Einunddreißig

Dieser Keller roch anders. Nicht nach Äpfeln, Kartoffeln und altem Holz. Er war feucht und muffig. In den Mauern schien der Geruch von schalem Bier zu kleben. Vielleicht hatten dort früher auch die Abfalltonnen gestanden. Nico hielt sich ihren Schal vor die Nase. Je tiefer sie hinunterstieg, desto dumpfer und abgestandener wurde die Luft.

Am Fuß der Treppe befand sich eine Eisentür. Der letzte Anstrich war grau. Viele abgeplatzte und abgeschürfte Stellen verrieten, dass sie ursprünglich einmal ochsenblutrot gewesen war. Nico zog den schweren Generalschlüssel aus der Tasche, aber sie hatte ja gelernt. Erst denken, dann handeln. Was machte sie hier unten?

Es war nicht okay, was sie tat. Ihr Gastrecht war eine äußerst brüchige Vereinbarung, die jederzeit aufgekündigt werden konnte. Einen Schlüssel zu klauen und sich damit Zutritt zu verriegelten Räumen zu verschaffen, lief wohl kaum unter Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen. Soweit die Negativliste. Auf der positiven Seite stand eigentlich nur: Sie wollte hier rein, koste es, was es wolle.

… aber statt Bier liegt da unten mittlerweile alles Mögliche, an das man immer wieder ran muss …

Leons Bemerkung war schuld. Alles Mögliche. Nico glaubte nicht, dass Zach und Trixi die Buchhaltung der letzten Jahre in ihrer Wohnung aufbewahrten. Ehrlich gesagt hatte sie nicht das Gefühl, die beiden würden noch irgendetwas peilen. Das Einzige, was in diesem Haus zu funktionieren schien, war die Großküche. Wahrscheinlich die letzte Investition, die sich zu allem Unglück wohl auch nicht mehr gerechnet hatte. So unbenutzt, wie sie aus-sah.

Leons Bild tauchte vor ihr auf. Wie er am Herd stand, die Haare aus der Stirn strich und ihr etwas zu essen machte. Ihre Gespräche in der Küche, die so vertraut gewesen waren. Seine Hilfe. Sein Lachen. Sein überhebliches Grinsen, als er sie aus dem Schnee gefischt und in seinem Jeep nach Siebenlehen mitgenommen hatte. Ihr kam es vor, als ob sie sich schon Jahre kennen würden.

Und dann diese Enttäuschung. Valeries Einwand ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie würde sie sich entscheiden, wenn jemand ihre Familie anklagen würde, einen solchen Frevel zugelassen und vertuscht zu haben? Sie würde auch wie eine Löwin kämpfen. Aber natürlich deshalb, weil sie von der Unschuld der ihren vollkommen überzeugt war. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, dass es anders sein könnte. Was für ein Glück, dass ihr das erspart geblieben war und sie eine Kindheit gehabt hatte, in der sie geliebt und beschützt worden war – trotz Filis Tragödie und, ja, auch davor, diese Tragödie zu verarbeiten. Ihre Eltern hatten es aus Liebe getan, nicht aus Gleichgültigkeit. Das war ein Unterschied, auch wenn ihre Reaktion ein Fehler blieb.

Und deshalb bin ich hier, dachte Nico. Filis Schicksal darf nicht ungesühnt bleiben. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Aber der, der ihr das angetan hat, soll zur Rechenschaft gezogen werden. Und ich werde ihn finden. Das bin ich Fili und mir schuldig.

Das Schloss war neu, der Schlüssel auch. Die Tür nicht. Sie quietschte und stöhnte in ihren verrosteten Angeln. Nur mit Mühe bekam Nico sie auf. Sie tastete die Wand ab und fand einen uralten Kippschalter, den sie umlegte. Ein paar Sekunden geschah überhaupt nichts. Bis ein Summen durch die dumpfe Stille drang, erst leise, dann immer lauter. Als Nico schon glaubte, es würde gar nichts mehr passieren, flackerte eine Neonröhre auf.

Der Raum war so groß wie ein Fahrradkeller. Im trüben Licht erkannte sie am anderen Ende einen runden Mauerbogen und mehrere Stufen, die weiter hinein in die Gänge führten. An den Wänden standen, zusammengeschoben und aufeinandergetürmt, alte Tische, kaputte Stühle und hölzerne verblichene Sonnenschirme. Dahinter lehnten Dutzende von Gartenklappstühlen. Das Eisen war verrostet und die Farbe auf den Holzlatten blätterte ab. Nico glaubte, dass sie diese Stühle oben auf einem der Fotos gesehen hatte – Erinnerung an eine Zeit, in der sie neu gewesen waren und wohl keiner daran gedacht hatte, wo sie einmal landen würden.

Sie durchquerte den Raum und kam an den Mauerbogen. Die steinernen Decken und Wände waren so dick, dass sie jedes Geräusch verschluckten. Sie warf einen letzten Blick auf das Sammelsurium von Sperrmüll – aber Akten und Bücher waren nirgendwo zu entdecken. Vor den schmalen Fenstern hingen rußige Spinnweben, die Dreckschicht auf dem Glas und den Mauervorsprüngen war zwei Finger breit. Im Licht der Neonlampe sah alles noch trostloser aus.

Sollte sie wirklich weitergehen? Noch konnte sie umkehren. Aber diese Nacht war vielleicht die einzige Chance, das Geheimnis des Schwarzen Hirschen zu lüften. Freiwillig würde niemand von Leons Clan mit ihr reden. Es waren die Dinge, die sie zum Sprechen bringen musste. Fili hatte mit ihrem Bild den Anfang gemacht. Wenn Nico jetzt kniff, würde sie vielleicht nie erfahren, was vor zwölf Jahren in diesem Haus geschehen war.

Der Gang hinter dem Mauerbogen war schmal und führte an verschiedenen, mit Holzlatten provisorisch abgeteilten Verliesen vorbei. In einigen standen Regale, in denen Nico Vorratskanister mit Öl oder Reinigungsmittel erkennen konnte. Ein zweiter großer Raum lag am Ende des Ganges. Sie fand den Lichtschalter auf Anhieb. Eine nackte Glühlampe hing an einer Leitung von der Decke. Mehrere Dutzend Umzugskartons standen zu einem schiefen, nicht sehr stabilen Gebirge an der Wand aufgetürmt. Die Kartons waren beschriftet, und als Nico sich ihnen näherte, spürte sie, wie eine diebische Freude in ihr wach wurde. Jahreszahlen. Ein wüstes Durcheinander, aber sie wusste ja, nach was sie suchte. Sie öffnete den Karton, der am nächsten stand. In ihm verstaut waren Aktenordner und Hefter. Steuerunterlagen, wie sie mit einem Blick auf die Rücken der Ordner feststellte. Also war sie auf der richtigen Spur.

Sie untersuchte den nächsten. Den dritten. Begann, die Kisten zur Seite zu schieben, und merkte, dass sie so nicht weiterkam. Das Jahr, das sie suchte, war beim bloßen Durchsehen nicht zu finden. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als dieses Gebirge Stück für Stück abzutragen. Mit einem leisen Fluch begann sie, die obersten erreichbaren Kisten herunterzuhieven. Einmal geriet der Stapel ins Wanken, und Nico konnte in letzter Sekunde verhindern, dass die nachlässig aufeinandergeworfenen Kartons sie unter sich begruben. Immer weiter arbeitete sie sich vor und verteilte die Kisten dabei über den ganzen Raum. Es war ihr egal, dass jeder mit einem Blick erkennen würde, dass hier nichts mehr so stand, wie es verlassen worden war. Wahrscheinlich hatten die Betreiber nach der Schließung des Schwarzen Hirschen den Keller kein einziges Mal mehr betreten. Und so, wie sie Zach und Trixi einschätzte, würden sie das auch in nächster Zukunft nicht tun.

Sie zerrte einen weiteren Karton weg von den anderen und beugte sich hinunter, um die Aufschrift besser lesen zu können. Wieder nichts. Das alles hatte kein System und war auch nicht chronologisch archiviert. Es war einfach zusammengeworfen und entsorgt worden. Fast verließ sie der Mut. Dreißig, vierzig Jahre Buchhaltung, völlig durcheinander. Sie würde Tage brauchen, um sich da durchzuarbeiten.

Müde und abgekämpft setzte sie sich auf einen Karton. Was für eine hirnrissige Idee! Sie hatte das Chaos eigentlich nur noch größer gemacht, als es schon war. Gerade wollte sie aufgeben und schweren Herzens den Keller verlassen, als die mürbe Pappe unter ihr nachgab und Nico auf dem Fußboden landete. Mit einem Fluch rappelte sie sich hoch. Aus der aufgeplatzten Seite waren mehrere dreckige, in Leder gebundene Folianten herausgefallen. Sie nahm einen hoch und traute ihren Augen nicht. Es waren Gästebücher. In fliegender Hast zog sie eines nach dem anderen heraus, pustete den Staub vom Einband und entzifferte den Aufdruck. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie den Band aus Filis Todesjahr in der Hand hielt.

Er wog bestimmt mehrere Kilos, war groß wie ein Schulatlas und dick wie ein Telefonbuch. Aussichtslos, ihn unter die Jacke zu stecken und herauszuschmuggeln. Außerdem brauchte sie ja nur eine ganz bestimmte Seite. Sie schlug das Buch auf und erkannte, dass es eine Art Kalender war. Pro Tag eine Seite, manche fast bis zum unteren Rand beschrieben mit Namen, Adressen und Zimmernummern, andere auch halb leer.

Erster bis dritter Januar, dachte sie. Das müsste reichen. Die Blätter hatten Einträge, aber sie hatte keine Zeit, sie zu lesen. Sie riss sie einfach heraus, faltete sie zusammen und stopfte sie zu den anderen in ihre Jackentasche. Dann begann sie, die Kisten wieder übereinanderzustapeln. Wer immer in den nächsten Jahren hier herunterkam – er sollte zumindest nicht auf den ersten Blick sehen, dass jemand die Unterlagen durchwühlt hatte.

Sie hatte vielleicht die Hälfte geschafft, als sie in ihrem Rücken ein metallisches Geräusch hörte. Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Ein zweites Klicken. Nico ahnte, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Vorsichtig setzte sie den Karton, den sie gerade hochgehoben hatte, ab und drehte sich um.

Im Türrahmen stand Trixi. Sie hielt ein Jagdgewehr in der Hand. Den Lauf hatte sie von der Schulterstütze abgeknickt, und das Klicken, das Nico gehört hatte, mussten die Kugeln gewesen sein, die Trixi gerade eingeführt hatte. Sie schwankte ein wenig, aber ihre Bewegungen waren sicher und tausendfach geübt. Sie brachte den Lauf zurück in seine Ausgangsposition und drückte den Sicherungsschieber in Richtung Mündung.

»Gelernt ist gelernt.« Ihre Aussprache klang verwaschen, so, als ob sie nicht mehr ganz nüchtern wäre. »Schützenkönigin neunzehnhundertsechsundneunzig.«

Es war unmöglich, an Trixi vorbeizukommen. Zwischen ihnen standen außerdem jede Menge Kisten. Hätte die Frau nicht gerade ein Gewehr in der Hand, Nico wäre durchaus bereit gewesen, ein schlechtes Gewissen zu haben oder zumindest etwas in diese Richtung vorzuspielen. Die Situation sah aber ganz danach aus, als ob das im Moment ziemlich wirkungslos wäre. Es war eindeutig, wobei Trixi sie erwischt hatte.

»Hallo, Trixi.« Mehr fiel Nico nicht ein.

»Hallo, Schlampe. Räumst du auf oder suchst du was Bestimmtes?«

Nico sah sich um, als hätte ein böser kleiner Gott sie gerade aus einem italienischen Eiscafé in dieses Kellerloch gebeamt und ihr auch noch den Erdbeerbecher genommen.

»Ich wollte mich nur mal umschauen.«

Trixi legte an und zielte. Allerdings schwankte sie dabei. »Was Bestimmtes?«

»Alte Fotos«, schoss es aus Nico. »Ich habe oben welche in der Gaststube gesehen. Hundert Jahre Schwarzer Hirsch, das sind ja auch hundert Jahre deutsche Geschichte.«

Ihr Lehrer wäre stolz auf sie. Aber Trixi schien das nicht zu beeindrucken. Nico spürte, dass die Frau nur auf ein falsches Wort, eine falsche Bewegung wartete. Deshalb rührte sie sich nicht. Das Adrenalin peitschte durch ihre Adern, ihr Atem ging flach, aber sie stand ganz still und versuchte, so unschuldig wie möglich auszusehen. Erstaunlich, wie Menschen sich in Momenten echter Gefahr verhielten. Hätte ihr noch vor ein paar Tagen irgendjemand erzählt, sie würde im Keller eines Hauses, in dem ein Verbrechen geschehen war, von einer Betrunkenen mit einem Jagdgewehr erwischt werden, die erkennbar Lust auf eine kleine zwischenmenschliche Tragödie hatte – sie hätte auf alles zwischen Schreikrampf und Zusammenbruch getippt. Und nun befand sie sich in einem heillosen Durcheinander von Kartons und versuchte, Trixi mit ein paar Taschenspielertricks davon zu überzeugen, sie nicht einfach abzuknallen. Was ihr im Übrigen nicht besonders gut zu gelingen schien.

»Das interessiert dich doch einen Scheiß. Was wir sind. Wer wir sind. Du kommst einfach her und spuckst uns ins Gesicht. Spuckst uns …«

Trixi wollte einen Schritt näher kommen, geriet aber schon beim ersten Versuch, über eines der Bücher auf dem Boden zu steigen, ins Taumeln. Noch bevor Nico auch nur die Spur einer Chance hatte, ihr näher zu kommen und die Waffe zu fassen zu kriegen, hatte die Frau sich wieder gefangen.

»Das stimmt nicht.« Ruhig sprechen, sanfte Bewegungen. »Ich bin gekommen, weil Kiana mir ihr Haus vererbt hat.«

»Die alte Hexe, ja.«

»Reden Sie nicht so von ihr!« Nico hob die Stimme. Vielleicht war es ein Fehler, aber auf Kiana ließ sie nichts kommen. »Sie war keine Hexe. Sie hatte mehr Herz und Verstand als ihr alle zusammen!«

»Was willst du damit sagen?« Trixi zielte wieder und dieses Mal hatte sie Nicos Magen im Visier. Sie war unberechenbar, völlig betrunken und – für Richter möglicherweise sogar im Recht.

»Sie hat eure Version der Geschichte nicht geschluckt.«

»Unsere Version«, äffte Trixi sie nach. »Unsere Geschichte. Wir haben uns das also alles nur ausgedacht, was? Dabei hab ich dich gesehen. Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie du mir mein Kind weggenommen hast. Du Monster. Du Ungeheuer.«

Im fahlen Licht sahen ihre kaputten Haare noch gelber und der Ansatz sah noch dunkler aus. Sie war blass und aufgedunsen. Geschwollene Tränensäcke, rot angelaufene Augen. Der Bademantel klaffte auf und offenbarte ein ausgewaschenes blassblaues Nachthemd. Andere gingen um diese Uhrzeit ins Theater. Oder Pizza essen. Trixi wurde einfach kurz mal wahnsinnig.

»Ich war ein Kind. Genauso alt wie Fili. Selbst wenn ich mit ihr weggelaufen bin, hat es Gründe gehabt.«

»Ja! Klar, Gründe. Du hast ihr diese Märchen erzählt, von denen sie Albträume bekommen hat. Du hattest sie von Kiana. Die hat uns doch immer gehasst. Damit fing es an. Verleumdungen. Gerüchte. So macht man Menschen tot. Und Kinder.«

Nico unterließ es, Trixi auf ihre kleine Unterscheidung hinzuweisen.

»Kiana hat euch nicht gehasst. Das bildet ihr euch ein.«

»Ach ja? Und dass sie noch kurz vor Filis Tod bei uns war und uns irgend so ein Gekritzel unter die Nase gehalten hat?«

»Was?«, fragte Nico. »Eine Zeichnung? Ein Bild?«

»Genau. Dabei hab ich alles aufgehoben, was Fili gemalt hat. Aber dieses Zeug … Das war nicht von ihr. Das habt ihr euch ausgedacht, um uns fertigzumachen.«

Trixi ließ das Gewehr sinken. Aus der Tasche ihres Bademantels holte sie ein zerknülltes und offenbar bereits benutztes Papiertaschentuch hervor und schneuzte hinein. Zu schnell, um Nico die Chance zu geben, ihr die Waffe wegzunehmen.

»Fili durfte nicht mehr zu euch. Zach hat sie eingesperrt, zu ihrem eigenen Schutz. Als ob er geahnt hätte, dass sonst was passiert. Aber sie ist uns entwischt. Wir haben nicht gut genug aufgepasst.«

Genau das hatte Stefanie auch Kiana vorgeworfen. Vielleicht lag darin der Ursprung der ganzen Tragödie: Sie hätten besser aufeinander aufpassen sollen.

»So teuflisch. So niederträchtig. Ja, du warst ein Kind. Hattest du kein Mitleid mit ihr?«

Trixi legte an. Nico wollte zurückweichen, aber sie hatte nicht mehr viel Platz. Die Kartons versperrten ihr den Weg. Sie starrte direkt in den Lauf der Flinte.

»Wenn Sie jetzt schießen, machen Sie auch nichts mehr ungeschehen.«

»Aber ich hätte sie gerächt. Meine Fili gerächt.«

»Das hätten Sie schon viel früher tun sollen. Als sie noch lebte.«

Trixis Kopf ruckte hoch, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. »Als sie noch lebte? Was soll denn diese Scheiße? Was? Ich war ihre Mutter! Hörst du, du dummes Stück Dreck?«

Sie spannte den Abzug. Nico taumelte zurück, geriet ins Straucheln, fiel und ein ohrenbetäubender Knall zerriss ihr fast das Trommelfell. Putz, Dreck und kleine Steine rieselten auf sie herab. Der Schmerz raste von ihrem Ellenbogen direkt in die Schulter. Einen fürchterlichen Moment lang glaubte Nico, die Kugel hätte sie erwischt. Sie hustete, weil der dichte Rauch ihr fast den Atem nahm, und bewegte vorsichtig ihren Arm. Kein Blut, keine Wunde. Sie war einfach nur unglücklich auf den Boden gefallen.

Trixi war durch den Rückschlag nach hinten geworfen worden. Nico rappelte sich auf, stürzte über die Kartons und warf sich auf die Frau, die unter dem Aufprall noch einmal zu Boden ging. Das Gewehr flog scheppernd durch die Gegend. Noch bevor Trixi begriff, was passiert war, hatte Nico die Waffe aufgehoben und auf ihre Angreiferin gerichtet. Ein Doppellauf. Gut. Das hieß, dass aller Wahrscheinlichkeit nach noch eine Kugel vorhanden war. Nico hatte nicht vor zu schießen. Aber das würde sie Trixi natürlich nicht auf die Nase binden.

»Aufstehen. Los.«

Doch Trixi stand nicht auf. Sie krümmte sich zusammen und begann zu wimmern. Der Rauch verzog sich langsam. Nico drehte sich um und bemerkte das Einschussloch in der Wand hinter ihr. Die Kugel hätte sie um mindestens einen halben Meter verfehlt, auch wenn sie noch gestanden hätte. Entweder konnte Trixi nicht schießen oder sie hatte nicht vorgehabt, sie zu töten.

Schritte kamen die Kellertreppe herab, laut, polternd, schnell.

»Hallo?«

Leons Stimme. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten – und in wie vielen gefährlichen Situationen hatte er sie schon überrascht? –, war Nico nicht froh, ihn zu sehen. Sie ließ das Gewehr sinken. Ihr Herzschlag musste bei 200 liegen. Sie rang nach Luft, aber der Pulverdampf vergiftete jeden Atemzug und biss in ihre Augen. Leon stürmte in den Raum, sah Trixi, die theatralisch aufheulte, und schließlich Nico, die Waffe in der Hand, den Finger am Abzug. Na großartig. Jetzt sah es auch noch so aus, als ob sie Jagd auf seine Familie machte. Er riss ihr das Gewehr aus der Hand und Nico ließ es widerspruchslos geschehen.

»Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen? Willst du sie umbringen?«

»Sie hat geschossen.« Nico deutete auf Trixi, die gerade versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und sich umsah, als fände sie sich weder in diesem Keller noch in diesem Leben zurecht. »Sie wollte mich abknallen. Verstehst du? Mich!«

Leon knickte mit einer einzigen Handbewegung den Lauf. Offenbar kannten sich alle in Siebenlehen auch noch mit Waffen aus.

»Wie kommst du hier runter? – Und wie kommst du …«, er wandte sich zu Trixi, die unter seinem Blick zusammensackte und in sich hineinwimmerte, »… an das Gewehr meines Vaters?«

»Waffenschrank«, schluchzte sie. »Hat hier rumgeschnüffelt und lässt und lässt es nicht. Sie soll weg. Weg. Ich ertrage das nicht mehr.«

Nico hatte Leon noch nie so wütend gesehen. Eigentlich noch gar nicht, gestand sie sich ein. Aber wenn er immer so aussieht, wenn ihm etwas gegen den Strich geht, dann gute Nacht, Marie. Sein Gesicht war weiß vor Zorn, seine Augen funkelten, und die Nasenflügel bebten, als ob er sich nur mühsam unter Kontrolle halten konnte.

»Was hast du hier zu suchen?«

Nico schob trotzig das Kinn vor. Sie würde kein Wort sagen. Nicht in Anwesenheit dieser Wahnsinnigen, die sie um ein Haar erschossen hätte – wahrscheinlich eher unabsichtlich, so betrunken wie sie war. Und erst recht nicht, solange Leon auf der falschen Seite stand.

Leon ließ einen Blick über die Kisten schweifen. Sie konnte ihm ansehen, dass er sich seine eigenen Gedanken machte. Er ging zu Trixi, packte sie am Arm und zog sie hoch. Schwankend kam Filis Mutter auf die Beine. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihre Pantoffeln waren schmutzig vom Kellerboden, der Gürtel ihres Bademantels hing nur noch in einer Lasche. Beim Fallen hatte sie sich eine Schramme an der Stirn geholt. Sie balancierte sich vorsichtig in eine halbwegs aufrechte Position, als ob sie jederzeit wieder das Gleichgewicht verlieren könnte.

Sie war ein Wrack. Schlagartig traf Nico die Erkenntnis, dass Filis Tod noch mehr Opfer gefordert hatte. Menschen, die es einfach nicht geschafft hatten weiterzuleben. Plötzlich tat Trixi ihr unendlich leid. Und sogar Zach, der mit ihr gemeinsam in diesem Jammertal gefangen war, aus dem beide keinen Ausweg mehr fanden. Sie schämte sich dafür, wie sie mit den Gefühlen dieser Leute umgegangen war, auch wenn die es ihr nicht leicht gemacht hatten. Vielleicht hätte sie geduldiger sein sollen und nicht so nachtragend. Bis in den Keller des Schwarzen Hirschen hatte der Gedanke an Fili sie getrieben. Dabei hatte sie keinen einzigen an die Eltern des toten Mädchens verschwendet, die den Verlust bis zu diesem Tag nicht verwunden hatten.

Die heilige Barbara war nicht nur eine Prozessionsfigur. Sie erinnerte Trixi und Zach auch jedes Jahr daran, welchen Verlust sie erlitten hatten. Wie schrecklich, so zu leben. Niemand konnte das wiedergutmachen.

»Lass sie.« Nico musste sich räuspern, denn ihre Kehle war rau vom Rauch und all dem Staub, den sie eingeatmet hatte. »Es tut mir leid. Ich hätte nicht rumschnüffeln dürfen. Ich werde gehen. Ich bleibe nicht hier. Vielen Dank für das Zimmer, aber ich habe Sie schon viel zu sehr aufgeregt.«

Trixi klopfte sich den Staub aus dem Bademantel. »Ich weiß gar nicht, was passiert ist«, sagte sie und sah sich mit flackerndem Blick um. »Sie suchen doch Fotos. Wir haben noch welche. Im Garten und an Weihnachten und den Geburtstagen. Es waren ja nicht so viele. Ich hab sie alle aufgehoben. Wo sind sie denn?«

Sie hob den Deckel eines Kartons und ließ ihn ratlos wieder los.

»Welche Fotos?«, fragte Leon leise und wütend.

»Irgendwo müssen sie doch sein. Ihre Schuhe. Und das Kästchen mit den Milchzähnen. Ich hab alles aufgehoben. Nichts weggeschmissen. Auch ihr Zimmer ist noch so, wie es war. Manchmal gehe ich rein und lege mich zu ihr. Dann hab ich sie im Arm und tröste sie, wenn sie weinen muss.«

Sie ging zwei Schritte zu einem anderen Karton und sah sich hilflos um. Leon folgte ihr und nahm sie vorsichtig beim Arm, um sie aus dem Keller zu führen. Aber Trixi entwand sich seinem Griff und suchte weiter.

»Musste sie oft weinen?«, fragte Nico.

Leons Kopf fuhr herum. Wütend funkelte er sie an. Kannst du nicht endlich Ruhe geben?, sollte das heißen. Nico biss sich auf die Unterlippe.

»Komm, Trixi«, sagte er. »Wir gehen jetzt hoch und ich bringe dich ins Bett.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich … will noch nicht schlafen. Ich träume dann immer so schlecht und sehe Fili. Sie war ein Sonnenschein. Unser Sonnenschein. Unsere Prinzessin. Bis zu diesem Winter, als die da kam.« Sie wies auf Nico. »Da war sie anders. Da fing sie auf einmal an zu weinen. Und war still und redete kaum noch. Ich weiß nicht, warum …«

In dem Blick ihrer blutunterlaufenen Augen, der Nico traf, funkelte das kalte Licht des Wahnsinns. »… aber jetzt, jetzt ist mir alles klar.«

Leon ahnte ganz offensichtlich etwas. Er legte das Gewehr hinter sich auf einen Karton. Trixi kam mit gesenktem Kopf auf Nico zu, die nicht mehr ausweichen konnte. Sie spreizte die Finger, als ob sie Nico mit ihren Klauen ins Gesicht springen wollte. Nico wollte zurückweichen, aber die Kartons standen im Weg.

»Was ist dir klar?«, fragte Leon und stellte sich vor sie.

Trixi wollte an ihm vorbei, aber er packte sie an den Schultern und hielt sie fest. Aus ihrer Kehle quoll ein unmenschlicher Schrei.

»Seit sie in Schattengrund war! Ihr habt sie vergiftet! Du und Kiana! Ihr habt mir mein Mädchen genommen! Habt sie zu einer Hexe gemacht! Ihr habt sie umgebracht! Umgebracht …«

Leon hielt Trixi eisenhart umklammert. Der Schrei wurde zu einem Wimmern. »Ist ja gut«, sagte er und drückte sie an sich. Es schien weniger aus Mitgefühl zu geschehen als aus dem Willen, sie daran zu hindern, noch einmal auf Nico loszugehen. »Ist ja gut. Keiner hat Fili umgebracht. Es war ein Unfall, und das weißt du.«

»Sie war im Grab!«, schluchzte Trixi. »Im silbernen Grab oben am Berg …«

Es klang so schauerlich, dass Nico eine Gänsehaut bekam. Woher kannte Trixi Kianas Märchen? Hatte Fili ihrer Mutter vielleicht davon erzählt? Kiana hatte es ihr bestimmt nicht vorgelesen – zwei Tage vor Filis Tod, als sie ein letztes Mal im Schwarzen Hirschen gewesen war.

»Ist gut jetzt. Trixi. Komm mit. Du kannst nicht hier unten bleiben. Es ist zu kalt. Du zitterst ja.«

Trixi ließ sich widerspruchslos von Leon durch den Keller schleifen. Nico half dabei, sie die Treppe hochzuschieben. Im Gastraum gelang es ihnen nur mit Mühe, sie an den Tischen vorbei zum Ausgang zu bugsieren. Im Flur hob Leon, die halb ohnmächtige Trixi im Arm, die Hand. Bis hierhin und nicht weiter für dich, wollte er damit sagen. Nico blieb stehen.

»Ich mache das.« Seine Stimme war leise, aber sie klang dennoch wie ein Befehl. »Bleib hier. Ich komme gleich.«

»Es ist besser, wenn ich gehe.«

»Nein. Wir müssen etwas klären. Ein für alle Mal. Dann kannst du von mir aus tun, was du willst. Glaub nicht, dass du davonrennen kannst. Das funktioniert nicht mehr. Nicht heute Nacht.«

Er zerrte Trixi, die ausbüxen wollte, unsanft den Gang hinunter. Mit brennenden Augen starrte Nico ihm hinterher. Davonrennen funktionierte nicht mehr. Diese Nacht, dachte sie. Ich muss nur diese Nacht überleben.

Die Tür gegenüber des Gastraums öffnete sich. Zitas Raubvogelkopf schob sich durch den Spalt. Ihr Blick schien Nico zu durchbohren.

»Guten Abend«, sagte Nico. »Trixi hat einen im Tee.«

Ohne ein Wort zu sagen, knallte Zita die Tür wieder zu.

Schattengrund
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