Dreiundfünfzig

»Ist es was Ernstes?«

Stefanie stellte ein Tablett mit heißem Kakao und Nutellabrötchen auf die Bettdecke. Nico rieb sich die Augen, schnupperte und setzte sich auf. Sie musste geschlafen haben wie ein Stein. Minx, die am Fußende zusammengerollt gelegen hatte, erwachte ebenfalls und dehnte und streckte sich.

»Sein Vater hat mich eben von unterwegs aus angerufen. Er will sich vielleicht demnächst mal mit dir treffen.«

»Mit mir?« Nico war noch nicht wach. »Warum das denn?«

»Später. Jetzt iss erst mal was.« Stefanie legte ihr das Tablett auf den Schoß.

»Woher hast du denn die Brötchen?«

»Vom Bäcker.« Ihre Mutter trat an das winzig kleine Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Mattes Nachmittagslicht fiel hinein. »So eine nette Frau, die Verkäuferin! Sie hat sich nach dir erkundigt und lässt dich herzlich grüßen.«

Nico nutzte den Moment, in dem ihr der Mund offen stehen blieb, um die erste Hälfte des Brötchens hineinzuschieben.

»Heute Nachmittag liefert Krischek senior neuen Brennstoff – das haben die noch nie gemacht. Zumindest nicht für Schattengrund. Und der Pfarrer möchte dich besuchen. Ich hab ihn erst mal vertröstet. Ist dir das recht?«

Nico nickte mit vollem Mund. Stefanie kam zu ihr und setzte sich auf die Bettkante.

»Und dieser Leon … Ich habe gesehen, wie ihr euch verabschiedet habt. Es heißt, sein Vater übernimmt jetzt den Schwarzen Hirschen und kehrt mit der Familie zurück. Dann geht es hier wohl endlich wieder bergauf.«

Nico stopfte sich die zweite Hälfte in den Mund. Sie musste die Brötchen nutzen, solange sie sie vom Sprechen abhielten. Ihre Mutter beendete die Schonfrist mit der Frage, die Nico am meisten fürchtete, weil die Antwort schätzungsweise mehrere Stunden lang ausfallen würde.

»Was ist passiert?«

Nico kaute. Dann spülte sie alles mit einem halben Becher Kakao hinunter und beschloss, in die Offensive zu gehen.

»Das hätte ich gerne von dir gewusst. Du hattest all diese Jahre hinter meinem Rücken Kontakt zu Kiana. Ich habe die Briefe gelesen, die ihr euch geschrieben habt.«

Stefanie sah zu Boden. »Das habe ich befürchtet.«

»Ich weiß, dass ihr mich schützen wolltet. Aber das hat nicht funktioniert. Solange ich denken kann, hatte ich das Gefühl, dass keiner mich mag. Na ja, ihr mal ausgenommen. Und Valerie auch. Aber der ging es genauso. Wir waren zwei Außenseiter, die sich gefunden hatten. Sie, weil sie dick war und deshalb gemobbt wurde. Und ich? Wir haben oft darüber geredet, Valerie und ich. Ich wusste es nicht. Aber dann habe ich herausgefunden, was mit Fili passiert ist. Ich hatte jemanden im Stich gelassen. Ich habe ein Versprechen gebrochen und Fili ist gestorben. Wie kann man mich mögen, wenn ich so eine glatte Null bin? Ich habe mich selbst gehasst, ohne es zu wissen.«

»Nico, nein …« Stefanies Augen schimmerten feucht. »Genau davor wollten wir dich bewahren.«

»Es hat aber nicht funktioniert. Kiana wusste das. Ihr letzter Wunsch war nicht, dass ich Siebenlehen erbe. Sie wollte, dass ich mich noch einmal meiner Vergangenheit stelle. Der Besen aus ihrer Werkstatt – das waren die Winterhexen. Fili und ich. Wir haben damit gespielt und sind im Schnee ums Haus gejagt und haben herumgealbert und gesponnen.«

Stefanie streichelte über Nicos Bein, das unter der Decke lag. Sie lächelte unter Tränen.

»Der Turm und das Schwert – die Insignien der heiligen Barbara. Schutzpatronin der Bergleute und von Zach in Auftrag gegeben, die Figur nach dem Ebenbild seiner toten Tochter.«

»Oh mein Gott. Das ist ja schrecklich!«

»Es ist furchtbar. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Es ist Fili in Wachs. Ob er damit Buße tun wollte für das, was er seiner Tochter angetan hat?«

Stefanies Streicheln hörte auf. »Dann hatte Kiana recht?«

»Ja. Ihr fiel eine Zeichnung in ihrem Märchenbuch auf. Sie wollte mit Zach und Trixi darüber reden, aber sie wurde dafür an den Pranger gestellt. Keiner hat ihr geglaubt. Sie war die Nestbeschmutzerin. Und dann … Dann kam die letzte Aufgabe. Noch einmal zurück in den Stollen.«

Nico erzählte, was passiert war. Zwischendurch wechselte der Gesichtsausdruck ihrer Mutter zwischen Angst, Wut, Trauer und ohnmächtigem Zorn.

»Und mit dem Krähenkopf wollte Zach auch noch Maik die Schuld in die Schuhe schieben?«, fragte sie, sichtlich außer sich. »Das ist ja unfassbar!«

Sie stürzte sich ohne Rücksicht auf Nutellabrötchen, halb volle Kakaotassen und eine empörte Katze auf ihre Tochter und drückte sie an sich.

»Was du ausgestanden hast. Mein Gott! Ich hab’s geahnt. Ich habe zu Theo noch gesagt, da stimmt was nicht. Sie meldet sich nicht. Wenn sie in Siebenlehen ist … Alle haben dir die Schuld gegeben, Nico! Das war das Schlimmste! Was diese Leute meiner kleinen Tochter angetan haben!«

»Es ist vorbei.« Mühsam befreite sich Nico aus der Umklammerung. »Jetzt ist der ganze Kakao auf der Bettdecke.«

Anklagend wies sie auf die Bescherung. Aber Stefanie zuckte nur mit den Schultern. »Das bringe ich gleich in Ordnung. Und du steh auf und zieh dich an. Wir müssen zurück. Herr von Zanner wartet auf uns.«

»Wer … Ach so, der Notar. Was gibt es denn da noch zu besprechen? Schattengrund ist futsch. Wahrscheinlich geht es an den Tierschutzverein oder Minx erbt es jetzt.«

Stefanie stand auf. Ein rätselhaftes Lächeln umspielte ihren Mund.

»Wenn du darauf bestehst?«

»Ich? Was ist los?«

Ihre Mutter holte tief Luft. »Es gab da einen kleinen notariellen Fallstrick, über den uns Herr von Zanner erst im Nachhinein informiert hat. Gestern, um genau zu sein.

»Was für ein Fallstrick?«

»Die Frist zur Ablehnung eines Erbes beträgt sechs Wochen.«

»Ja. Und die sind seit Mitternacht um. Ich kann rechnen.«

»Vom Moment der Bekanntgabe des Erbes.«

Nico zog die Augenbrauen hoch. »Was hat das denn zu bedeuten?«

»Du hast erst beim Notar von deinem Erbe erfahren. Das war ein paar Tage, nachdem dein Vater und ich die Einladung erhalten haben. Du erinnerst dich? Und genau diese paar Tage sind es, die du jetzt noch hast. Du bist volljährig. Du kannst selbst entscheiden, ob du Kianas Erbe antreten willst oder nicht.«

Ungläubig starrte Nico ihre Mutter an.

»Na ja. Ich weiß nicht, ob das alles wirklich so hasenrein ist. Sagen wir mal, Herr von Zanner hat einzig und allein deine Entscheidungsfreiheit bewahren wollen. Oder, wenn man es wirklich genau hinterfragt, die von Kiana.«

»Was … Was sagt ihr denn?«

Stefanie zuckte mit den Schultern. »Theo ist immer noch strikt dagegen. Aber er weiß auch noch nicht, was in der Zwischenzeit passiert ist. Und ich? Ich würde sagen: Es ist allein deine Entscheidung.«

Nico atmete tief durch. »Dann will ich es.«

Stefanie breitete die Arme aus. Mit einem Jubelschrei sprang Nico aus dem Bett. »Schattengrund gehört mir? Wirklich mir?«

»Ja. Wenn du dich sofort anziehst und wir umgehend aufbrechen.«

Minx machte mit einem kläglichen Miauen darauf aufmerksam, dass es noch weitere ungeklärte Besitzverhältnisse gab.

»Darf sie mit? Ich … Ich hab es dir versprochen.«

Stefanie küsste Nico auf die Stirn. »Und du hast deine Versprechen immer gehalten, vergiss das nicht. Nie mehr.«

»Nie mehr«, flüsterte Nico. »Nie mehr.«

Schattengrund
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