Neunzehn

Wütend stapfte Nico den Weg zurück nach Schattengrund. Alle wussten etwas. Keiner redete mit ihr. Und sie bekam Albträume, in denen eine Heilige herumspukte und sie vor dem Bösen warnte. Das passte doch alles vorne und hinten nicht zusammen. Die Schutzpatronin der Bergleute konnte doch nicht der Grund sein, warum alle in Siebenlehen sauer auf Kiana und ihre Großnichte waren. Und war sie eines von Kianas Rätseln gewesen? Was hatte das zu bedeuten?

Die heilige Barbara. Nie im Leben hatte sie etwas mit dieser Märtyrerin zu tun gehabt. Gut, man kannte den Namen von Heiligen. Und vielleicht auch noch die eine oder andere besonders scheußliche Todesart, die diese Menschen vom Leben in den Tod und anschließend in den unverrückbaren Heiligenstand befördert hatte. Nicos Namenspatron war Nikolaus. Schutzpatron von Dieben und Juristen – eine Kombination, die bei ihrem Vater immer große Heiterkeit ausgelöst hatte, – aber auch der Liebenden und der Kinder.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger kam sie auf einen Zusammenhang. Die Wachspuppe und das Mädchen aus ihrem Traum waren Zufälle. Vielleicht war ihr das Foto im Schwarzen Hirschen bis in den Traum gefolgt. Dann träume ich heute Nacht wohl von Holzfällern und Bierfässern, dachte sie, während sie Siebenlehen hinter sich ließ.

Schon von Weitem bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Eingangstür des Hauses stand sperrangelweit offen. Nico begann zu rennen, aber das war im Neuschnee schwierig, und sie kam nur langsam voran. Endlich erreichte sie das Gartentor.

»Leon? Minx?« Keuchend blieb sie stehen und lauschte. Nichts.

Der Hexenbesen stand noch an die Hauswand gelehnt. Jeder, der sie damit sah, würde sich totlachen. Auch eine Art von Verteidigung. Langsam betrat sie das Haus.

Es roch immer noch ein wenig nach Rauch und verbranntem Papier.

»Hallo? Ist da jemand?«

Auf dem Linoleum waren feuchte Stiefelabdrücke zu sehen. Sie erinnerten Nico an die Spuren im Schnee, die sie in der ersten Nacht gesehen hatte. Schattengrund schien ungebetene Besucher anzuziehen wie ein Magnet. Sie hob den Besen und lugte um die Ecke. Das Zimmer war leer. Das ganze Haus schien wie ausgestorben. Sie ging zurück und warf die Türe zu. Dann zog sie die Stiefel aus und umrundete vorsichtig die nassen Spuren.

»Leon?«

Die Enttäuschung war groß. Sie hatte geglaubt, er wäre noch da, wenn sie zurückkäme. Aber er war gegangen und hatte auch die Tür nicht richtig verschlossen. Wahrscheinlich waren es seine Abdrücke. Viel Auswahl an Schneeschuhen gab es in Siebenlehen wohl kaum.

Sie stellte den Besen in die Ecke neben dem Holzkorb und warf sich aufs Sofa. Es war kühl. Wahrscheinlich, weil die Tür so lange offen gestanden hatte. Unwillig erhob sie sich wieder und öffnete die Ofenklappe, wie sie es bei Leon gesehen hatte. Mit dem Schürhaken stocherte sie in der restlichen Glut und wunderte sich über die viele Asche. So viel Papier. Ein angekohlter Buchdeckel. Sie stutzte, öffnete die Klappe und zog den Aschenkasten halb heraus.

»Ich glaub es nicht!«

Sie sprang auf und sah sich hilflos um. Sie suchte das ganze Zimmer ab, aber sie fand nicht, was sie suchte. Mit Tränen der Wut in den Augen kehrte sie zum Ofen zurück und gab dem Kasten einen Tritt. Der halbe Inhalt stob in die Luft und landete auf dem Fußboden.

Jemand hatte Kianas Buch verbrannt.

Am liebsten wäre sie sofort zum Schwarzen Hirschen gerannt und hätte Leon zur Rede gestellt. Was fiel ihm ein? Das Buch waren ihre Kindheitserinnerungen. Es war so kostbar, weil es das Gute und Schöne und Märchenhafte bewahrt hatte, das sie hier in Siebenlehen erlebt hatte. Das silberne Grab. Nico und das Ross des Teufels. Ein kleiner roter Stiefel auf dem Rest einer herausgerissenen Seite …

Nico ließ sich in den Sessel sinken und weinte plötzlich hemmungslos. Die ganze Anspannung der letzten Tage, die Anfeindungen, der offene Hass, der ihr entgegenschlug, all das bahnte nun einer Flut von Tränen ihren Weg. Sie merkte gar nicht, dass Minx hereingeschlichen kam und zu ihr auf den Sessel sprang. Erst als eine raue kleine Zunge über ihre Wange schleckte, blinzelte sie.

»Minx. Ach, Minx …«

Die Katze stieß einen leisen Klagelaut aus, als ob sie mit ihr leiden würde. Nico musste gegen ihren Willen lächeln. Vorsichtig kletterte ihre kleine Mitbewohnerin auf ihren Schoß. Dort kringelte sie sich zusammen und ließ sich streicheln.

»Hast du gesehen, was er getan hat?« Anklagend wies sie auf den Ofen. Minx richtete sich halb auf, schien aber zu bemerken, dass Nico keinesfalls etwas Fressbares meinte. »Er hat Kianas Märchenbuch verbrannt. Wie krank ist das denn? Gibt es in diesem ganzen Kaff eigentlich keinen einzigen normalen Menschen mehr? Das Schlimmste ist …«

Eine neue Heulattacke packte sie. »Das Schlimmste«, schniefte sie, »ist, dass ich ihm vertraut habe. Verstehst du? Ich habe ihm vertraut! Er hätte doch nur zu sagen brauchen, dass die Geschichten ihm nicht gefallen. Stattdessen schleicht er sich hier ein und fragt mich aus und … und …«

… und bringt mich völlig durcheinander. Nico schüttelte den Kopf und vergrub das Gesicht in Minx’ struppigem Fell. Noch nie hatte sie jemand so gedemütigt.

Sie schob die Katze liebevoll auf den Fußboden und tappte mit tränenblinden Augen in den Flur. Dann verriegelte sie die Haustür so, wie Leon es ihr gezeigt hatte. Beim Gedanken an ihn begann sie wieder zu schluchzen. Minx strich um ihre Beine und versuchte ein halbherziges Schnurren.

»Rouladen?«, fragte Nico.

Die Katze miaute laut, streckte den Schwanz in die Höhe und galoppierte in die Küche. Nico folgte ihr. Den Zettel fand sie erst, als sie den Dosenöffner suchte. Er lag auf dem Küchentisch unter der Teekanne.

Nico, morgen sollen die Straßen wieder frei sein. Bevor du verschwindest, möchte ich dich gerne noch mal sehen. Wie wäre es mit Pizza? Leon.

Nico ließ den Zettel sinken. So schrieb man doch nicht, wenn man Bücher verbrannte. Während sie Minx eine besonders große Ration Konservenrouladen unter die Haferflocken mischte und hoffte, dass sie nicht zu sehr gesalzen waren, überlegte sie, ob das alles nicht ein großer Irrtum war. Wenn ja … Sie ließ die Gabel sinken. Minx sprang auf den Stuhl und vibrierte vor Gier wie eine elektrische Zahnbürste.

»Hat Leon das Buch verbrannt?«

Die Katze war mit dieser Frage eindeutig überfordert. Sie wollte fressen, nicht petzen. Nico stellte die Schüssel unter die Spüle und betrachtete das Tier bei seiner von keinerlei Zurückhaltung getrübten Nahrungsaufnahme.

Wenn sie sich irrte, war der andere wieder da gewesen. Sie hielt den Atem an und lauschte. Vielleicht war er noch im Haus und hielt sich versteckt. Wartete darauf, dass sie einen Fehler machte …

Nico zog die Schublade im Küchentisch auf und holte ein Messer heraus. So bewaffnet ging sie zum Hinterausgang. Als Erstes warf sie einen kurzen Blick in den zugeschneiten Garten. Die Leiter lag noch da, wo Leon sie hingeworfen hatte. Er musste auch den toten Vogel entfernt haben, denn bis auf das gefrorene Blut im Schnee und ein paar verstreute schwarze Federn war nichts mehr von ihm zu sehen.

Sie schloss doppelt hinter sich ab und stieg die Treppe hoch. Kianas kleine Kammer war unberührt. Aber die Tür zu ihrem Zimmer stand offen und jemand musste dort gewesen sein. Vor ihrem Bett standen die Bärchenhausschuhe. Ordentlich und adrett nebeneinander. Nico tastete sich mit erhobenem Messer an sie heran, bereit, sofort zuzustechen, falls die Plüschdinger sich vor ihren Augen in etwas Grauenhaftes verwandeln sollten. Aber sie blieben, wo sie waren, und der Raum war leer.

Mit einem Aufseufzen setzte sie sich aufs Bett und hob den linken Schuh hoch. Und da sah sie es: Beiden Bärchen fehlten die Augen.

Schattengrund
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