Achtundzwanzig
Leons Zimmer unterschied sich in nichts von Nicos Unterkunft. Es war klein, spartanisch, nur mit dem Allernotwendigsten ausgestattet. Trotzdem mochte Nico diese Kargheit mehr als die zu Tode renovierten, birkefurnierten, abwaschbaren Allerweltshotelzimmer. Mit einer schlichten, neuen Tapete und ein paar kleinen Details wäre es sogar richtig gemütlich. Retro-Charme. Für Holzfäller, Skilangläufer und Romantiker. Doch es fehlten eine liebevolle Hand und der Blick für Kleinigkeiten. Der Lack auf den Heizkörpern blätterte ab, das Messing der Türklinken war stumpf und fleckig. Die Dielen müssten abgeschliffen und neu versiegelt werden. Und – Nico setzte sich auf das Bett, das unter ihrem Gewicht in der Mitte ächzend nach unten durchhing – neue Matratzen müssten her. Diese hier war wahrscheinlich hundert Jahre alt.
Allerdings gab es in Leons Zimmer ein Waschbecken. Er nahm zwei Zahnputzgläser von der Glasablage unter dem angelaufenen kleinen Spiegel und füllte sie mit Wasser. Aus der Nachttischschublade holte er einen Tauchsieder, schloss ihn an die Steckdose neben dem Waschbecken an und versenkte ihn im ersten Glas.
»Tee?«
Nico fühlte sich wie auf einer Zeitreise in die 60er-Jahre. Fehlten nur noch die Holzskier und ein Transistorradio mit ultralanger Antenne, aus dem »Es war in Napoli vor vielen Jahren« plärrte.
»Ja. Gute Idee.«
Die Heizung unter dem Fenster rauschte und knackte. Leon rührte mit dem Tauchsieder im Wasser herum. Als die ersten Bläschen aufstiegen, zauberte er einen Teebeutel hervor und gab ihn ins Glas. Er reichte es Nico, die den Beutel an seinem Faden herauszog und wieder fallen ließ. Das Wasser war lauwarm. Leon machte sich mit seinem Tee ähnlich viel Mühe. Als er fertig war, setzte er sich auf einen Holzstuhl, der vor einem wackeligen Tisch stand.
»Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte er schließlich.
»Missbrauch?«
Leon nickte. Nico war unendlich schwer ums Herz. Von all den schrecklichen Erkenntnissen, die sie in Siebenlehen gewinnen musste, war dies die schwerste. Mit ihrem eigenen Versagen konnte sie vielleicht noch umzugehen lernen. Aber dass einem Kind wehgetan worden war, dass ein Mädchen leiden musste und keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als sich in eine Zeichnung und ein aberwitziges Märchen zu flüchten, tat schneidend weh.
»Sie war doch erst sechs.« Nico schnürte es fast die Kehle zu. »Und es muss hier in diesem Haus passiert sein.«
»Vielleicht hatte sie auch nur eine blühende Fantasie?«
Die Zeichnung lag auf seinem Bett. Nico fürchtete sich, sie noch einmal anzusehen. Leon zog sie zu sich heran und studierte sie genau.
»Was soll es denn sonst sein?«, fragte Nico. »So einen Vorhang gibt es nirgendwo. Und man heult auch nicht deshalb. Es ist ein Mann. Er ist groß. Er steht an ihrem Bett. Er macht ihr Angst. Es ist ein schwarzer Mann.«
»Der schwarze Mann … Das klingt trotzdem sehr allgemein.«
Nico nahm ihm die Blätter ab und begann zu lesen.
»Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Haus im Tal und war so hübsch und zart, dass noch nicht einmal die Vöglein Angst hatten vor ihm. Sie setzten sich auf seine Schulter und sangen liebliche Liedchen. – Die Vöglein …«
Nico brach ab.
»Was ist mit den Vöglein?«
»Ein merkwürdiger Begriff. So altmodisch. Im normalen Sprachgebrauch gibt es ihn nicht. Aber Maik hat ihn benutzt.«
»Maik Krischek redet von Vöglein?« Leon zog die Augenbrauen hoch. Er war sichtlich amüsiert. »Bringst du da nicht ein paar Buchstaben durcheinander?«
»Du hast es nicht mitbekommen, weil du bei den Briketts warst. Nicht nur von den Vöglein hat er erzählt. Auch von den Kindlein im silbernen Grab und dass die Tür alle zwölf Jahre einmal aufgehen würde.«
»Du übst ja einen erstaunlichen Einfluss aus.«
Nico trank einen Schluck Tee und vermied in letzter Sekunde, ihn wieder auszuspucken. »Ist er ein bisschen meschugge?«
»Er war mal verschüttet als Kind. Im alten Stollen.«
»Ach.« Sie ließ nachdenklich die Blätter sinken. »Mir kommt es so vor, als ob alle Wege da hinaufführen. Kianas Stein. Das Märchen vom silbernen Grab. Maiks Kindheitstrauma. Filis Tod.«
»Nein.« Leon sprach so klar und bestimmt, dass Nico zusammenzuckte. »Da oben ist nichts. Es ist ein uralter Gang, der nur zum Teil verfüllt worden ist und den man vor hundert Jahren mit einem Eisentor gesichert hat.«
»Offenbar nicht richtig. Sonst wäre Fili doch nicht dort gefunden worden?«
»Warst du da? Warst du wirklich mit ihr dort oben? In den Gängen?«
Nico seufzte. »Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich, ja. Aber dann habe ich wieder das Gefühl, dass ich mir alles nur zusammenreime. Schließlich hat man mich ganz woanders gefunden. Aber jeder hat doch eine Vorstellung davon im Kopf, wie so eine Höhle oder ein Stollen aussehen könnte. Wenn ich ihn mir noch mal ansehen könnte …«
»Die Gänge führten Hunderte von Metern in die Tiefe und in den Berg. Es ist ein Labyrinth. Es ist lebensgefährlich, dort hineinzugehen. Deshalb: Nein. Nein, du wirst nicht in den Stollen gehen.«
»Ich muss den Stein zurückbringen.«
»Du musst gar nichts. Oder willst du Kianas Haus jetzt auf einmal?«
Nico stand auf und umrundete das Bett, was in der Enge nicht einfach war. Vor allem wollte sie Leon nicht berühren. Nicht absichtlich, nicht unabsichtlich. Sie ging zum Fenster und schob den kurzen karierten Vorhang zur Seite. Sie sah hinunter auf einen fast leeren Parkplatz hinter dem Haus. Einige Schneehügel ließen vermuten, dass dort unten zwei Autos und ein paar Müllcontainer standen.
Das Haus. Schattengrund. Sie wusste jetzt, warum Kiana ihr diese Aufgaben gestellt hatte. Sie sollte sich erinnern und etwas verarbeiten, das zwölf Jahre lang ihre Seele verdunkelt hatte. Sie sollte Filis Geheimnis lüften und etwas wiedergutmachen. Es ging nicht um das Haus. Es ging um sie, Nico. Und um ein ungesühntes Verbrechen.
Eine Welle von Wärme und Liebe schwappte in ihr Herz, so plötzlich und ungestüm, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Es war der Moment der Erkenntnis, dass all dies geschah, um etwas zum Guten zu wenden, und dass der Grund dafür die Liebe zu dem kleinen Mädchen war, das sie, Nico, einmal gewesen war. Egal, was sie angestellt hatte, Kiana hatte sie nicht aufgegeben. Nicht, als sie noch lebte, und erst recht über den Tod hinaus.
Sie schloss die Augen und lehnte die Stirn an die kalte Scheibe.
»Es geht um mehr. Ich muss herausfinden, was mit Fili passiert ist.«
Sie konnte hören, dass Leon seinen Tee trank. Erstaunlich, dass jemand, der so gut kochen konnte, bei Tee so kläglich versagte.
»Was ist ihr denn passiert?« Er klang ungeduldig. So, als ob er Nicos Theorie jetzt als reines Hirngespinst abtun wollte. Vermutlich würde es ihr ähnlich gehen, wenn sie in seiner Situation wäre. Ein rätselhafter Todesfall in der Familie und der Verdacht, dass in diesem Haus vielleicht etwas Furchtbares geschehen war. Das wollte man nicht hören. Das schob man weg von sich.
Nico drehte sich um. »Sie ist missbraucht worden. Wahrscheinlich in ihrem Zimmer. Von jemandem, der Zugang dazu hatte. Und ich will wissen, wer das getan hat.«
»Verstehe.« Er schüttete den Rest seines Tees samt Beutel in den Papierkorb. »Du verdächtigst Zach. Natürlich. Er ist widerlich, brutal, versoffen und letzten Endes ein Vollidiot. Aber das heißt noch lange nicht, dass er seine eigene Tochter … Gott, ich kann es nicht aussprechen. Ich kann noch nicht mal daran denken! Weißt du eigentlich, was du da tust?«
»Ja. Ist es nicht merkwürdig, dass alle Leute so komisch auf mich reagiert haben? Als würden sie von mir erwarten, dass ich diese Fragen stelle und sie damit noch einmal zu Tode beleidige? Du bist doch genauso. Ihr seid hier alle eine einzige Familie. Jeder schützt jeden. Wenn es hart auf hart kommt, bist du auf einmal einer von hier.«
»Was wäre so schlimm daran?«, fragte er. Sie merkte, dass sie ihn wütend gemacht hatte.
»Es macht dich blind für das, was geschehen ist.«
»Was denn? Was ist passiert? Du hast doch nichts außer einer Kinderzeichnung und …« Er schnaubte verächtlich und deutete auf die Blätter. »… ein Märchen.«
Nico ging zum Bett und nahm die Blätter wieder hoch. Als sie weiterlas, klang ihre Stimme wütend, und ihr Ton bildete einen harten Kontrast zu den romantischen Worten, mit denen Kiana das Märchen aufgeschrieben hatte.
»Die Blumen blühten, wenn es vorüberging, und die Tannen neigten ihre Wipfel und wisperten: Schaut, da kommt die Prinzessin des Waldes. Doch nachts, wenn es träumte, erschien ihm das Bild von einem Prinzen, der ganz aus Silber war und in seiner Rüstung schlief. Er lag auf einem Block, getrieben aus reinstem Metall. Und ein Schwert, besetzt mit Edelsteinen, ruhte auf seiner Brust.«
Leon verschränkte trotzig die Arme über der Brust. Er legte die Füße auf die Bettkante und begann, auf seinem Stuhl unwillig vor- und zurückzuwippen. Es interessierte ihn nicht. Das war Kinderkram. Aber genau darin lag ein Schlüssel verborgen, den man nur finden konnte, wenn man wieder zu einem Kind wurde und die Dinge anders sah.
Nico setzte sich und las weiter. Mit großer Mühe versuchte sie, ihre Stimme sanfter klingen zu lassen. »Die Sehnsucht nach diesem Prinzen wuchs in seinem Herzen und wurde stärker von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht. Doch keiner, den es fragte, kannte ihn. Eines Tages ging das Mädchen auf eine Blumenwiese. Es war traurig, denn es fürchtete sich davor, dass der Prinz nur ein Traum war, der es genarrt hätte. Da kam eine Biene und summte in sein Ohr: Er liegt da oben im silbernen Grab. Ein Schmetterling tänzelte herbei und setzte sich auf die Hand des Mädchens, und er flüsterte: Nur alle zwölf Jahre öffnet sich die Tür. Und ein Rehkitz sprang herbei, scheu und zärtlich zugleich. Es wisperte: Wenn an diesem Tag ein Mädchen durch die Tür geht und ihn weckt, dann ist er erlöst. Er wird aufstehen und kämpfen für das Gute und Schöne. Keinen Schmerz wird es mehr geben, keine Tränen und kein Wehklagen, nur Freude und Lachen, und das silberne Grab wird zum Schloss des Lichts und der Freude, und Prinz und Prinzessin werden dort leben, glücklich bis ans Ende ihrer Tage.«
Sie schwieg. Leon starrte auf den Boden. Es war vielleicht nicht das schönste von Kianas Märchen, aber es war fatalerweise das, woran Kinder glaubten, wenn sie keinen anderen Ausweg sahen. Kinder glaubten an das Christkind. An die Zahnfee. Daran, dass am Ende alles gut ausging. Sie glaubten an den Retter. Zur Not auch an einen schlafenden Ritter in seinem silbernen Grab, der sie beschützen würde vor Tränen und Schmerz.
»Sehr schön«, kommentierte Leon. Es klang nach dem genauen Gegenteil. »Da oben liegt also ein silberner Ritter. Ich muss sagen, in unseren Bergen ist echt was los.«
Er schützte sich mit Ironie. Eine normale Reaktion auf etwas, das man nicht an sich heranlassen wollte.
»Dieses Märchen hat Fili in den Berg gelockt«, sagte Nico. »Das ist unsere Schuld. Das hat Kiana sich wohl selbst immer wieder vorwerfen müssen. Aber Fili hatte verdammt noch mal einen Grund wegzulaufen. Wir haben ihr vielleicht völlig unbeabsichtigt ein Ziel gegeben. Aber die Entscheidung, von Siebenlehen fortzugehen, hat sie alleine getroffen. Jemand sollte sie befreien. Erlösen. Das Böse beenden. Ich konnte das nicht. Ich war doch selbst noch viel zu klein.«
»Das ist mir zu viel Spekulation.«
»Aber das, was hier mit mir gemacht wird, beruht auf harten Fakten. Oder?« Sie merkte, dass er sie wütend machte. Seine ganze Art, diese Tragödie als einen schlechten Scherz abzutun, enttäuschte sie. Leon war bereit gewesen, ihrer Theorie zu folgen. Doch in dem Moment, in dem es nicht nur um Nico, sondern vielleicht auch um die Rolle seiner eigenen Familie ging, machte er dicht.
»Das ist was anderes.«
»Was anderes?« fragte sie. »Weißt du, was ich glaube? Du misst mit zweierlei Maß.«
Er stand auf und öffnete die Tür. Einen Moment lang glaubte Nico, er würde gehen. Erst dann begriff sie, dass er sie meinte. Sie sammelte die Blätter ein. Als sie an ihm vorbeiging, vermied er es, sie anzusehen.
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte er. »Tut mir leid.«
»Das glaubst du doch selber nicht.«
»Ich brauche Zeit, ja? Geht das? Vielleicht mal nachdenken, bevor man mit Verdächtigungen um sich schmeißt?«
»Meine Rede«, zischte sie. »Du weißt ja, wo du mich findest.«
Auf dem Weg hinunter in ihr Zimmer rechnete sie damit, dass er nach ihr rufen würde. Dass er sie zurückhalten würde oder ihr nachkäme, aber jede Stufe und jeder Schritt schienen sie weiter voneinander zu entfernen.