vor Nico stellte. »Falls meine unwürdige Anwesenheit dir entfallen sein sollte.«

Der Mann schnaubte. »Red nicht so geschwollen. Die da meine ich. Beim Bäcker sagen sie …«

Er trat ein paar Schritte näher. Nico wurde unbehaglich. Sie konnte den Mann riechen – er roch nach schalem Bier und Zigaretten. Und dazu nach etwas, das verschwand, wenn man seine Klamotten öfter mal in die Waschmaschine steckte.

Er hob den Arm und schob Leon mit seiner Pranke zur Seite.

»… die Kleine von Kiana wäre wieder da? Bist du das?« Er musterte sie von oben bis unten.

Nico straffte die Schultern. »Kiana war meine Großtante, ja.«

»Raus.«

Leon schaltete sich ein. »Sie ist mein Gast. Also reiß dich bitte am Riemen.«

»Hier gibt es keine Gäste mehr. Der Schwarze Hirsch ist geschlossen.« Der Mann ging zur Tür und hielt sie auf. Ein Schwall eiskalter Luft drang herein. »Aber man sagt, du machst es dir in Schattengrund schon richtig gemütlich.«

Nico versuchte vergeblich, sich so weit von ihm entfernt wie möglich ins Freie zu mogeln.

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Irrtum. Nicht ich. Ganz Siebenlehen.«

Nico wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da geschah etwas Seltsames. Der Mann schaute an ihr vorbei zu etwas, das sich hinter ihrem Rücken abspielen musste. Sein Gesichtsausdruck verlor jede Überheblichkeit. Nico drehte sich um. Die Tür gegenüber des Gastraumes hatte sich geöffnet. Leon war verschwunden. Der Mann achtete nicht mehr auf Nico. Er ließ die Außentür los, die laut ins Schloss fiel, und ging in das Zimmer. Unschlüssig stand Nico da, dann überwog die Neugier.

Sie lugte um die Ecke. Der Raum lag im Halbdunkel, die Gardinen waren zugezogen. Sie erkannte eine Anrichte in Gelsenkirchener Barock, davor eine Couchgarnitur mit einem niedrigen Tisch, auf dem sich Lesezirkel-Zeitschriften stapelten. Leon stand hinter einem Rollstuhl, in dem eine uralte Frau saß. Sie war so alt, dass sie fast durchsichtig wirkte, und Nico fürchtete, dass jeder Blick, der sie traf, sie zu Staub zerfallen lassen könnte. Die wenigen schlohweißen Haare, die sie noch hatte, waren zu einem kleinen Knoten im Nacken zusammengezwirbelt. Sie musste dünn sein wie Papier und knochig wie ein abgenagter Fisch, denn das Wollkleid, das sie trug, schlug tiefe Falten.

Sie hob den kleinen Kopf, schmal wie ein Vogel, und sah Nico mit trüben hellen Augen an. »Kiana?«

Die Stimme war hoch und dünn und so heiser, dass Nico sich am liebsten stellvertretend geräuspert hätte. Leon machte eine schnelle Handbewegung. Damit wollte er wohl sagen, dass sie verschwinden sollte. Nico machte einen unsicheren Schritt zurück.

»Nein, ich …«

»Das ist nicht Kiana«, sagte Leon leise.

Die alte Frau schaute Nico noch genauer an. Sie schien gar nicht darauf zu achten, was Leon gesagt hatte. Sie hob die Hand und winkte den Überraschungsgast näher heran. Nico blieb wie angewurzelt stehen.

»Kiana?«, wiederholte die geisterhafte Gestalt. Ihre Stimme klang jetzt kräftiger, als ob sie noch einmal alle Reserven aktiviert hätte. »Hör dir an, was ich dir zu sagen habe. Du bist verflucht bis ans Ende deiner Tage. Du sollst in der Hölle schmoren, du und deine Brut. Dich soll der Teufel holen, du sollst ertrinken in einem See aus Tränen und Blut!«

Nico drehte sich um, stolperte in den Flur und rannte hinaus auf die Straße.

»Tränen und Blut!«, schrie die Frau hinterher. »Tränen und …«

Jemand brüllte: »Herrgott! Sei still! Kiana ist tot, hörst du? Tot!«

»Nico!«

Sie presste die Hände auf die Ohren und lief los. Aber der Schnee ließ sie bei jedem Schritt einsinken. Auf der Mitte der Kreuzung blieb sie, nach Atem ringend, stehen.

»Nico!«

Sie stapfte weiter. Aber Leon war entweder schneller oder er kam im Schnee besser voran. Er holte sie ein und hielt sie am Arm fest.

»Nico …«

»Lass mich los!«, fauchte sie.

Er hob die Hand, als hätte er sich an ihr verbrannt. »Es tut mir leid. Das war Zachs Großmutter, meine Uroma. Sie ist nicht mehr ganz –«

»Zach? Wer zum Teufel ist das? Dieser Rüpel, der mir unmissverständlich klargemacht hat, dass ich hier nicht willkommen bin? Wahrscheinlich war er das, der mich gestern zu Tode erschreckt hat!«

»Wie meinst du das?«

»Ach nichts«, erwiderte sie. »Jemand ist nachts ums Haus geschlichen.«

»Zach? Hast du ihn erkannt?«

»Nein! Ich … Was ist hier eigentlich los?«

Leon sah sich um. Eine Kundin, schwer beladen mit Brottüten – Nico wollte nicht daran denken, was alle außer ihr nach Hause schleppen durften –, kam aus der Bäckerei und warf ihnen einen irritierten Blick zu. Nico war das egal.

»Wahrscheinlich sind alle ein bisschen durcheinander«, sagte er in einem vergeblichen Versuch, sie zu beschwichtigen.

»Ein bisschen ist gut! Diese Frau da drinnen ist ja wohl auch nicht mehr ganz dicht, oder? Man muss mir nicht den roten Teppich ausrollen, das bin ich eh nicht gewöhnt. Aber Tränen und Blut, schönen Dank. Und, was war das noch mal? Der Teufel soll mich holen, damit ich in der Hölle schmore?«

»Sie meinte nicht dich.«

Die Kundin aus der Bäckerei war wie angewurzelt stehen geblieben. Eine zweite kam heraus. Sie trug mehrere Tortenkartons. Die mit dem Brot zischelte der mit den Torten etwas zu. Beide glotzten hinüber, als wäre das hier ganz großes Kino.

»Ach ja? Tut mir leid. Aber ich bin nun mal Kianas Brut. Nicht in direkter Linie, aber um drei Ecken. Das enttäuscht jetzt hoffentlich niemanden, aber beim Verwünschen wird man wohl auf solche Kleinigkeiten nicht achten!«

»Komm.«

Er wollte wieder nach ihr greifen, aber sie riss sich wütend los.

»Komm mit«, sagte er leise. »Nicht hier. Und nicht vor allen Leuten. Du hast ihnen für heute schon genug Unterhaltung geboten.«

Nico war kurz davor, zu platzen. Aber er hatte recht. Sie nickte der Tortenfrau mit einem so falschen Lächeln zu, dass die ihren Karton schnellstens in Sicherheit brachte.

»Komm mit. Ich zeige dir die Kohlenhandlung.«

Sie liefen die Hauptstraße Richtung Altenbrunn hinunter. Immer noch fuhren keine Autos. Dafür spielten einige dick vermummte kugelige Kinder in den Vorgärten, bauten Schneemänner oder zogen mit einem Schlitten zum Hang hinauf, der nicht weit von Schattengrund liegen musste.

Als die Kreuzung weit genug entfernt war, fragte Nico: »Was ist los?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hallo? Du bist der Einzige, der normal mit mir redet. Alle anderen schlagen mir die Tür vor der Nase zu, setzen mich an die Luft oder verfluchen mich bis ans Ende meiner Tage.«

»Ich bin nicht von hier.«

»Ah ja. Verstehe, Fremder. Aber warum darfst du dir in geheizten Häusern warme Mahlzeiten zubereiten, während man mich verhungern lässt?«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich gehöre irgendwie zum Schwarzen Hirschen. Das heißt, ich bin für die Leute nicht so angsteinflößend wie du.«

»Ich? Angsteinflößend?«

Nico hätte am liebsten laut gelacht, wenn die ganze Geschichte nicht so einen bösen Beigeschmack gehabt hätte. Auch wenn sie nicht ans Fluchen glaubte – ans Segnen tat sie das in gewisser Weise schon. Und waren beide Handlungen nicht zwei Seiten einer Medaille?

»Warum haben sie Angst vor mir? Ich tue doch niemandem etwas. Ich will nur in Frieden Kianas letzten Willen erfüllen.«

»Was ist das für ein Wille?«

Sie schwieg. Sie kannte Leon nicht. Aber er wusste schon eine ganze Menge von ihr, zum Beispiel, dass sie Katzenfutter brauchte, soeben verflucht worden war und nachts verschneite Wanderwege als Abkürzung nahm. Nico glaubte, dass es damit vielleicht genug wäre. Ihm jetzt noch mit Kianas Rätseln zu kommen, würde sie in seinen Augen bestimmt endgültig zum Freak mutieren lassen.

»Sag mir lieber, warum Kiana hier für alle ein rotes Tuch ist.«

Leon steckte die Hände in die Hosentaschen. Er hatte in aller Hektik seine Jacke gegriffen, als er ihr nachgestürzt war, aber an Handschuhe hatte er nicht gedacht. Es war bitterkalt, der Atem schwebte wie flüchtiger weißer Rauch in der Luft. Die Sonne war nur noch eine milchige Scheibe an einem dunstigen Himmel. Das Wetter änderte sich.

»Sie hat sich wohl sehr abgesondert von den anderen.«

»Aber das ist doch kein Verbrechen. Vor allem nicht, wenn man so behandelt wird!«

»Du hast recht. Aber da war noch mehr.«

»Was?«

»Ich weiß es nicht. Über solche Dinge reden sie hier nicht. Und ich hatte bisher auch keine Veranlassung, danach zu fragen. Du hast einfach ein paar Leute durcheinandergebracht, mehr nicht. – Da vorne kriegst du alles, was du brauchst.«

Er wies auf ein großes, glatt verputztes Haus mit einem angrenzenden Schuppen, der wohl ursprünglich als Doppelgarage gedacht war. Die Tore standen offen, und im Inneren stapelten sich Gasflaschen, Autoreifen, Brennholz, Benzinkanister und in die Jahre gekommene Maschinen und Generatoren.

»Danke.« Nico lief darauf zu, Leon folgte ihr. Vor dem Eingang blieb sie stehen. »Das schaffe ich jetzt auch ohne deine Hilfe.«

Wieder steckte er seine Hände in die Hosentaschen. Ein bisschen sah er aus wie ein großer Junge, der gerade einen Fußball durch ein Nachbarsfenster geschossen hatte.

»Ich glaube nicht«, sagte er.

Ihr Handy klingelte. Ohne zu überlegen, nahm sie den Anruf an.

»Nico?« Ein Aufstöhnen der Erleichterung drang an ihr Ohr und genau dieses Geräusch kannte sie nur zu gut. Vor Schreck hätte sie das Handy beinahe in den Schnee fallen gelassen.

»Äh … Mama?«

Wie dämlich war sie eigentlich? Fehler Fehler Fehler. Ihr Begleiter ging durch das offene Garagentor und tat, als ob er diskret weghören würde.

»Wo steckst du?« Stefanie schien außer sich. Nach der Erleichterung kam blitzschnell der Ärger. Nico kannte das, hatte es aber glücklicherweise nicht oft erleben müssen. »Seit gestern Abend versuche ich, dich zu erreichen! Du musst nach Hause kommen. Deinem Vater geht es schlecht.«

»Was? Was hat er?«

»Die Ärzte haben ihn zur Beobachtung ins Krankenhaus einliefern lassen. Es bestand Verdacht auf Herzrythmusstörungen. All die Sorgen und der Ärger in letzter Zeit … Es geht ihm gut, wirklich. Ein Fehlalarm, ein Warnschuss. Aber es wäre schön, wenn du ihn besuchen würdest. Das würde ihn etwas aufmuntern.«

Es klang, als ob Stefanie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten könnte. Das schlechte Gewissen blähte sich in Nico auf wie ein Luftballon. Sie fühlte sich schlagartig schuldig. Wie in Trance folgte sie Leon in die Garage, wich einer alten Öllache aus und trat auf Glassplitter.

»Ich komme. So schnell ich kann.«

»Ich gönne dir ja dein Wochenende mit deiner Freundin. Aber sie wird bestimmt Verständnis haben.«

»Ich muss dir was sagen …«

Der Empfang verschlechterte sich. Nico lief wieder hinaus auf den Bürgersteig.

»Mama?«

»… kannst du kommen? … bin heute Nachmittag …«

»Mama! Hörst du mich?« Nico warf einen verzweifelten Blick auf das Display. Ein Balken. »Ich ruf dich an, okay? Ich ruf dich an!«

Aus, die Verbindung war beendet. Ratlos steckte Nico ihr Handy weg. Sie saß in der Patsche. Aber so was von.

Schattengrund
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