Achtunddreißig

Leon klopfte. Er wartete nicht auf die heisere Antwort seines Vaters. Er drückte gleich die Klinke hinunter und betrat den kleinen Raum im zweiten Stock. Zimmer 24. Es war ähnlich geschnitten und eingerichtet wie alle anderen Gästezimmer dieses Hauses. Mit einem Unterschied: Es sah aus, als wäre ein 20-Kilo-Koffer darin explodiert.

Leons Vater lag im Bett. Seine Nase war gerötet vom Schnupfen, die dunklen Augen glänzten fiebrig. Das dichte braune Haar, an den Schläfen von silbernen Fäden durchzogen, klebte feucht am Kopf. Das kräftige Gesicht mit den Zügen eines Bergbauern war blass, nur die Wangen leuchteten fiebrig rot.

»Ach, du bist es.« Lars Urban versuchte, sich ein wenig aufzurichten.

Leon sah sich um und nahm dann einen Winterstiefel von der Sitzfläche eines Stuhls. Etwas ratlos stellte er den Schuh auf den Boden und setzte sich.

»Ich dachte, Trixi bringt mir endlich einen Tee. Ich habe sie schon vor zwei Stunden darum gebeten. Mir wird wohl nichts übrig bleiben, als selbst in die Küche zu gehen.«

»Nein«, sagte Leon schnell. »Ich mache das gleich. Trixi ist … na ja, sie ist, wie sie ist.«

»Ja.« Mit einem Seufzer ließ sein Vater sich wieder auf das Kissen sinken. »Verdammte Erkältung. Das macht die Sache auch nicht leichter.«

»Nein. Wie hast du dich entschieden?«

»Ich bleibe dabei. Wir reisen morgen ab. Und wenn mir der Kopf zerspringt. Ich werde den beiden aber ein letztes Mal unter die Arme greifen. Ein letztes Mal! Es ist so schade. Was hätte man alles aus dem Schwarzen Hirschen machen können … Gibst du mir mal ein Taschentuch?«

Hastig reichte Leon seinem Vater das Päckchen, das neben verschiedenen Medikamenten auf dem Nachttisch lag.

»Tut mir leid, Leon. Ich hätte gerne mehr Zeit mit dir verbracht. Wie sehen uns so selten. Erst das Internat, dann die Universität – und in den paar Tagen, die wir haben, hüte ich das Bett. Aber du hast Anschluss gefunden, habe ich gehört. Zita hat in ihrer unnachahmlich charmanten Art geplaudert. Schärfe und Nachdrücklichkeit des Hausverbotes lassen mich vermuten, dass es sich um eine recht nette junge Dame handeln muss.«

Leons Gesicht verdüsterte sich. »Nett ist was anderes. Es ist Nico, Kianas Nichte.«

»Kiana …«

Lars Urban suchte in seinem Gedächtnis nach einer Erinnerung, die er mit diesem Namen verbinden konnte.

»Die Frau aus Schattengrund.«

»Ach ja … ein bisschen plemplem, nicht wahr?«

Leon zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich kannte sie nicht. Ihre Nichte war das Mädchen, das damals mit Fili abgehauen ist.«

»Mein Gott, ja. Ich erinnere mich. Ich habe sie damals auf halbem Weg zum Brocken gefunden. Hat sie jemals erzählt, was sie da gesucht hat?«

»Sie hat sich verirrt. Sie wollte wohl Hilfe holen und ist dabei in die falsche Richtung gelaufen.«

»Das arme Ding.« Lars Urban schneuzte sich kräftig. Dann betrachtete er seinen Sohn genauer. »Bist du deshalb hier?«

Leon wich seinem Blick aus. »Du hast mir nie erzählt, dass du damals dabei warst.«

»Dabei? Wie meinst du das?«

»Bei allem, der ganzen Tragödie. Der Suche. Und hier im Haus. Du warst in diesem Zimmer, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Leons Vater vorsichtig.

Leon beugte sich vor. »Gibt es noch etwas, das du mir nicht erzählt hast?«

Der Mann im Bett schwieg. Schließlich sagte er: »Was willst du wissen?«

Eine Diele knarrte im Flur. Leon sprang auf, lief zur Tür und riss sie auf. Er sah nach links, nach rechts, lief zur Treppe, spähte nach oben Richtung Dachboden und schließlich nach unten in die darunterliegenden Stockwerke. Nichts. Er kehrte wieder zurück.

Sein Vater beobachtete ihn mit einem argwöhnischen Blick. »Was ist los?«

Leon kehrte nicht mehr zum Stuhl zurück. Stattdessen stellte er sich ans Fußende des Bettes und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Am gleichen Abend, an dem Fili verschwand, war sie bei dir. Ihr hattet ihr einen Streit. Fili wurde von mehreren Zeugen beobachtet, wie sie weinend und außer sich dieses Zimmer verlassen hat. Was ist passiert?«

»Moment mal.« Lars Urban schüttelte abwehrend den Kopf. »Zeugen?«

»Das ist doch egal.«

»Nein, das ist nicht egal! Wird das eine Gerichtsverhandlung?«

»Natürlich nicht!« Leon fuhr sich durch die struppigen Haare. »Ich will nur wissen, was zwischen dir und Fili vorgefallen ist.«

»Zwischen mir und Fili? Was wird das hier?«

»Ich will nur eine Antwort. Eine ehrliche Antwort.«

Lars Urban ließ den Blick nicht von seinem Sohn. Der Ärger in seinem Blick verwandelte sich in Verblüffung und dann in kopfschüttelndes Verstehen.

»Wenn du eine Antwort willst, musst du zunächst die Frage formulieren. Was genau unterstellst du mir?«

Leon stöhnte auf. »Kannst du mir nicht einfach sagen, was passiert ist?«

Der Kranke trank einen Schluck Wasser, aber er behielt Leon dabei im Blick.

»Nun gut. Fili muss mitbekommen haben, dass Zach und ich einen Streit hatten. Der Hirsch lief miserabel. Ich hatte genug davon, immer nur angepumpt zu werden. Aber wenn es um die Vereinbarung ging, die dein Großvater mit ihm und mir ausgemacht hatte, stellte er die Ohren auf Durchzug. Es gab nichts Schriftliches, leider. Er sagte, es hätte diese Vereinbarung nie gegeben, und log mir dabei ins Gesicht. Ich war wütend. Immer wieder die gleiche, frustrierende Situation. Ich gab Ratschläge, er nahm sie nicht an. Ich gab Geld, er und Trixi haben es versoffen. Sie standen damals unmittelbar vor der Insolvenz. Ich habe mich geweigert, noch mal Geld reinzuschießen, wenn sich nichts ändert. Zach geriet außer sich und beschimpfte mich mit übelsten Worten. Fili …«

Lars Urban schob sein Wasserglas weg und fuhr sich durch die Haare.

»Fili muss bei diesem Gespräch irgendwo unter den Tischen gehockt und nur die Hälfte mitbekommen haben. Sie glaubte, ich würde den Hirschen kaputt machen. Sie platzte hier herein und war völlig außer sich. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass das alles nur ein Missverständnis wäre. Aber sie hatte Angst. Unendliche Angst, die einzige Konstante in ihrem Leben zu verlieren: ihr Zuhause. Ich weiß nicht, was Zach und Trixi ihr gesagt haben, aber ich könnte ihnen heute noch den Hals dafür umdrehen. Fili war wirklich der Meinung, ich wäre nur gekommen, um alles kaputt zu machen und sie auf die Straße zu setzen. Sie stand hier, mitten im Raum. So ein kleines, zartes Mädchen, das doch noch gar nichts von Geld verstand, mit Tränen in den Augen und vor Zorn gerötetem Gesicht. Sie kannte mich ja. Ich war kein Gast, sie musste keine Rücksicht auf mich nehmen. Sie schrie, ich wollte ihnen alles wegnehmen. Ich habe versucht, sie zu beruhigen. Und, ja, ich habe versucht, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, so wie ich das schon immer gemacht hatte. Ich war ihr Onkel Lars.«

Urban schwieg erschöpft. Leon wollte etwas sagen, aber ihm kam nur ein kurzes, trockenes Räuspern über die Lippen.

»Aber sie wollte das nicht, also ließ ich sie los und versuchte, ihr zu erklären, dass es nie meine Absicht war, ihr Angst zu machen. Im Gegenteil: Ich würde sogar alles dafür tun, damit sie ihr Zuhause nicht verlieren würde. Sie war ein Kind. Sie hat es nicht verstanden oder wollte es nicht verstehen. Sie schrie nur, ich sollte weggegehen und sie in Ruhe lassen.«

Leons Vater schloss die Augen. »Es waren die letzten Worte, die Fili zu mir sagte. Wie oft habe ich mich gefragt, was alles dazu geführt hat, dass sie weggelaufen ist. Die unerträgliche Situation in diesem Haus? Der Ton, in dem Trixi und Zach herumbrüllten und ihre Geldnot zu verarbeiten suchten? Oder war ich es, der zum bösen schwarzen Mann wurde, weil er das letzte bisschen Glück zerstören wollte, das sie noch hatte?«

»Was sagst du da? Zum bösen schwarzen Mann?«

Lars Urban blinzelte seinen Sohn unter schweren Lidern an und versuchte ein schwaches Lächeln. »Na ja, was man halt so von sich denkt, wenn man das Gefühl hat, einem kleinen Menschen wehgetan zu haben. Sie rief, ich sollte zurückgehen und nie wiederkommen.«

»Geh zurück? Zurück sagte sie?«

Urban nickte verwundert. »Ja. Zurück. Damit meinte sie Wales. Sie wusste ja noch nicht, wo das lag. Aber sie glaubte wohl, dass es weit weg war und ich dort vielleicht keine Gefahr für sie sein würde. Und jetzt erklär mir bitte, was hier eigentlich los ist.«

Leon ging zum Stuhl und ließ sich auf ihn fallen. »Nico glaubt, du hättest … Also in diesem Haus … Sie glaubt, Fili wäre etwas Schreckliches geschehen. Sie hat mir ein Bild gezeigt, das die Kleine kurz vor ihrem Tod gezeichnet hat. Es zeigt Fili im Bett und vor ihr steht ein großer schwarzer Mann.«

Das Rot aus Urbans Wangen verschwand. Er brauchte einen Moment, um zu erfassen, was sein Sohn gemeint hatte. »Mein Gott. Du hast geglaubt … Du hast wirklich …«

»Nein!«, schrie Leon gequält. »Aber so, wie Nico es aufgefasst hat, hätte es durchaus sein können. Verzeih mir. Aber ich musste das fragen.«

Das Schweigen dehnte sich aus und wurde beinahe unerträglich. Schließlich hob Urban eine Hand und berührte kurz Leons Knie.

»Du hast recht. Das musstest du. Denn wenn es so gewesen wäre, dann wäre ich ernsthaft krank und müsste dringend in Behandlung. Aber ich schwöre dir, Leon, die Vorwürfe sind haltlos.«

Leon spürte, wie ihm ein Stein – ach was, ein Gebirge vom Herzen fiel. Die Worte seines Vaters hatten ehrlich und aufrichtig geklungen. Er verheimlichte ihm nichts, das spürte er. Er warf ihm auch nichts vor. Und alles passte. Sein Vater hatte genau das wiederholt, was der Schornsteinfeger gesagt hatte. Aber Nico hatte etwas völlig anderes in Filis Worte hineininterpretiert, und er war drauf und dran gewesen, ihr zu glauben.

»Wir hätten schon viel früher mit dir reden sollen.«

»Wir? Sie hat dich ganz schön beeindruckt, die Kleine.«

Leon nickte, aber man konnte ihm ansehen, mit welchem Widerwillen er das tat. Er brannte darauf, Nico zu erzählen, was er gerade erfahren hatte. Andererseits ging ihm diese ganze alte Geschichte langsam tierisch auf den Geist. Nur Nico zuliebe setzte er sich überhaupt damit auseinander. Ihr zuliebe hatte er seinen eigenen Vater eines schrecklichen Verbrechens verdächtigt … Damit war nun endgültig Schluss! Hoffentlich sah sie ein, dass sie sich verrannt hatte.

»Aber es ehrt sie, dass sie sich so um die Aufarbeitung dieser ganzen Geschichte kümmert. Am besten, du bringst sie her, und wir klären das. Es ist mir wichtig. Ich will nicht, dass jemand, der dich gernhat, solche Dinge über mich denkt und sich damit quält.«

»Sie hat mich nicht gern.«

»Nun, vielleicht sollte ich sagen: Jemand, den du gernhast?«

Leon stieß ein wütendes Schnauben aus. Sein Vater hatte Mühe, das Lächeln in seinem Gesicht zu verbergen.

»Wo ist sie? Hol sie rauf.«

Leon sah auf seine Uhr. Es war halb zehn.

»Jetzt?«

»Morgen früh, wenn die Straßen frei sind, fahren wir. Ich will am Abend in Calais sein und die Fähre nach Dover bekommen. Also bleibt uns dann keine Zeit mehr. Wer so einen schrecklichen Verdacht mit sich herumträgt, sollte das nicht länger tun als unbedingt notwendig. Außerdem möchte ich gerne das Mädchen kennenlernen, das meinem Sohn so wichtig ist, dass er ihren Kummer derartig zu seinem gemacht hat. Und das ihn dazu bringt, im stolzen Alter von einundzwanzig Jahren noch die Gesichtsfarbe zu wechseln.«

Leon stand schnell auf und drehte sich weg. »Du hast recht. Ich gehe schnell rüber und hole sie. Und dann reden wir miteinander.«

Der Vater lächelte. Er sah seinem Sohn hinterher, der aus dem Zimmer stürmte und dem Gepolter nach drei Stufen auf einmal hinunternahm. Lars’ Lächeln verschwand schlagartig. Er warf die Decke zurück und suchte in aller Hast nach seinen Hosen.

Schattengrund
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