Zwölf

Im Haus war es mittlerweile so dunkel, dass Nico überall Licht anmachte. Während sie den Rest der Vorräte hineintrug, beschäftigte sich Leon mit dem Holzstapel und der Suche nach kleineren Scheiten, die man zusätzlich zum Heizen benutzen konnte. Er kam kurz herein und fragte nach einer Axt. Nico vermutete, dass er vielleicht im Schuppen fündig werden könnte. Wenig später hörte sie, wie er draußen Holz hackte.

Nico schaltete den Wasserkocher an und Minx machte sich über ihr Fressen her. »Pimp your Haferflocken«, hatte Nico gemurmelt, als sie eine halbe Roulade unter den Brei mischte und sich schwor, lieber zu verhungern, als Konserven zu essen, die wie Katzenfutter rochen und aussahen. Während Nico so in der Küche arbeitete und Leon draußen, beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl.

Merkwürdig deshalb, weil sie es noch nie gehabt hatte. Zumindest nicht in so einem Zusammenhang. Es war richtig, was gerade geschah, sagte es. Es fühlte sich gut an. Zwei Menschen, die versuchten, ein altes Haus bewohnbar zu machen. Nur für ein Wochenende, mehr nicht. Aber wie wäre es, wenn es für länger wäre? Fühlte es sich so an, wenn man zusammen war? Wenn man gemeinsam an etwas glaubte, es aufbaute, sein Leben mit jemandem teilte?

Sie brühte den Tee auf und holte zwei Becher aus dem Regal. Dabei sagte sie sich, wie lächerlich dieser Gedanke war. Sie waren hier, weil der Zufall sie auf einem verschneiten Weg mitten in der Nacht zusammengeführt hatte. Und sie würde Siebenlehen verlassen, sobald die Straßen wieder frei waren. Und Leon … Leon war so ziemlich der Letzte, mit dem sie sich was auch immer vorstellen konnte. Sie – die Einzelgängerin!

Aber es fühlte sich richtig an, in dieser Stunde, in diesem Augenblick. Es war, als hätte das Leben einmal kurz den Vorhang zur Seite gezogen, der eine mögliche Zukunft verbarg. Als ob es ihr damit sagen wollte: So könnte es sein, irgendwann. Vielleicht sogar – für dich?

Oder auch nicht. Der Vorhang fiel, als Leon drei Kilo Schnee und Dreck im Flur verteilte und mit Getöse und Gerumpel die Holzscheite ins Wohnzimmer brachte. Nico nahm die Teekanne und Becher und folgte ihm.

»Wohin?« Er ließ das Holz in den Korb fallen, was die Frage überflüssig machte. Dann klopfte er sich den Dreck von den Kleidern und verteilte ihn sorgfältig auf dem Teppich. Nico sah ihm stirnrunzelnd dabei zu, sagte aber nichts außer: »Danke. Das war echt nett.«

Es klang steif und unnatürlich. Wahrscheinlich hatten ihre dämlichen Gedanken ums Richtig anfühlen sie befangen gemacht. Das ärgerte sie, sodass ihr »Tee?« auch noch schnippischer klang, als es ihre Absicht gewesen wäre.

»Gute Idee.«

Er ging zum Fenster und spähte hinaus.

»Es geht los. Oh Mann.«

Nico stellte die Kanne samt Becher auf einen niedrigen altdeutschen Couchtisch und ging zu ihm. Siebenlehen versank in Dunkelheit, als ob jemand einen Stecker gezogen hätte, dabei war es gerade einmal früher Nachmittag. Der Himmel war verhangen von schweren Wolken, aus denen die ersten Flocken fielen. Dichter und dichter, das Dorf versank hinter einem unwirklichen Schleier aus tanzendem, wirbelndem Schnee.

»Na toll. Ich hab gerade geschippt«, sagte Nico. Die dunklen Stellen auf ihrem Trampelpfad zum Haus verschwanden bereits unter der Schneedecke.

»Dein Pech.« Er führte den Becher zum Mund und trank einen Schluck. »Lass uns checken, ob du hier sicher bist. Zieh dir was an.«

Nicos Stiefel und ihre Jacke waren immer noch feucht. Sie fröstelte, als sie Leon hinaus in den Garten folgte. In aller Ruhe begann er, die hölzernen Fensterläden zu verschließen.

»Du musst sie noch von innen sichern.«

»Ist die Kriminalitätsrate hier so hoch?«

Leon stapfte durch den Schnee zum nächsten Fenster. Die Flocken wirbelten um sie herum und ließen sich auf Haaren und Schultern nieder. In Windeseile sahen sie aus wie die Yetis.

»Das macht man abends so«, antwortete er. Aber seine Fröhlichkeit kam Nico etwas aufgesetzt vor.

Anschließend kehrten sie zurück ins Haus, und Leon zeigte ihr, wie sie von innen die Riegel vorlegte und erst dann die Fenster sorgfältig verschloss.

»Was ist mit dem Keller?«

»Ich weiß nicht.«

Sie hatte noch gar nicht genug Zeit gehabt, sich das Haus in aller Ruhe anzusehen. Die Kellertreppe lag am Ende des engen Flurs, direkt gegenüber vom Wohnzimmereingang. Eine nackte, trübe Glühbirne beleuchtete die Stufen. Leon ging voran, Nico folgte ihm.

Feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind öfter hier unten gewesen war, um Äpfel oder Kartoffeln zu holen.

»Ich glaube, es gibt gar keinen Ausgang.«

Leon bog um die Ecke und war verschwunden.

»Jeder Keller hat einen Ausgang!«, hörte sie seine Stimme. »Jedenfalls in alten Häusern. Kommst du?«

Der Grundriss war exakt der gleiche wie im Erdgeschoss. Anstelle der Küche gab es hier unten eine Vorratskammer mit großen Schütten – sie waren leer. Es roch noch nach Erde, Kartoffeln und Äpfeln. Der Flur endete an einer Tür, die Leon gerade zu öffnen versuchte.

»Mann, ist das alles verzogen hier!« Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen und die Tür flog auf.

»Was ist das denn?«

Nico folgte ihm und sah sich staunend um. Der ganze Keller war voll mit – Besen. Es mussten Hunderte sein. Sie lehnten in Bündeln an der Wand oder hingen von der Decke. Sie waren wunderschön. Man sah ihnen an, dass eine Meisterhand sie gefertigt hatte und jedes einzelne Stück ein Unikat war. Bei einem war der Stil etwas knorriger, beim anderen hatte das Hanfseil um die Borsten einen dunkleren Ton. Sie waren unbenutzt. Keine Hand hatte sich glättend um den Schaft gelegt, noch keine Borsten war auf Treppen und Straßen verloren gegangen. In einer Ecke stapelten sich kleinere Handbesen, daneben standen schlanke Haselbesen mit besonders sperrigen Ruten aus Ginster. Bündel von Pferde- und Dachshaaren hingen an der Wand. Andächtig berührte Nico die Borsten eines Strohbesens, der über ihr an der Decke hing. Er schaukelte sacht und berührte die anderen, die neben ihm hingen. Die Bewegung setzte sich wie sanfte Wellen fort. Nico hatte das Gefühl, kopfüber auf den Grund eines Sees zu blicken.

»Das ist verrückt«, flüsterte sie. »Völlig verrückt.«

Leon nahm einen hoch und betrachtete ihn genauer. »Eine Besenbinderwerkstatt. Hat deine Tante die gemacht?«

»Ich erinnere mich nicht. Ich habe diesen Raum auch noch nie gesehen. Ich wusste gar nicht, dass es ihn gibt.«

»Die sind richtig, richtig gut. Ich glaube, wenn du die verkaufst, bekommst du ein Vermögen dafür.«

Nico runzelte die Stirn. »Für alte Besen? Die sind doch schon ganz kaputt durch die Feuchtigkeit.«

Leon untersuchte sein Exemplar und stellte es mit einem Seufzer zurück. »Stimmt. Da ist Schimmel drin. Schade. Ich dachte schon, wir hätten einen Schatz entdeckt.«

»Na ja.« Nico ging zurück zur Tür. Leon musste nicht unbedingt merken, wie schwer es ihr ums Herz war. Alles, was Kiana hinterlassen hatte, war kaputt. Das Haus, die Besen, sogar die Kinderbilder in dem alten Buch.

Leon folgte ihr. Am Fuß der Kellertreppe fanden sie eine kleine Eisentür – komplett verrostet.

»Also wer die aufkriegt, tut dir noch einen Gefallen damit«, sagte Leon, nachdem er Schloss und Scharniere untersucht hatte. »Damit wäre unser Rundgang beendet. Was ist mit dem Dach? Ist das sicher? Sind die Fenster verschlossen?«

»Ja«, antwortete Nico unwillig. »Wer bitte soll denn wie aufs Dach kommen?«

»Vielleicht hast du es nicht bemerkt, aber hinter dem vertrockneten Efeu neben dem Holzstapel liegt eine Leiter. Wahrscheinlich für den Schornsteinfeger. Eine Einladung für jeden, der einsteigen will.« Leon wollte die Kellertreppe hochgehen, aber Nico stellte sich ihm in den Weg.

»Was soll das?«

»Was?«

»Dieses Sicherheitsgetue. Okay, hier ist jemand herumgeschlichen und wollte mir Angst einjagen. Aber das war es auch schon. Wenn jemand hätte einbrechen wollen, dann hätte er das doch längst getan. Schattengrund stand über ein halbes Jahr leer.«

Leon nickte, als sei ihm soeben genau die gleiche Eingebung gekommen. »Stimmt! Ist doch logisch. Warum kümmere ich mich auch darum, wenn kleine Mädchen allein in alten Häusern schlafen?«

»Kleine Mädchen?«, schnaubte Nico.

»Hast du dir eigentlich mal überlegt, wo du jetzt wärst, wenn ich dich nicht aufgesammelt hätte?«

»Ähm …«

»Also. Lass mich doch einfach machen. Die Nacht wird verdammt kalt. Hast du genug Decken?«

»Ja.« Nico versuchte, den Ärger hinunterzuschlucken. Aber das war nicht so einfach angesichts seiner ständigen Besserwisserei. »Schlimmstenfalls kann ich mir noch die aus Kianas Zimmer holen.«

»Okay.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und grinste sie an. »Hunger?«

»Ja?«

»Na dann los.«

Schattengrund
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