Zwanzig

Nico verbrannte die Schuhe im Ofen. Sie loderten mit einer Stichflamme auf und zerschmolzen zischend zu einem schwarzen Klumpen. Es stank nach Plastik. Aber das ganze Haus roch mittlerweile so merkwürdig, dass dieser Geruch nun auch nicht mehr störte.

Minx hatte ihre Mahlzeit verputzt und schlabberte Wasser aus einem flachen Suppenteller, den Nico so weit wie möglich unter den Küchentisch geschoben hatte, damit sie nicht bei jeder Gelegenheit hineintrat.

Den Zettel las sie mehrmals durch.

»Wie wäre es mit Pizza?« Minx hob den Kopf. Wahrscheinlich hatte irgendwann mal jemand dieses Wort in den Ordner Fressbares auf ihrer Festplatte gespeichert. »Was will er mir damit sagen? Kommt er heute Abend wieder? Oder hat er einen Hubschrauber gechartet, um mich auszuführen? Soll ich in den Schwarzen Hirschen kommen?«

Sie ging in die Hocke. Minx schüttelte sich und verteilte kleine Wassertropfen.

»Warum können Männer sich eigentlich nicht klar ausdrücken? Morgen sollen die Straße wieder frei sein. Heißt das: Wir werden weinen vor Glück, wenn du endlich die Biege machst?«

Jemand klopfte. Nico wollte aufspringen, hatte aber vergessen, wie weit sie sich unter die Tischplatte gebeugt hatte, und schrammte mit der Stirn voll über die Kante. Der Fluch, den sie ausstieß, jagte Minx die Treppe hoch.

Wieder klopfte es. Hektisch suchte Nico nach dem Messer und fand es, voller brauner Bratensoße, im Spülstein.

»Moment!«

Sie ließ Wasser darüber laufen und trocknete es ab. Dann steckte sie es sich hinten in den Bund ihrer Jeans und prüfte, ob sie es schnell genug ziehen konnte. Sie hatte noch nie eine Waffe gebraucht, geschweige denn benutzt. Adrenalin und Angst schnürten ihr fast die Kehle zu.

»Ich komme gleich!«

Kein Handy, kein Telefon. Und irgendwo da draußen ein Irrer, der Krähen köpfte, sich in Schattengrund schon wie zu Hause fühlte, Kianas Märchen verbrannte und sie umbringen wollte. Leise schlich sie in den Flur.

»Wer ist da?«

Wieder ein Klopfen. Herrisch, ungeduldig dieses Mal. Sie tastete mit der Linken nach dem Schaft des Messers. Die Rechte streckte sie aus in Richtung Türknauf.

»Nico? Bitte machen Sie auf. Ich will mit Ihnen reden.«

Der Pfarrer. Mit einem Aufatmen ließ sie das Messer los und öffnete.

»Danke. Darf ich hereinkommen?«

Wortlos trat sie zur Seite und ließ ihn eintreten. Er nahm die Mütze ab und sah sich um wie jemand, der nach langer Zeit ein Museum betritt und sich zu erinnern versucht, ob alles auch noch an seinem Platz stand.

Nico schloss die Tür. »Einen Kaffee vielleicht? Tee?«

»Tee. Gerne.«

Sie dachte nicht daran, ihn ins Wohnzimmer zu bitten, sondern marschierte an ihm vorbei in die Küche. Er folgte ihr.

»Setzen Sie sich doch.«

Hektisch räumte sie die leere Konservendose ab und wischte mit einem feuchten Lappen über die Tischplatte. Dann schaltete sie den Wasserkocher ein und suchte Teebeutel.

Der Pfarrer nahm Platz. Er schwieg, also wartete er darauf, dass sie anfing.

»Die Figur in der Kirche«, begann sie. »Sie erinnert mich an jemanden. Wen stellt sie dar?«

»Die heilige Barbara. Sie ist die Schutzheilige der Bergleute.«

»Das weiß ich.« Nico nahm zwei Becher aus dem Regal und prüfte kurz, ob sie auch sauber waren. »Aber ich kenne sie. Ich habe sie im Traum gesehen.«

»Dann sind Sie wahrscheinlich außergewöhnlich spirituell veranlagt.«

Sie stellte die Becher lauter ab, als es nötig gewesen wäre. »Das ist mir neu. Ich hab’s mit dem Spirituellen eigentlich nicht so. Mir sind Tatsachen lieber.«

»Man kann sich gegen bestimmte Dinge nicht wehren.«

Nico setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Tisches. »Da muss ich Ihnen leider recht geben. Seit ich hier bin, geschehen eine Menge Dinge. Aber wehrlos bin ich nicht.«

Sie zog das Messer aus dem Hosenbund und legte es neben ihren Becher. Der Pfarrer zog scharf die Luft ein. Bis zu diesem Moment hatte er wahrscheinlich geglaubt, er hätte es mit einer etwas überspannten Heranwachsenden zu tun.

»Liebe Nico, Sie nehmen sich einige Äußerungen vielleicht etwas zu sehr zu Herzen. Natürlich sind manche Leute verwirrt, dass Sie hier aufgetaucht sind. Wer weiß, vielleicht hat sich der eine oder andere auch Hoffnungen auf Schattengrund gemacht. Aber das ist in so einer kleinen Gemeinde normal.«

»Die Hexe zu töten?«

Er riss die Augen auf.

»Die Hexe zu töten? Ist das normal?«

Sie wartete und konnte ihm ansehen, dass er es in diesem Moment bereute, hergekommen zu sein. Für ihn war sie Kianas Nichte, die Erscheinungen hatte, sich für eine Hexe hielt, die heilige Barbara persönlich kannte und mit einem Messer herumlief. Unterm Strich deuteten alle Indizien darauf hin, dass sie, Nico, am Durchdrehen war und nicht die anderen. Der Gedanke war so absurd, dass sie am liebsten laut aufgelacht hätte – was sie nicht unbedingt glaubwürdiger machen würde, das wusste sie.

»Jemand will mich umbringen.« Das klang auch nicht besser. Aber es war die Wahrheit.

»Mein liebes Kind …«

Sie beugte sich vor und sprach langsam und deutlich. »Jemand will mich töten.«

»Sie meinen … einer von hier?«

»Ja, von wo denn sonst?« Der Wasserkocher schaltete sich mit einem lauten Klacken ab. Nico war froh, dass sie sich um den Tee kümmern konnte, bevor sie den Mann noch anschreien würde. »Seit zwei Tagen ist doch niemand mehr nach Siebenlehen hereingekommen. Jemand schleicht um das Haus. Bricht ein. Klaut Sachen. Verbrennt sie.«

»Was wurde verbrannt?«, fragte der Pfarrer schnell.

Nico hängte die Teebeutel in die Kanne und trug sie zum Tisch.

»Erinnerungen an Kiana.«

Er schwieg. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf.

»Das ist schlimm. Wirklich schlimm.«

»Das Schlimmste kommt erst noch. Er steigt nachts aufs Dach und verstopft den Kamin mit einer Krähe. Ich wäre fast an einer Rauchvergiftung erstickt.«

»Oh, das tut mir leid. Manche Vögel bauen Nester auf verlassenen Häusern, und da kann es schon mal vorkommen …«

»… dass sie sich erst köpfen und dann in den Schornstein werfen? – Zucker?« Die letzte Frage stellte sie mit einem liebenswürdigen, aber trotzdem falschen Lächeln. Sie schob ihm das Einmachglas hinüber, das sie im Vorratsschrank entdeckt hatte.

»Ja, danke«, antwortete er zerstreut. Er nahm zwei Löffel und rührte eine Ewigkeit in seiner Tasse herum. Schließlich nahm er vorsichtig einen Schluck. Nico ließ ihn nicht aus den Augen. Wenn es ihm unangenehm war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

»Wer ist die heilige Barbara? Wer ist das Mädchen? Und was hat sie mit einem schwarzen Mann zu tun?«

Der Pfarrer hustete, der Tee schwappte über. »Oh, Verzeihung. Ich habe mich verschluckt«, röchelte er. »Ein schwarzer Mann?«

Nico hätte vor Wut am liebsten die Messerspitze in die Tischplatte gerammt. Wo war Leon? Er hätte dem Pfarrer erklären können, dass alles, was Nico erzählte, wirklich geschehen war. Gut, die Geschichte mit dem Mädchen, das sie im Traum vor einem schwarzen Mann warnte, klang vielleicht wirklich ein bisschen verrückt. Aber sie hing mit allem zusammen, das wusste sie. Das spürte sie.

»Vergessen Sie’s. Ich will nur wissen, wen diese Wachsfigur darstellt, die den Leuten hier als Heilige verkauft wird.«

»Sie ist die Heilige. Zumindest repräsentiert sie sie. Jede Heiligenfigur, jede Madonna, jeder Apostel ist doch nur ein Gleichnis. Oft haben sich die Künstler reale Vorbilder genommen. In der Renaissance trug meist der älteste der Heiligen Drei Könige die Züge des fürstlichen Auftraggebers. Bürgerliche Stifter wurden oft als Hirten oder Schäfer verewigt. ›Sicher ist es, dass die Gestalt eines schon längst Verstorbenen durch die Malerei ein langes Leben lebt‹, schrieb Leon Battista Alberti in seiner Schrift De Pictura Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts.«

»Von mir aus. Wer ist sie?« wiederholte Nico.

Resigniert setzte der Pfarrer die Tasse ab. »Das wissen Sie wirklich nicht?«

Nico hielt den Atem an und antwortete leise: »Nein.«

»Ihr Name war Philomenia Urban. Alle nannten sie Fili. Sie starb im Alter von sechs Jahren. Ihr Vater Zacharias hat die Statue gestiftet. Zur Erinnerung an den Tod seines einzigen Kindes.«

»Wann?«, flüsterte Nico. »Wann starb sie?«

»Vor fast genau zwölf Jahren.«

Die letzten Winterferien bei Tante Kiana. Nico war danach krank gewesen. Sehr sehr krank. Sie war nicht mehr an ihre Schule zurückgekehrt. Sie waren umgezogen in eine andere Stadt und Nico wurde im darauffolgenden Sommer noch einmal eingeschult.

»Woran ist sie gestorben?«

Der Pfarrer legte seine Hand auf die ihre. Sie war warm und es ging etwas Tröstliches von dieser Berührung aus.

»Sie ist erfroren. Oben am Berg, in einem alten Stollen.«

Der Schreck drang wie ein Messer in ihren Leib. Nicos Kehle wurde eng. Sie fürchtete sich davor, diese Frage zu stellen, und sie war froh, dass es ein Pfarrer war, mit dem sie sprach.

»Warum?«, brachte sie schließlich heraus. »Was habe ich damit zu tun?«

»Sie wissen es nicht mehr?«

»Nein!«, rief Nico. »Ich weiß es nicht! Und keiner scheint das zu glauben! Was ist passiert? Was hat sie da oben gemacht? Wie kommt ein kleines Kind im Winter hinauf auf den Berg? Allein?«

Er drückte ihre Hand. »Sie war nicht allein. Sie waren bei ihr.«

»Ich?« Entsetzt zog Nico ihre Hand zurück. Sie sprang auf und lief zum Fenster, zurück zur Spüle, hin und her, fuhr sich durch die Haare, versuchte, zu begreifen, was ihr gerade gesagt worden war.

»Nein.« Sie blieb stehen und stützte die Hände auf die Lehne des Küchenstuhls. »Das ist eine Lüge. Sie wäre nicht gestorben, wenn ich bei ihr geblieben wäre.«

Der Pfarrer sah auf die Tischplatte und sagte nichts. Langsam, ganz langsam zog Nico den Stuhl heran und setzte sich.

»Ich …« Alles in ihr sträubte sich, diese Worte auszusprechen. Sie waren so furchtbar. So entsetzlich. Alles bekam plötzlich einen Sinn. All der Hass, der See aus Blut und Tränen. »Ich bin nicht bei ihr geblieben?«

Er hob vorsichtig die Tasse. Seine Hand zitterte. Nico hätte es nicht für möglich gehalten, dass ihn diese Geschichte auch so mitnahm.

»Sie waren Kinder. Sie sind fortgelaufen, mit den Besen hat man Sie noch gesehen, wie Sie in den Wald gegangen sind und nicht mehr wiederkamen. Sie, Nico, hatten Fili an der Hand. Sie gingen voraus.«

»Nein«, flüsterte Nico. »Nein.«

»Dann kam der Schnee. Es war fast so ein Wetter wie jetzt. Ein Blizzard. Ein Schneesturm. Wahrscheinlich haben Sie sich verirrt und wollten Hilfe holen.«

»Ja«, sagte Nico tonlos. Wahrscheinlich hatte sie das gewollt. Viel wahrscheinlicher war, dass der Pfarrer versuchte, ihr eine goldene Brücke zu bauen, über die sie nicht gehen konnte. Sie stand vor dem Abgrund. Aber anders als das Mädchen in ihrem Traum würde sie, Nico, nicht fliegen können. Sie würde fallen. Fallen und fallen …

»Und dann?«

»Wir haben Sie oben auf dem Weg zum Brocken gefunden. Sie sind in die falsche Richtung gelaufen. Von Fili fehlte jede Spur. Die Bergwacht war alarmiert. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Alle suchten mit, aber es war ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Das Wetter verschlechterte sich rapide, ein Schneesturm tobte. Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Es wurde die kälteste Nacht, die Siebenlehen je erlebt hat – minus zweiundzwanzig Grad. Es war ein Wunder, dass Sie das überlebt haben. Drei Tage schwebten Sie zwischen Leben und Tod. Sie lagen im Koma, und keiner wusste, ob Sie je wieder aufwachen würden. Ich werde nie vergessen …«

Er brach ab und faltete die Hände. Die Daumen rieben nervös übereinander. Zwei kleine Tropfen fielen vor Nico auf die Tischplatte. Sie weinte und merkte es nicht.

»Zacharias kam ins Krankenhaus. Er hat einen der Ärzte zusammengeschlagen und die halbe Station zertrümmert. Ihr Vater hielt Wache vor ihrem Zimmer. Die beiden haben sich geprügelt und fast halb tot geschlagen. Zacharias ist es gelungen, an Ihr Bett zu kommen. Er hat die Schläuche herausgerissen, sie geschüttelt, angeschrien: Wo ist sie? Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«

Nico schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Der Pfarrer stand auf und kam zu ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern und streichelte ihren bebenden Rücken.

»Drei Mann mussten ihn überwältigen. Es war sinnlos. Nico, Sie wussten es nicht mehr. Sie wussten gar nichts. Sie hatten es vergessen.« Er nahm seine Hände weg. »Sie hätten nie hierher zurückkehren dürfen.«

Schattengrund
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