Fünfunddreißig

Leon wartete an der Ecke auf sie. Er nahm ihr wortlos die Jacke ab, die sie ihm reichte. Dann stapfte er los in Richtung Schwarzem Hirschen. Wohl oder übel musste Nico ihm folgen.

»Es tut mir leid!«, keuchte sie, als sie die große Kreuzung erreichten und er immer noch kein Wort gesagt hatte. »Er wohnte im fünften Zimmer. Ich wollte es dir nicht sagen, weil …«

Abrupt blieb er stehen. »Weil er auch in dein Beuteschema passt?«

»Leon! Weil ich dich nicht noch einmal verletzen wollte!«

»Ach ja? Wie großzügig von dir! Wann hättest du denn mit der Wahrheit herausrücken wollen? Heute noch? Morgen? Und vor allem: Was dann?«

»Ich … Ich verstehe dich nicht.«

»Wirklich nicht?«

Sie musste blinzeln. Die Schneekristalle rieselten auf sie hinab und blieben auf Haaren und Schultern liegen wie kleine Styroporkügelchen.

»Du erwartest von mir, dass ich meinen eigenen Vater frage, ob er was mit kleinen Mädchen hatte?«

Nico schluckte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Das erwarte ich. Das täte ich auch. Totschweigen hilft doch nicht. Weder den Opfern noch den Tätern. Aber eine Therapie.«

»Oh mein Gott! Du glaubst es wirklich.«

»Das habe ich nicht gesagt! Ich kann nur nicht leugnen, dass er ein Zimmer im zweiten Stock hatte. Und dass Herr Kress behauptet hat, Fili wäre von dort gekommen, völlig außer sich. Das kann ich doch nicht einfach zur Seite wischen, nur weil es um deinen Vater geht!«

»Dann hättest du es mir sagen sollen!«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu!«

»Und was kommt nach dem Gespräch mit meinem Vater?«

Nico starrte ihn verständnislos an. Er fuhr sich durch die Haare, erreichte aber nicht, dass die widerspenstigen Strähnen dort blieben, wo er sie hinhaben wollte. Sie fielen ihm sofort wieder in die Stirn.

»Nico, wenn ich mit meinem Vater gesprochen habe und er Nein sagt, was dann? Bin ich dann der Nächste, den du verdächtigst?«

»Natürlich nicht«, stammelte sie. »Du warst doch viel zu jung!«

»Ich war neun, als Fili starb. Ich bitte dich. In diesem Alter reißen Jungs Fröschen die Beine aus. Warum sollte ich also nicht über eine Sechsjährige herfallen?«

»Das ist doch Unsinn!«

»Nein! In deinem Kopf eben nicht! Wann hört das auf?«, schrie er sie an. »Wann gibst du endlich, endlich Ruhe?«

Er lief so schnell weiter, dass sie Mühe hatte, ihm zu folgen.

»Was?« Sie konnte nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. »Du hast doch zugegeben, dass du Fili glaubst! Wir beide sind die Einzigen, die wirklich wissen, was passiert ist.«

»Sind wir das?«, fragte er sie. Er fuhr herum, packte sie an den Schultern und zog sie zu sich heran. Kein zärtlicher Griff war das. Fast schon brutal. Als würde er sich am liebsten mit ihr auf der ausgestorbenen Kreuzung prügeln wollen. »Wissen wir das wirklich?«

»Ja! Du hast doch das Bild gesehen! Kiana auch! Und Fili hat mir selbst gesagt …«

»Das glaubst du doch nur! Das reimst du dir alles so zusammen, weil es so wunderbar in deine selbst gezimmerte Erklärung passt und du einfach nicht damit klarkommst, was damals passiert ist!«

»Was ist passiert?« Sie waren sich so nahe, als ob sie sich gleich küssen würden. Dabei sprühten Hass und Verzweiflung aus seinen Augen, und Nico hätte ihn am liebsten geschlagen oder geohrfeigt oder ans Schienbein getreten, wenn er sie nicht so fest umklammert hätte. »Sag du es mir. Was ist passiert? Du glaubst, ich habe mir das alles ausgedacht?«

Die Antwort war in seinen Augen zu lesen. Sie riss sich los und tastete nach Filis Zeichnung. Sie wollte sie ihm unter die Nase halten, aber die Blätter fielen aus ihren tauben Fingern in den Schnee. Hastig bückte sie sich, um sie einzusammeln.

Er ging zwei Schritte weg von ihr, hob die Hände. Er wusste wohl selber nicht mehr, was er glauben oder sagen sollte.

»Geh nicht, Leon.«

Langsam richtete sie sich wieder auf. Er hatte ihr immer noch den Rücken zugewandt.

»Fili und ich, wir hatten doch einen Grund wegzulaufen.«

»Fili und … du?« Über die Schulter sah er sie noch einmal an. Seine Augen waren schmal geworden. Seine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln, das Nicos erbarmungslos das Herz zerschnitt. »Zwei Kinder mit blühender Fantasie. Bei Fili zumindest entschuldige ich das. Kleine Mädchen, die sich vielleicht zu wenig beachtet fühlen, träumen schon mal von silbernen Rittern. Aber bei dir …« Er deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Du und deine Märchen und Geschichten, deine komischen Nachtwanderungen und Rätsel und plötzlichen Erinnerungen, wie soll ich dir glauben, wenn du jetzt sogar meinen eigenen Vater verdächtigst? Meinen Vater? Weißt du, was du da sagst?«

Sie steckte die Blätter weg. In Leons Miene war kein Funken Mitgefühl zu entdecken.

»Komm«, sagte er und streckte die Hand aus.

Nico wusste nicht, was diese Geste zu bedeuten hatte. Sie blieb reglos stehen. Leon kam einen Schritt auf sie zu, gewollt munter, gespielt fröhlich.

»Komm mit. Frag ihn selbst. Zeig mir, wie du das machst. Ich will noch was lernen von dir.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Lass uns zu ihm gehen. Er ist im Hirsch.«

»Dein Vater ist hier?«

»Ja. Schau hin. Siehst du das Licht? Wieder im zweiten Stock. Er ist erkältet und liegt im Bett, deshalb ist er dir bis jetzt entgangen. Aber das kannst du gleich nachholen.«

Er griff nach ihrer Hand. Nico riss den Arm hoch und wich aus.

»Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Weil es nicht wichtig war, zumindest bis jetzt. Weil ich euch einander vorstellen wollte, wenn der passende Zeitpunkt gekommen war. Und der scheint mir jetzt da zu sein. Also los, komm. Sag es ihm ins Gesicht!«

Er griff wieder nach ihr und wollte sie mitziehen. Nico brauchte alle Kraft, um sich ihm zu entwinden.

»Hör auf! Leon! Was soll das?«

»Du hast doch eben noch gesagt, wie einfach es ist, diese Fragen zu stellen. Dann tu es jetzt! Zeig mir, wie du das machst – denn ich weiß es nicht

Die letzten Worte schrie er ihr ins Gesicht.

»Nein!«

»Warum nicht?«

Nico wusste die Antwort, aber sie kam ihr nicht über die Lippen. Weil ich dich mag, dachte sie. Mehr, als mir lieb ist. Weil es mir wehtut, Menschen zu verletzen. Vielleicht ist dein Vater nett, und …

»Weil ich nicht mehr weiß, was richtig und falsch ist.« Sie hörte die Worte, die sie sprach, aber sie kamen ohne Gefühl, weil sie keines mehr hatte. »Ich kenne ihn doch gar nicht.«

»Aber trotzdem verdächtigst du ihn.«

»Das tue ich nicht! Aber er war nun mal in diesem Zimmer und Fili kam nun mal von oben herunter und hatte einen Streit!«

»Dann sollten wir ihn fragen.«

»Ja«, sagte Nico. »Das sollten wir vielleicht. Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid!« Sein kaltes Lachen schmerzte in ihren Ohren. »Ich wollte dir helfen, wirklich. Ich habe sogar einen Moment lang geglaubt, was du dir zusammengereimt hast. Es war ja gar nicht so abwegig. Ein gekritzeltes Bild mit einem wehenden Vorhang, da kann man eine Menge hineininterpretieren. Aber hast du dir mal überlegt, warum Fili dir nie gesagt hat, wer der schwarze Mann war?«

Nico schwieg.

»Weil es ihn nie gab. Er ist ein Hirngespinst! Kapier das endlich. Geht das in deinen Dickschädel hinein?«

Sie nickte. Sie fühlte sich, als ob sie in einen Brunnenschacht fallen würde. Tiefer und tiefer. Sie hatte Angst vor dem Aufprall. Aber sie würde Leon nicht den Gefallen tun, noch einmal vor seinen Augen zusammenzubrechen.

»Gute Nacht.«

Er drehte sich um und stapfte durch den Schnee auf den Schwarzen Hirschen zu. Nico blieb stehen und ließ sich zuschneien. Sie blinzelte wieder, weil ihre Wimpern ganz nass waren. Es musste Schnee sein, keine Tränen. Sie hatte keine Tränen für Leute wie Leon, Zach, Trixi, wie den Pfarrer und Leons Vater.

Sie hatte nur Tränen für Fili. Und vielleicht noch ein paar für sich. Als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war es vorbei mit ihrer Beherrschung. Sie rannte los, über die Kreuzung, in die kleine Straße, die hinauf zu Schattengrund führte.

Schattengrund
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