Neunundzwanzig

Wütend schleuderte Nico die Stiefel von den Füßen und warf sich auf ihr zerwühltes Bett. Leon glaubte ihr nicht. Er blockte ab. Seine Familie. Sein Dorf. Seine Leute. Es war doch alles sonnenklar. Wie konnte er da mit solchen Ausreden kommen? Es war bitter einzusehen, dass er auf der Seite derer stand, die an der Wahrheit kein Interesse hatten und auf keinen Fall etwas an ihrer Sicht der Dinge verändern wollten. Schuld an allem, was geschehen war, waren Nico und Kiana. Punkt.

Tränen schossen in ihre Augen, Tränen der Wut und der Enttäuschung. Sie konnte hören, wie jemand die Treppe herunterkam. Für einen heißen kurzen Moment der Hoffnung glaubte sie, Leon hätte es sich vielleicht noch anders überlegt. Aber die Schritte machten nicht Halt. Im Schwarzen Hirschen war sie genauso persona non grata wie in ganz Siebenlehen.

Die kleine Glocke am Kirchturm schlug acht. Nico erinnerte sich an die Bratwurst und dass sie nur ein magerer Ersatz für die versprochene Pizza gewesen war. Irgendwo in diesem Kaff gab es etwas zu essen. Vielleicht musste sie auch einfach mal unter Leute. Andere Gesichter sehen. Nicht alle hier hassten sie. Bei der Prozession hatte sie auch das eine oder andere aufmunternde Lächeln gesehen.

Sie faltete die Blätter zusammen und verstaute sie beim Anziehen in der Innentasche ihrer Jacke. Dann schlüpfte in ihre Stiefel, verließ ihr Zimmer und ließ den Schlüssel von außen stecken. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, auch nur eine Nacht unter dem Dach dieses Hauses zu verbringen.

Sie erreichte das Erdgeschoss und spähte in die dunkle Gaststube. Ihre Erwartung, Leon dort oder in der Küche zu sehen, wurde enttäuscht. Aus Zitas Zimmer drang die monotone Stimme des Fernsehnachrichtensprechers. Zachs und Trixis Räume mussten am Ende des abgewinkelten Flurs liegen – eine Ecke, in der sie bis jetzt noch nicht gewesen war und in die vorzudringen sie auch nicht die geringste Lust hatte.

Sie schlich weiter und da sah sie es. Das Telefonkabel steckte wieder in seiner Buchse im Flur. Hunger und die Sehnsucht nach einer vertrauten Stimme lieferten sich einen schweren Kampf in ihrer Brust. Der mächtigere Trieb gewann – sie betrat die Gaststube und schlich zum Tresen. Ihre Nervosität versuchte sie mit dem Gedanken an Zitas ausdrücklich erteiltes Gastrecht zu beruhigen. Trotzdem spürte sie, dass ihre Hand zitterte, als sie den Hörer abhob.

Valerie meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

»Ich bin’s«, flüsterte Nico. Sie hatte keine Lust, dass das ganze Haus ihr Telefonat mitbekam.

»Nico! Bin ich froh, dich zu hören. Wie geht es dir? Steckst du immer noch in der Wallachei?«

»Wir sind eingeschneit, ich komme hier nicht weg.«

»Oh, nicht gut. Wie weit bist du mit deinen Aufgaben?«

Nico atmete tief durch. »Sie sind schwieriger, als ich gedacht habe. Es ist kein witziger Zeitvertreib. Jedes einzelne für sich ist ein Rätsel, das mit etwas aus meiner Vergangenheit zu tun hat.«

»Krass. Was denn?«

Nico nahm das Telefon und verkroch sich wieder unter den Tresen. Sie begann mit den Spuren im Schnee und dem Beinahe-Überfall am Abend ihrer Ankunft und sie endete mit ihrem Fund in Filis Zimmer. Valerie hörte zu, unterbrach nur an einigen Stellen, wenn sie etwas nicht ganz verstanden hatte, und schien von Nicos Geschichte völlig in den Bann gezogen.

»Das ist ja der Hammer«, sagte sie, als Nico an dem Punkt angelangt war, an dem sie sich gerade befand: unter dem Tresen im Schankraum des Schwarzen Hirschen, ständig in der Angst, erwischt zu werden.

»Ich fass es nicht. Und dieser Leon hat dir so was von geholfen und macht jetzt die Biege?«

Nico schluckte. »Ja. Leider. In dem Moment, in dem es nicht um die anderen, sondern die eigene Combo geht, wird es wohl schwierig.«

»Überleg mal, du müsstest deinen eigenen Vater oder Patenonkel oder besten Freund verdächtigen … Das ist schon krass.«

»Ich weiß. Denkst du, mir gefällt das?«

»Was hast du denn in der Hand außer dieser Zeichnung?«

»Nichts«, musste Nico gestehen.

Valerie schwieg. »Das ist nicht viel«, sagte sie schließlich. »Damit machst du dir ehrlich gesagt wirklich keine Freunde.«

»Ja. Scheiße!«, zischte Nico. »Ich hab’s mir nicht ausgesucht! Kein Mensch will doch mit so was was zu tun haben. Es trifft ja auch immer nur die anderen. Da kann man so richtig den Moralischen geben und weiß natürlich genau, was man getan hätte! Aber was tut man, wenn es um Freunde oder die eigene Familie geht? Was? Fili war meine Freundin. Ich war zu klein, um zu checken, worum es ging. Fili hat es mir nicht gesagt, aber sie hat es gemalt. Sie wollte niemanden verpfeifen und ist lieber abgehauen als den Mund aufzumachen. Sie war sechs! Ein kleines Mädchen! Welches Schwein, welche Drecksau hat ihr das angetan?«

»Nicht nur ihr«, sagte Valerie schließlich. »Auch dir. Du und Kiana, ihr wart zwölf Jahre lang die perfekten Sündenböcke. Ohne es zu ahnen, hast du mit deinen Fragen schön in ein Wespennest gestochen.«

Nico lugte um die Ecke. Alles war dunkel und still.

»Hier ist ein Killer unterwegs«, flüsterte sie. »Er wollte mich vom ersten Moment an rausekeln aus Siebenlehen. Aber das hat nicht geklappt, weil wir von der Außenwelt abgeschnitten sind. Und er weiß, dass ich ihm näher komme.«

»Nico, um Himmels willen! Schließ dich in das Zimmer ein und verrammle alles, was geht! Mach keine Dummheiten!«

»Ich muss in diesen Stollen.«

»Ey, hör mir zu. Dein Leon ist ein Idiot. Aber mit einem hat er recht: Du wirst nicht in verlassene Minen spazieren. Hörst du? Morgen nimmst du den Bus nach Altenbrunn und zuckelst von dort aus gemütlich Richtung Heimat. Verstanden?«

»Ich will wissen, wer es getan hat. Es ist in diesem Haus geschehen.«

»Das war ein Hotel! Verstehst du, warum dieser Leon so sauer auf dich ist? Das kann jeder gewesen sein, der damals in Siebenlehen Urlaub gemacht hat. Wann ist Fili gestorben?«

»Am dritten Januar vor zwölf Jahren.«

»Na bitte. Weihnachtsferien. In vielen Bundesländern gehen die bis zum sechsten Januar. Die Bude wird voll gewesen sein. Nico, überleg doch mal. Du hast nichts in der Hand und stellst einfach so eine ganze Familie an den Pranger? Das geht nicht.«

»Die Gästebücher.«

»Was sagst du?«

»Die Gästebücher!« Nico krabbelte aus dem Versteck. Im Halbdunkel konnte sie kaum etwas erkennen. Woher hatte Leon den Generalschlüssel gezaubert? »Es muss noch Unterlagen geben, wer damals hier übernachtet hat. Irgendwo habe ich aufgeschnappt, dass die im Keller sind.«

»Was hast du vor?«

»Es gibt einen Schlüssel. Ich werde in den Keller gehen und nachsehen. Dann weiß ich, wer alles in dieser Zeit im Schwarzen Hirschen war.«

»Und dann?«

Nicos Finger ertasteten den Auszug einer Schublade. »Dann werde ich sie fragen. Einen nach dem anderen.«

»Das … Das ist hammergefährlich. Das weißt du. Lass es bleiben. Oder warte wenigstens, bis deine Eltern da sind.«

Nico öffnete die Luke. Korkenzieher, Würfelbecher, Kellnerbesteck, Blöcke, kaltes Metall, rund, schwer, Schlüssel. Schlüssel! »Meine Eltern?«

»Ja«, antwortete Valerie kleinlaut. »Deine Mutter ist schon auf dem Weg. Morgen will sie dich abholen, und ich fürchte, sie meint es ernst.«

»Prima.« Nico ließ den Schüssel in ihre Hosentasche gleiten. »Dann habe ich ja noch ein paar Stunden Zeit.«

Schattengrund
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