Zweiundvierzig

Leon glaubte, einen Schrei zu hören.

»Nico?« Er war schon ganz heiser vom Rufen. »Nico! Wo bist du?«

Er lauschte. Nichts. Wahrscheinlich war es ein Vogel, den das Unwetter aufgestört hatte. Am liebsten wäre er den Weg zur Kreuzung gerannt, doch er wusste, dass das ein Fehler wäre. Langsam und stetig, mit sicherem Tritt, so kam man ans Ziel. Nur Anfänger überschätzten sich und jagten los, um irgendwann völlig aus der Puste keinen einzigen Schritt mehr weiterzukönnen.

Offenbar waren Nico und Maik solche Anfänger, aber leider ziemlich gut trainierte. Leon spürte die wachsende Angst, dass er zu spät kommen würde. Zu spät für was, das wagte er sich nicht auszumalen. Nico und Maik alleine am Berg. Der sanftmütige Riese mit dem Kinderblick und seinem Hang zu Märchen, den Nico fatalerweise auch noch teilte. Wie schnell diese Märchen zum Albtraum werden konnten, hatten sie hier alle schon einmal erlebt. Zwölf Jahre war das her. Seit Nicos Auftauchen schien es, als wären die furchtbaren Ereignisse erst gestern passiert.

Jedes Wort, das er in seiner Wut gesagt hatte, tat ihm leid. Er hoffte inständig, noch eine Gelegenheit zu bekommen, um sich zu entschuldigen. Und dass Nico ihm verzeihen würde. Sie hatte ihn dazu gebracht, mit seinem Vater zu reden. Er war heilfroh, dass er dieser Konfrontation nicht ausgewichen war. Nicht auszudenken, wie er mit diesem Verdacht hätte leben sollen. Wie böses Gift hätte das alles zersetzt, woran Leon glaubte. Wie glücklich durfte er sich fühlen, dass sein Vater ihn verstanden hatte. Und dass er jeden einzelnen Vorwurf plausibel hatte widerlegen können.

Leon erreichte die Kreuzung und blieb einen Moment stehen, um zu verschnaufen. Was, wenn es anders gekommen wäre? Wenn sein Vater die Untat gestanden hätte? Wie ging man um mit einem solchen Frevel in der eigenen Familie? Löschte er alles aus, was bis dahin gegolten hatte – Liebe, Vertrauen, Achtung? Gab es überhaupt einen Ausweg aus einem solchen Abgrund von Schuld? Ja, dachte er. Es gibt ihn. Ich hätte ihm ins Gesicht geschlagen, aber dann hätte ich ihn in die Therapie geschleift. Es gab solche Einrichtungen, die Männern halfen, ihre Pädophilie als das zu erkennen, was sie war. Eine grausame Verirrung, die Kindern unermessliches Leid zufügt. Eine Krankheit der Psyche, die man behandeln konnte. Aber wer dem Trieb nachgab, beging ein Verbrechen. Dafür gab es keine Entschuldigung. Wer das merkte, an sich oder anderen, und die Augen verschloss aus Angst, dass alles in Scherben zersprang, wusste nicht, dass er schon längst in einem Scherbenhaufen saß.

Maik. War es doch Maik gewesen?

Was hatte sich damals abgespielt? Und Trixi? Vielleicht hatte sie etwas geahnt, aber ihre Angst, den wenigen Hinweisen nachzugehen, war zu groß gewesen. Was, wenn sie einen zahlungskräftigen Gast mit einem unbewiesenen Verdacht verprellt hätte? Was, wenn so etwas die Runde gemacht hätte? Sie hatte sich kaum um ihre Tochter gekümmert. Hatte es nicht an sich rangelassen, dass das Mädchen immer stiller und in sich gekehrter wurde? Dass es Angst hatte, allein zu sein. Nicht in seinem Zimmer bleiben wollte. Hatten nicht alle Kinder schwierige Phasen? Ihre einzige Lösung war, die Ursache zu leugnen und die Wirkung zu bekämpfen. Aber indem sie Fili eingeschlossen hatte, hatte sie dem Peiniger des kleinen Mädchens erst recht Tür und Tor geöffnet. Kianas Versuch, mit Filis Eltern zu reden, war mit einem Fiasko geendet. Fili war in der Ecke des überspannten Kindes gelandet, Kiana in der der üblen Nachrede.

Leon ging weiter. Mit langsamem, sicherem Tritt. Dabei schnitt der Schmerz wie mit einem Messer durch seine Eingeweide. Er versuchte, sich an die letzten Ferien zu erinnern, in denen Fili noch gelebt hatte. Fröhlich war sie gewesen. Leicht und zart wie eine Feder. Er war sich sicher, dass das Grauen damals noch nicht in ihr Zimmer geschlichen war. Oder dass es erst am Anfang gestanden hatte. Wie begann Missbrauch? Mit einem Kuss? Einer fast absichtslosen Berührung? Einem »Zeig mir doch mal, wie lieb du mich hast«? Einem »Fass mich doch mal an«? Er schüttelte sich.

Wenn ich ihn erwische, dachte er, ist er ein toter Mann.

Er war kaum anders als all die, die Kiana am liebsten geteert und gefedert aus dem Dorf gejagt hatten. Er war keinen Deut besser in seiner Wut. Aber was war die Alternative? Dass dieses Schwein unbehelligt weiterleben durfte, weil die Beweise fehlten?

Die Angst trieb ihn weiter und ließ ihn schneller werden. Nico hatte etwas gefunden und Maik wollte es ihr zeigen. Etwas, das den Schuldigen überführen würde. Aber warum stiegen sie dann mitten in der Nacht auf den Berg und wollten ins silberne Grab? Warum hatte das nicht Zeit?

Die Antwort gab er sich selbst. Weil Nico niemanden mehr hatte, der ihr glaubte. Sie stand mit dem Rücken an der Wand. Maik war ihre letzte Chance. Maik, der der Einzige war, der das silberne Grab wirklich kannte. Der tief im Labyrinth gewesen war. Der entweder etwas zeigen oder … etwas für immer verbergen wollte.

Undeutliche Spuren im Schnee, kaum noch zu erkennen im Licht der Taschenlampe. Im Wald wurde es besser. Leon sah die kleineren Abdrücke, die wohl zu Nico gehören mussten, und Maiks schwere, schleifende Stiefelabdrücke. Nach einer halben Stunde, die ihm vorkam wie eine Ewigkeit, erreichte er die Senke vor dem Bergrücken. Der Wind trieb die Wolken auseinander, und bevor er sie wieder übereinandertürmen konnte, fiel Leon etwas Merkwürdiges auf. Die ebene Fläche war übersät von … Hügeln. Sie erinnerten an winzig kleine, frisch aufgeworfene Gräber, vom Neuschnee gnädig bedeckt.

Er beleuchtete das Areal vor ihm, so gut es ging, aber es erklärte dieses Mysterium nicht. Überdimensionale Maulwurfshügel vielleicht. Aber das konnte nicht sein. Unter seinen Stiefeln knirschten Steine. In dieser Höhe und bei dieser Bodenbeschaffenheit konnten die Tiere nicht existieren. Ganz zu schweigen von den eisigen Temperaturen, die gerade jedes Gartenbeet in Permafrostboden verwandelt hatten.

Vorsichtig ging er auf den ersten Hügel zu. Fast sah es so aus, als ob sich etwas Dunkles bewegen würde. Er blinzelte. War das ein Winken? Eine schwarze, leblose Hand, mit der der Wind spielte? Dann bemerkte Leon die Blutspritzer rund um den kleinen Schneehügel. Es sah aus, als ob hier ein Tier geschlachtet worden wäre. Ein Opfertier. Dunkelrote Tropfen gefrorenes Blut, in weiten Kreisen um den Hügel, als ob ein durchgeknallter Maler seinen Pinsel ausgeschüttelt hätte. War das hier oben etwa eine Stätte dunkler Rituale? Die Winterhexen kamen Leon in den Sinn. Verwirrte Seelen, die die Nähe zum Blocksberg und dem Teufel suchten …

Schnee fiel in zarten Schleiern über die Hochebene. Noch ein, zwei Stunden, und die kleinen Hügel wären verschwunden. Ihm fiel auf, dass Nicos und Maiks Spuren bereits verweht waren. Die Zeit drängte. Er wollte nicht, dass er den Anschluss verpasste und und im silbernen Grab etwas geschah, das niemand wieder gutmachen konnte.

Ihm schien, als ob die seltsamen Hügel zu diesem grausigen Märchen dazugehörten. Sie waren wie Steine in einem riesigen Brettspiel, dessen Regeln noch keiner von ihnen erfasst hatte. Wie Bilder, die erst einen Sinn ergaben, wenn man alle gesehen hatte. Schau nach, was da liegt, dachte er trotz seiner Eile. Er ging auf eine der unnatürlichen Erhebungen zu und berührte sie mit dem Fuss. Sofort sprang er zurück. Das, was dort verborgen lag, musste etwas Lebendiges gewesen sein. Aus dem Schnee ragte ein schwarzer blutverkrusteter Flügel. Leon ging in die Knie und begann hektisch zu graben. Was er schließlich in den Händen hielt, verdichtete Angst und Übelkeit zum Schock. Es war eine Krähe. Gefroren und hart wie ein Stein. Und ihr fehlte der Kopf.

Schattengrund
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