Zweiundfünfzig

Die frische Luft blies Nico um die Ohren. Leon, sein Vater und der Pfarrer standen mitten auf der Kreuzung und spähten in Richtung Altenbrunn. Sie waren nicht alleine. Noch einige andere Bewohner von Siebenlehen waren hinaus auf die Straße gerannt. Manche hatten sich in der Eile auch nur einen Wintermantel über den Pyjama geworfen.

»Sie kommen!«, rief einer.

Der Ruf hallte von Haus zu Haus. »Sie kommen!«

Der Schein der Straßenlampen verblasste langsam unter dem fahlen Morgenhimmel. Ein graues Gebirge aus Wolken ballte sich gerade im Norden über dem Brocken zusammen. Es schneite nicht mehr, aber es sah nur nach einer kurzen Atempause aus.

Leon entdeckte Nico und kam strahlend auf sie zugerannt. »Die Räumfahrzeuge. Siebenlehen hat wieder Kontakt zur Außenwelt!«

Er nahm sie in den Arm, hob sie hoch und wirbelte einmal mit ihr um die eigene Achse. Die Freude überwog für ihn in diesem Augenblick offensichtlich alles andere. Auch so kleinliche Gedanken ans Abschiednehmen und Sich-vielleicht-nie-mehr-Wiedersehen. Nico schluckte. Der Schock, die Schmerzen und eine abgrundtiefe Erschöpfung ließen sie alles erleben wie in einem fast schwerelosen, unwirklichen Traum. War das wirklich das Ende? Hatte sie Kianas Rätsel gelöst? Würde sie Siebenlehen und Leon jetzt verlassen müssen?

Vorsichtig setzte er sie wieder ab und nahm ihr Gesicht in beide Hände.

»Alles ist gut«, flüsterte er. »Hörst du mich? Alles ist gut. Wir werden noch viel reden müssen. Es wird für uns alle nicht einfach werden. Aber es ist gut. So, wie es gekommen ist, und nicht anders.«

Sie sank an seine Brust und fing an, zu weinen wie ein kleines Kind. Alles strömte aus ihr heraus. Das Entsetzen. Die Todesangst, als Zach auf sie losgegangen war. Die Ewigkeit in der eisigen Kälte des silbernen Grabes. Filis letztes Lächeln, ihr letztes Lebewohl. Die Anfeindungen, die Flüche, die Schuldgefühle, jemanden im Stich gelassen zu haben, und schließlich auch die Trauer um zwei Kinder, über deren Leben eine Katastrophe hereingebrochen war. Die ganze Zeit hielt Leon sie in seinen Armen und hielt sie fest. Sie wusste nicht, wie lange sie so ineinander versunken dastanden. Alles um sie herum war unwichtig geworden. Was zählte, war ihre Umarmung. Seine Arme, die sie festhielten und an sich drückten. Die Worte, die er ihr ins Ohr flüsterte. Die Seligkeit dieses Moments, von dem sie wünschte, er würde nie vorübergehen.

Das Brummen der Dieselmotoren wurde lauter. Bald mussten die schweren Geräte die Kreuzung erreichen. Nico sah hoch, blinzelte und fühlte sich, als würde sie aus einem Traum erwachen.

»Komm, ich bring dich noch hoch.«

Er zog sie in Richtung Schattengrund. Nico stolperte mit tränenblinden Augen hinter ihm her. Es war vorbei, aber sie fühlte keine Freude darüber. Nur eine große Leere, dort, wo ihr Schmerz gesessen haben musste. Eines Tages würde diese Einsamkeit in ihr verschwinden. Wenigstens das wusste sie. Es war der Morgen des sechsten Dezembers – ihr Geburtstag. Die Frist war abgelaufen. Sie hatte Schattengrund verloren.

Die Jubelrufe und das Brummen der Motoren wurden leiser, je weiter sie sich von Siebenlehen entfernten. Nico blieb stehen und betrachtete das Haus, das am Ende der Straße lag. Ein bisschen weit weg von den anderen, ein bisschen über den anderen. Und trotzdem Teil von allem, im Guten wie im Bösen.

»Nico!«

Der Schrei ließ sie herumfahren. Suchend blickte sie hinunter zur Kreuzung, wo sich immer mehr Menschen versammelten. Ein gewaltiger Bagger mit der Schneeschaufel bog um die Ecke. Blaulicht zuckte über die Hauswände. Ein Krankenwagen und ein Einsatzfahrzeug der Polizei schoben sich im Schritttempo hinter dem Bagger ins Dorf, ein gutes Dutzend Autos und Geländewagen rollte hinterher. Sie mussten aus Altenbrunn gekommen sein und sich direkt hinter dem gewaltigen Räumgerät eingereiht haben. Manche standen mit offenen Wagentüren mitten auf der Straße, Menschen fielen sich in die Arme. Eine Gestalt kam auf die Kreuzung gerannt. Nicos Herz machte einen Satz.

»Nico?«

»Mama!«

Sie befreite sich mit einem entschuldigenden Lächeln aus Leons Umarmung und lief los.

»Mama!«

Stefanie kam keuchend und mit ausgebreiteten Armen zu ihr hochgerannt. In ihrem dicken Daunenmantel und den Winterboots sah sie aus wie ein Michelin-Männchen. Nico flog in sie hinein, so heftig, dass ihre Mutter beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und sie um ein Haar alle beide im Schnee gelandet wären.

»Nico, mein Schatz. Ist alles okay? Ich hatte solche Angst um dich. Was machst du denn für Sachen? Du kannst doch nicht einfach abhauen! Wir sind fast gestorben! Ist dir auch nichts passiert? Wo hast du eigentlich gesteckt die ganze Zeit?«

Stefanie küsste ihre Tochter atemlos zwischen den Sätzen ab. Schließlich hielt sie inne. »Ich glaube, du hast mir eine Menge zu erzählen.«

»Ja«, sagte Nico. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie der Krankenwagen von der Kreuzung abbog und mit rasselnden Schneeketten auf sie zufuhr. Das Fahrerfenster glitt hinunter.

»Schattengrund?«, brüllte ein Mann in weißem Kittel.

»Da!« Nico deutete auf Kianas Haus. Der Motor des Wagens brüllte auf, Schnee stob in einer Fontäne in die Luft. Ihre Mutter starrte erst dem Auto hinterher, dann nahm sie Nico ins Visier.

»Was ist passiert?«, fragte sie in genau dem scharfen Ton, den Erwachsene Minderjährigen gegenüber anzuschlagen pflegen. Nico unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass sie seit – sie sah auf Leons Armbanduhr – fast sieben Stunden volljährig war.

»Das erzähle ich dir später. In aller Ruhe.« Leon kam zu ihnen. Er war nervös. Nicos Herz machte einen Sprung. Ein merkwürdiger, aufregender Moment, und sie hoffte, sie würde die richtigen Worte finden. »Ich möchte dir übrigens jemanden vorstellen, den ich hier kennengelernt habe. Leon Urban. Seiner Familie gehört der Schwarze Hirsch.«

»Ah. Ja.« Stefanie klang immer noch überrascht, aber nicht mehr ganz so kühl. Sie sah zerstreut an Nico vorbei zu Schattengrund. Maik, der sanfte Riese mit dem zerschmetterten Gesicht, taumelte gerade durch den Vorgarten, gestützt von zwei Sanitätern. »Und wer ist der Mann, den sie da gerade aus dem Haus holen und der aussieht, als wäre er zwischen zwei Pitbulls geraten?«

»Später«, wiederholte Nico verzweifelt. Gerade bog der Polizeiwagen mit Blaulicht ab und parkte direkt vorm Schwarzen Hirschen. Zach kam heraus, begleitet vom Pfarrer. Nico glaubte, das Klicken der Handschellen bis zu ihnen hinauf zu hören. Verwirrt deutete ihre Mutter auf das zweite, nicht minder interessante Szenario.

»Und … Ich verwechsle doch wohl nichts – das ist eine Festnahme? Im Schwarzen Hirschen? Also … in Ihrem Haus?«

»Äh, ja«, sagte Leon. Er und Nico wechselten einen kurzen Blick. »Auch das würde ich gerne später, also, … in aller Ausführlichkeit …«

»Schon gut.« Stefanie legte den Arm um Nicos Schulter, um klarzumachen, wer hier die Erklärungshoheit besaß.

»Ich glaube, ich muss erst mal ein paar Stunden schlafen«, säuselte das erschöpfte Töchterchen. Es war schön, dass ihre Mutter da war. Andererseits hätte sie sie in diesem Moment am liebsten in einen Schneemann verwandelt. Sie wollte mit Leon alleine sein. Wenigstens in diesen letzten kostbaren Minuten.

»Wir müssen los.« Leon gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann wandte er sich mit einem charmanten Lächeln an Stefanie, die das mit hochgezogenen Augenbrauen an sich abprallen ließ. »Es hat mich sehr gefreut. Leider müssen wir die Fähre bekommen.«

»Die Fähre«, wiederholte Stefanie. »Verstehe.«

»Mamutsch, ich erklär es dir.« Nico machte sich los. »Geh schon mal vor, okay?«

Mit einem Kopfschütteln drehte Stefanie sich um und stapfte in Richtung Schattengrund. Der Krankenwagen hatte seine kostbare Fracht eingeladen und rollte nun mit leisem Schnurren des Motors an ihnen vorüber.

»Er kommt sofort nach Halberstadt in die Klinik«, sagte Leon. »Und Zach ist in U-Haft. Wir werden wohl nicht beweisen können, was er Fili angetan hat. Und den Mordversuch mit dem verschlossenen Stollen wird irgend so ein Winkeladvokat wohl noch in beste Absichten umdrehen. Aber das mit Maik war schwere Körperverletzung und seine Messerattacke auf dich auch. Und dann habe ich noch das hier.«

Er holte einen kleinen, quadratischen Metallgegenstand aus seiner Jackentasche.

»Eine Festplatte?«

»Seine Festplatte. Mal sehen, was wir noch alles darauf finden. Es ist zum Kotzen.«

Er verstaute das Beweisstück wieder. »Nico?«

Er sah ihr in die Augen. Sie fühlte einen Stich – genau wie in der Achterbahn oder wenn ein Fahrstuhl zu schnell hält.

»Ich hasse es, so einen Menschen in meiner Familie zu haben. Ich werde Zach nie verzeihen können. Kannst du … Könntest du dir trotzdem vorstellen, mich wiederzusehen?«

Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, ihr Kopf leer. Sie hätte gerne irgendetwas Geistreiches geantwortet. So, wie die Girls in diesen witzigen Filmen, die immer einen frechen Spruch parat hatten. Aber ihr fiel nichts ein.

»Schon gut. War nur eine Frage. Ich kann dich verstehen.«

Nein!, wollte sie rufen. Du verstehst mich eben nicht! Ich kann das nicht. Drumherum reden und so tun, als ob es das Normalste der Welt wäre, wenn ein Typ wie du mich fragt, ob wir uns wiedersehen.

»Okay. Ich geh dann mal. Ihr kriegt übrigens immer einen Sonderpreis für die Dachkammer, soll ich euch sagen.« Sein Grinsen verrutschte etwas. »Und mein Dad möchte mit euch gerne über Schattengrund reden. Vielleicht lässt sich da was machen in Richtung Kooperation oder so. Wie auch immer. War schön, dass wir uns getroffen haben. Ich muss jetzt. Die Fähre …«

»Ja«, flüsterte sie.

»Gut. Also nicht gut. Ich kann nicht so mit Abschied und allem. Ich geh dann mal.«

Er drehte sich um. Nico blieb wie angewurzelt stehen. Gibt es eigentlich noch jemanden auf der Welt, der sich blöder anstellt als ich?, dachte sie. Bin ich das, die hier dumm rumsteht und den schärfsten aller Typen einfach gehen lässt?

»Leon?« Das war zu leise.

»Leon!«

Er lief weiter. Nico rannte los. »Bleib stehen! Warte!«

Sie erreichte ihn und stellte sich ihm mitten in den Weg.

»Ja«, sagte sie.

Und da war es wieder. Sein Lächeln. Irgendwo in den Mundwinkeln. Das Funkeln seiner Augen. Der Blick, mit dem er sie ansah: ungläubig, verletzt, und doch wieder … wie Frühling.

»Was ja?«, fragte er leise. »Ja, ich will dich wiedersehen, egal wo? Egal wie? Nur so bald wie möglich? Wolltest du mir das sagen?«

»Ja«, flüsterte sie. Er nahm sie in die Arme. Das Glück flutete ihr Herz. Sie schloss die Augen und spürte seine Lippen auf ihrem Mund. Dann küsste er sie, wie sie noch nie von einem Mann geküsst worden war, und es war einer dieser Küsse, bei denen die Welt den Atem anhält und die Zeit bedeutungslos wird und den man nie vergessen wird, sein ganzes Leben nicht.

Schattengrund
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