Zweiunddreißig

Es verging gut eine Viertelstunde, bis Leon wiederkam. Nico vertrieb sich die Zeit, indem sie um das Telefon herumschlich und in Versuchung kam, jemanden anzurufen, der sie mochte und weder umbringen noch zu klärenden Gesprächen zwingen wollte. Trixis Ausbruch im Keller hatte ihr zugesetzt. Am liebsten hätte sie den Schwarzen Hirschen auf der Stelle verlassen, aber sie wusste, dass sie sich Leons Vorwürfen stellen musste.

Ob sie ihm sagen sollte, dass sie die Gästebücher gefunden hatte? Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen, wie er sich ihr gegenüber verhalten würde. Sie saßen nicht mehr im gleichen Boot. Er hatte ihr geholfen, sie beschützt und ihr alle Türen geöffnet. Bis auf eine: die, die zu seiner Familie führte. Genau an dieser Stelle hatten sich ihre Wege getrennt. Das war bitter einzusehen. Aber es ließ sich nicht ändern. Blut war dicker als Wasser.

Als Leon endlich zurückkam, saß Nico an einem der Tische im Gastraum. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah ihm entgegen, als er den Raum durchquerte. Sie mochte es, wie er sich bewegte und dass er trotz der Ruhe, die er immer auszustrahlen schien, wach und aufmerksam war. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Freude daran, ihm zuzusehen, egal bei was. Beim Gehen, beim Sitzen, beim Holzhacken, beim Feuermachen. Beim Lebenretten. Etwas in ihr zog sich schmerzlich zusammen. Vielleicht war es das letzte Mal, dass sie ihm in der Vertrautheit eines dunklen Raumes begegnete. Er machte kein Licht, holte einfach nur einen zweiten Stuhl herunter und setzte sich ihr gegenüber.

»Du hast eine Grenze überschritten.«

Keine Wut, kein Vorwurf, nur kühle, klare Analyse. Sie schnitt wie ein Messer ins Herz.

»Trixi auch«, antwortete Nico. Ihre Stimme klang ruhig. Das erstaunte sie. Da zerbrach etwas in einem, da war die Seele bis ins Innerste erschüttert, und sie redete, als wäre der Vorfall im Keller eine Lappalie gewesen.

Leon beugte sich vor und legte die Unterarme auf seinen Knien ab. »Ich verstehe nicht, was gerade passiert.«

»Ich auch nicht.«

»Warum bist du in den Keller gegangen? Wegen der Gästebücher? Hättest du mich nicht fragen können?«

»Nein«, antwortete sie leise.

»Warum nicht? Weil ich Bedenkzeit brauche, bevor ich Menschen, die ich mein ganzes Leben lang kenne, mit ungeheuerlichen Vorwürfen belaste?«

»Davon redet doch keiner. Es geht um …«

»Um deinen Kopf. Um das, was du dir zusammenreimst. Du kommst hierher, kennst niemanden, fängst an, in längst vergessenen Geschichten herumzugraben, unterstellst Dinge, die ich noch nicht einmal meinem ärgsten Feind zutraue, greifst meine Leute an, klaust Schlüssel, brichst ein und bist auch noch beleidigt?«

»Trixi ist mit einem Gewehr auf mich losgegangen!«

»Das war unverzeihlich. Aber das, was du getan hast, auch.«

Nico stand auf. »Okay. Ich bitte hiermit ein letztes Mal um Entschuldigung. Damit wäre zwischen uns wohl alles geklärt.«

Sie drehte sich um und verfing sich in einem Stuhlbein. Mit lautem Getöse rutschte der ganze Aufbau vom Tisch. Nico versuchte, den Stühlen auszuweichen, aber es gelang ihr nicht. Es war, als ob die Möbel plötzlich lebendig geworden wären und sich ihr in den Weg stellten. Sie stolperte und wäre um ein Haar hingefallen, wenn Leon sie nicht festgehalten hätte.

»Ist es das?«, fragte er.

Sie spürte seinen Griff an ihrem Arm und wünschte sich, er würde nie mehr loslassen. Als er es tat, kam das so unvermittelt, dass sie beinahe ein zweites Mal das Gleichgewicht verloren hätte.

»Ist es das?«, wiederholte er.

»Was?« Ihr Hirn hatte das Denken ohne Rücksprache eingestellt.

»Alles geklärt zwischen uns?«

Sie ließ ihn stehen und marschierte zum Ausgang. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie erkannte überhaupt nichts mehr und lief direkt in den nächsten Tisch. Der Krach, mit dem die Tischbeine über den Boden schrammten, hätte Tote aufwecken können.

»Nico!«

Sie hastete los. Nur raus hier. Sie wollte nicht, dass er sah, wie ihr zumute war. Endlich hatte sie die Tür gefunden. Sie riss sie auf – aber Leon war schneller. Er schlug sie ihr vor der Nase wieder zu und stellte sich mit verschränkten Armen davor.

»Ich denke nicht«, sagte er.

Nico wusste nicht, was er meinte. Sie zog die Nase hoch. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fühlte sich so elend, dass es ihr egal war. Sollte er doch sehen, dass sie heulte. Sie war nicht aus Stein. Sie war kein blinder Racheengel. Sie wollte nur die Wahrheit wissen, weil sonst etwas Kaputtes in ihr nie wieder ganz werden würde.

»Ich denke, dass wir noch ein paar Dinge zur Sprache bringen sollten.«

»Lass mich in Ruhe.«

Wütend schob sie ihn zur Seite und stürmte hinaus. Sie wollte den Schwarzen Hirschen auf der Stelle verlassen. Mehr Vorwürfe konnte sie nicht ertragen. Nicht von ihm.

Er folgte ihr in den Flur.

»Pizza«, sagte er.

Nico glaubte, sie hätte sich verhört. Sie blieb stehen.

»Heiß. Knusprig. Saftig. Mit Käse extra.«

Das war der perfideste Trick, den er anwenden konnte.

»Margarita?«, lockte er. »Salami? Quattro stagioni

Es war so absurd, dass sie um ein Haar gelächelt hätte.

»Mit doppelt Käse?«, fragte sie das geriffelte Glas in der Haustür. Das gab ihr natürlich keine Antwort. Die kam von ihm.

»Kiloweise.«

Schattengrund
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