Zweiundzwanzig

Auf Zehenspitzen schlich Nico zur Dachluke und klappte sie zu. Dann legte sie sich bäuchlings darauf und versuchte, durch die Ritzen nach unten ins Treppenhaus zu spähen. Schwere Schritte kamen in den Flur. Sie hielt die Luft an, um sich nicht zu verraten. Zweimal war der Unbekannte schon im Haus gewesen. Vielleicht versuchte er es gerade ein drittes Mal.

Ein Scharren hinter ihrem Rücken ließ sie zusammenfahren. Mit einem Miauen kam Minx herangesprungen. Die Katze schien ein untrügliches Gespür dafür zu haben, im denkbar ungünstigsten Moment aufzutauchen.

»Schschsch«, zischte Nico.

Minx schnurrte und begann, ihre Krallen am Holz der Luke zu wetzen. Nico wollte sie wegschieben, aber das Tier hing fest.

»Still!«

Sie schnappte Minx und drückte sie an sich. Das ließ die Katze erst recht nicht mit sich geschehen. Sie schlüpfte zwischen Nicos Armen durch und rannte in die Ecke. Dabei verursachte sie einen Heidenlärm. Nico spähte wieder durch die Ritze.

Die Schritte kamen die Treppe hinauf. Sie konnte eine Hand auf dem Geländerlauf erkennen. Hilflos sah sie sich um, aber hier oben gab es nichts, was sie als Waffe gebrauchen konnte. Sie schwor sich, in Zukunft keinen Schritt mehr ohne Messer zu tun. Sofern ich eine Zukunft habe, setzte sie in Gedanken hinzu.

Der Mann erreichte den kleinen Flur zwischen ihrem und Kianas Zimmer.

»Nico?«

Es war Leon. Vor lauter Freude wäre sie am liebsten aufgesprungen, aber ihr Haar hatte sich im aufgerissenen Holz verfangen. Hektisch zog und zerrte sie daran, aber es gelang ihr nicht, sich zu befreien.

»Nico?«

Sie wollte ihn gerade rufen, als sie sah, wie er in ihr Zimmer ging. Mit zusammengebissenen Zähnen löste sie Haar für Haar, bis sie endlich den Kopf heben und sich zur Seite rollen lassen konnte. Sie hob die Lukentür an und erstarrte.

Leon durchsuchte ihr Zimmer.

Sie ließ die Klappe bis auf einen schmalen Spalt zurücksinken. Er hob ihr Kissen, sah unters Bett und ging zum Schrank. Vor den geöffneten Türen blieb er stehen und ließ den Blick über ihre wenigen Habseligkeiten streifen. Er hob einen Pullover, ließ ihn wieder fallen und schaute sich unschlüssig um. Dann ging er hinüber in Kianas Zimmer. Auch dort blieb er nicht lange. Nico kam es so vor, als ob er gar nichts richtig suchte, sondern sich lediglich überzeugte, dass das, wonach er Ausschau hielt, nicht hier oben war.

Mit klopfendem Herzen wartete sie, bis er das Obergeschoss verließ und die Treppe hinunterstieg. Auch das noch. Waren Leon und der Unbekannte ein und dieselbe Person? Sie konnte und wollte das nicht glauben. Er hatte ihr das Leben gerettet. Er hatte das Haus gesichert und ihr Essen gebracht. Er hatte sie in den Arm genommen … Nicos Herz zog sich zusammen. Vielleicht war auch das eine Lüge gewesen und er hatte von Anfang an gewusst, wer sie war und was sie getan hatte.

Als sie hörte, dass er das Haus verließ und hinunter zur Straße ging, stand sie unsicher auf. Ihr war schwindelig. Vorsichtig kletterte sie die schmale Leiter hinunter. Minx folgte ihr wie ein Pfeil und brachte sie beinahe zum Stolpern. Die Katze flitzte weiter in die Küche und sandte Nico von dort auffordernde Klagelaute.

»Nachher!«, rief Nico.

Treppe und Flur waren voller feuchter Stiefelabdrücke. Nico lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Die Zweifel schossen in ihr Herz und krallten sich dort fest wie böse dunkle Vögel.

Nein. Sie durfte keine Paranoia bekommen. Leon war doch nicht nachts aufs Dach geklettert, hatte einen Vogel getötet – woher hätte er den überhaupt nehmen sollen? –, um dann eine Riesenshow abzuziehen und sie zu retten. Aber sein Verhalten war merkwürdig. Sehr merkwürdig. Aber das war egal – sie würde ihn nicht mehr danach fragen. Sie würde ihn nie mehr wiedersehen, und das war auch besser so.

Als Erstes schloss sie die Tür zweimal ab. Sie hatte das nach dem Besuch des Pfarrers vergessen. Kein Wunder, so aufgewühlt, wie sie gewesen war. Dann lehnte sie die Stirn an das kühle Holz und schloss die Augen. Eine Nacht, dachte sie. Eine Nacht noch, und ich bin weg und werde mir mein ganzes Leben wünschen, nie hier gewesen zu sein.

Sie ging ins Wohnzimmer und fand ihre Messenger-Bag neben, nicht auf dem Sofa. Die hatte er also auch noch durchwühlt. Mit einem Stöhnen ließ sie sich in die Polster fallen. Nichts, was hier geschah, ergab einen Sinn. Das musste Kiana doch gewusst oder wenigstens geahnt haben. Sie hatte Nico hergelockt, um sie mit ihrer Tat zu konfrontieren. Hatte sie das mit einer guten oder einer teuflischen Absicht getan? Einer guten. Es musste eine gute sein, für etwas gut sein. Anders konnte Nico es sich nicht erklären.

Sie rieb sich über die Stirn. Sie hatte Kopfschmerzen und wusste, dass das von dem vielen Weinen kam. Sie erinnerte sich an eine alte Keksdose, in der Kiana ihre Medikamente aufbewahrt hatte. Mit einem Stöhnen hievte sie sich hoch und ging in die Küche.

Minx, die das Auftauchen ihres Frauchens völlig fehlinterpretierte, führte eine Mischung aus ekstatischem Freudentanz und keifendem Geschrei auf. Resigniert tappte Nico in die Vorratskammer und kam mit einer Dose Rouladen zurück.

»Du kriegst Bauchweh«, warnte sie. Der Katze schien das egal zu sein. »Das ist viel zu salzig!«

Auch das schien Minx nicht zu irritieren. Mit Argusaugen beobachtete sie, wie Nico die Büchse öffnete und dieses Mal wesentlich mehr Haferflocken unter die Konservenmahlzeit mischte. Schließlich war sie fertig und das Tier stürzte sich rücksichtslos und ohne Umschweife auf sein Fressen.

Die Dose. Wo konnte Kiana sie versteckt haben? Sie suchte alle Regale und Schränke ab, fand sie aber nicht. Wahrscheinlich hatte sie dieselbe Person weggeworfen, die das Haus nach Kianas Tod aufgeräumt hatte. Sie ärgerte sich, dass sie den Pfarrer nicht danach gefragt hatte. Er wusste bestimmt, wer sich zuletzt um Kiana gekümmert hatte.

Oder vielleicht war die Dose im Keller gelandet? Sie stieg die Treppe hinunter. Es war dunkel und merkwürdigerweise irgendwie warm. In der Werkstatt setzte Nico sich auf einen Ballen zusammengerolltes Stroh. Es roch ein wenig nach Schimmel. Die Besen an der Decke bewegten sich ganz sacht, vermutlich vom Luftzug, als sie die Tür geöffnet hatte. Nico stellte sich vor, dass Kiana nur kurz den Raum verlassen hatte, um einen Kakao zu holen. Als Kind hatte sie wahrscheinlich hier unten gespielt. Sich hinter dem Stroh versteckt oder die neuen Besen ausprobiert, ob man auf ihnen auch gut reiten konnte. Bizarre Häuser aus Reisig gebaut. Den Schemel auf die Seite gelegt und sich daraus ein Puppenhaus mit Strohfiguren und Möbeln aus Holzsplittern gebastelt. Ein schräger Sonnenstrahl, wohl als letzter Gruß des Tages vom frühen Abendhimmel gesandt, gebrochen von staubigen Fenstern, tauchte den Raum für einen Augenblick in mattgoldenes Licht.

Es ist wie in einem Film, dachte Nico. Immer wieder kommen neue Bilder und Geschichten hinzu, hebt sich ein Vorhang hinter dem Vorhang. Was mich wohl noch alles erwarten würde, wenn ich länger Zeit hätte? Das Haus hütete seine Geheimnisse gut. Aber es offenbarte auch das eine oder andere, wenn man gar nicht damit rechnet.

Nach einer Weile kam Minx, schleckte sich das Maul und sprang schnurrend neben Nico auf den Reisig. Mit wachen Augen sah die Katze sich um. Ein Paradies für Jäger.

Die Werkbank stand in der Ecke. Seit Generationen hatte sie niemand mehr bewegt. Vermutlich hatte Kiana dort die Stiele zurechtgesägt und gehobelt. In Griffhöhe angebracht waren mehrere Eisenkisten mit Loch, aus denen die Enden von Hanfseilen hingen. Einige Stöcke lehnten an der Wand, daneben lagen Reisigbündel in genau der richtigen Größe. Es juckte Nico in den Fingern.

Sie ging zur Werkbank, nahm einen roh behandelten Stiel und eins der Bündel und suchte nach Werkzeug. Eine Gartenschere vielleicht, um das Bündel zu öffnen und dann zurechtzustutzen. Die Werkbank hatte links und rechts kleine Unterschränke mit Eisentüren. Sie öffnete die linke – Staub, Dreck und eine Maus kamen ihr entgegen. Augenblicklich richtete Minx die Nackenhaare auf und begann zu fauchen. Das Tier flitzte in Panik quer durch den Raum und verschwand in einer Ecke. Minx sprang hinterher und war wohl für eine Weile beschäftigt.

»Lass sie leben!«, rief Nico ihr nach.

Nico wandte sich dem rechten Unterschrank zu. Im oberen Fach lagen Schraubenzieher, Kneifzangen, Drahtscheren und weitere Werkzeuge. Sie wollte gerade nach dem passenden greifen, da sah sie die Kiste.

Sie war staubig und alt. Nico erinnerte sich, dass sie früher den Christbaumschmuck in solchen Kartons aus stabiler grauer Pappe aufbewahrt hatten, in denen die gläsernen Kostbarkeiten bruchsicher aufbewahrt wurden. Hatte Kiana nicht ein Räuchermännchen gehabt? Und ein paar von diesen Schwippbögen, die Nico wegen ihrer kunsthandwerklichen Attitüde eigentlich aufs Tiefste verachtete, die aber wunderbar in die Fenster von Schattengrund gepasst hätten?

Sie zog die Kiste heraus. Sie war schwer und der Deckel, haargenau angepasst, ließ sich nur mit Mühe heben. Doch Nicos Entdeckerfreude wurde enttäuscht. Briefe. Bündelweise … Briefe.

Sie nahm eines der Päckchen und drehte es um. Ihr Herz blieb fast stehen, als sie den Absender las. Stefanie und Theo Wagner. Fassungslos betrachtete sie die vertraute Handschrift ihrer Mutter. Adressiert waren die Schreiben allesamt an Kiana. Sie griff sich das nächste. Wieder von ihren Eltern. Sie wühlte weiter, bis sie ein Dutzend mit Hanfseilen verschnürte Pakete vor ihren Füßen liegen hatte. Sie begutachtete Briefmarken und Stempel. Zwölf Päckchen. Zwölf Jahre.

Minx kam zurück, übellaunig und gereizt. Die Maus war ihr wohl entwischt. Sie schnupperte kurz an den Päckchen, verlor aber sofort das Interesse.

Nico stopfte die Briefe zurück in den Karton und schleppte ihn nach oben ins Wohnzimmer. Sie kochte sich eine Kanne Tee, um gegen ihre Kopfschmerzen anzugehen, legte noch ein Brikett nach und sah kurz aus dem Fenster. Die Sonne, die eben noch einmal unter der Wolkendecke durchgelugt hatte, war hinter den Bergen verschwunden. Eine frühe Winter-Abenddämmerung senkte sich bereits auf Siebenlehen herab. In den Häusern gingen die Lichter an. Einige Tannenbäume in den Vorgärten waren mit Lichterketten geschmückt, in manchen Fenstern erkannte sie blinkende Sterne. Niemand war auf den Straßen unterwegs, alle hatten sich ins Warme zurückgezogen und feierten den ersten Advent.

Mit Wehmut dachte Nico an die Unmengen von Mürbeteigkeksen und Schokoladenplätzchen, die sie bereits gebacken hatten und die, luftdicht in Dosen verschlossen, auf ihren großen Moment warteten. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, nach dem stillen Frieden dieser Wochenenden vor Weihnachten. Und sie hätte sie gerne gefragt, wie zwölf Jahre Briefeschreiben mit »sie war schon immer etwas spinnert« zusammenpassten.

Seufzend machte sie es sich auf der Couch gemütlich. Das Küchenmesser lag in Reichweite, und als Minx sich zu ihren Füßen zusammengerollt hatte und der Tee in Nicos Becher danpfte, war sie bereit.

Sie begann mit dem ältesten Päckchen. Filis Todesjahr. Als sie die Kordel durchschnitt, zitterten ihre Hände vor Aufregung.

»Liebe Kiana,

wir glauben nicht, dass es gut ist, wenn Du Nico schon so bald besuchst. Sie ist sehr still und introvertiert. Auf Anraten der Ärzte ist sie noch eine Weile krankgeschrieben. Wir haben einen guten Kinderpsychologen gefunden, Dr. Erdmann, der versuchen wird, sie behutsam zum Reden zu bringen …«

Es folgten noch ein paar Zeilen über das Wetter. Nico holte den nächsten Brief aus dem Umschlag.

»… es ist noch keine Besserung eingetreten. Eher das Gegenteil. Nico schreit nachts und hat Albträume. Das passiert immer, wenn sie ein Gespräch mit Dr. Erdmann hatte. Wir sind verzweifelt …«

Mit einem Kloß im Hals nahm sie das nächste Schreiben.

»… nach Rücksprache mit der Schule haben wir sie abgemeldet. Sie wird nach den Sommerferien noch einmal eingeschult. Die Lücken sind einfach zu groß – sie hat über zwei Monate gefehlt, kann sich nicht konzentrieren und hat eine panische Angst davor, in geschlossenen Räumen zu sein …«

Die nächsten Briefe bezogen sich auf erste kleine Fortschritte. Doch der Ton verschärfte sich, sobald Stefanie auf die Bitte Kianas einging, Nico zu besuchen.

»… sie wird ruhiger und kann auch schon wieder unter Aufsicht auf den Spielplatz. Aber jedes Mal, wenn das Wort Siebenlehen fällt, verschließt sie sich. Sie will nicht darüber reden. Dr. Erdmann schlägt eine Therapie mit Medikamenten vor, aber wir sind damit überhaupt nicht einverstanden. Deinen Vorschlag, dich gemeinsam zu besuchen, müssen wir ablehnen. Wenn eine Erinnerung kommt, dann bestimmt eine ganz furchtbare. Nico weint immer noch oft ohne jeden Grund. Na ja, den Grund kennen wir ja …«

Kiana hatte versucht, Kontakt zu Nico aufzunehmen. Ihre Eltern hatten das unterbunden. Je mehr Nico las, desto besser konnte sie diese Entscheidung verstehen. Sie öffnete das nächste Päckchen und wurde gleich mit dem ersten Jahrestag von Filis Tod konfrontiert.

»… Du schreibst, dass sie Nico die Schuld geben. Das ist so unglaublich, uns fehlen die Worte. Einem Kind! Das außerdem bis heute schwer traumatisiert ist! Dem Filis Vater im Krankenhaus noch an die Gurgel gesprungen ist! Kiana, nie, niemals wird Nico Siebenlehen noch einmal betreten. Wir verstehen deine Argumente. Es ist schrecklich, was Du aushalten musst. Aber Nico hat schon genug durchgemacht ….«

»… sie ist jetzt seit vier Wochen in der neuen Klasse und hat immer noch keinen Anschluss gefunden. Gestern hatten wir ein Gespräch mit der Lehrerin. Wir haben lange überlegt, ob wir die Frau einweihen sollen, uns dann aber dagegen entschieden …«

»… sie ist die Einzige, die noch nie zu einem Kindergeburtstag eingeladen wurde. Wir haben ein wenig Angst vor dem sechsten Dezember. Was, wenn kein Kind Nicos Einladung annimmt? Theo hat schon überlegt, den Eltern Geld zu geben …«

»Ich fasse es nicht!«

Minx fuhr hoch und starrte ihr Frauchen verständnislos an.

»Sie wollten tatsächlich dafür bezahlen, dass jemand zu meinem Geburtstag kommt?«

Sie nahm den letzten Umschlag – eine Doppelkarte mit bunten glitzernden Christbaumkugeln.

»… wir wünschen Dir trotzdem ein schönes und besinnliches Weihnachtsfest. Wir werden verreisen. Theo übernimmt mehr und mehr die Aufgaben des Geschäftsführers in dem Reisebüro, sodass wir günstig in die Sonne fliegen können. Weihnachten und alles, was dazugehört, macht Nico traurig. Zu ihrem Geburtstag ist niemand gekommen …«

Sie ließ die Karte sinken. Konnte etwas nach so langer Zeit noch so wehtun? Nico wischte sich über die Augen, die feucht geworden waren. Sie sah sich vor dem Kuchen sitzen – sieben Kerzen, allesamt kleine Zwerge, und in der Mitte Schneewittchen. Sie hatte die kleine Figur herausgerissen und an die Wand geworfen. »Ich will das nicht! Ich will das nicht!«

Weil es an Schnee erinnerte und an eine erfrorene Prinzessin? Wie sehr musste sie ihre Eltern schockiert haben. Langsam begriff sie, was Filis Tod auch mit ihr angerichtet hatte. Zwölf Jahre lang hatte sie keine, überhaupt keine Erinnerungen mehr an diese Zeit gehabt. Doch die Briefe lösten Mitleid mit dem Mädchen aus, das sie einmal gewesen sein musste. Still, traurig und unbeliebt. Ein Kind, das niemand einladen wollte. Zu dem niemand kommen wollte. Das merkwürdig war und anders. Das mit niemandem darüber redete, was es so verändert hatte. Wie viele Jahre war das so gegangen? Die Grundschule war eine Katastrophe gewesen, das wusste sie noch. Auch die ersten Jahre auf dem Gymnasium waren die Hölle gewesen.

Heiße Dankbarkeit schoss in ihr Herz, als sie an Valerie dachte. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn ihre Freundin in diesen Minuten hätte bei ihr sein können.

Den nächsten und übernächsten Stapel überflog sie nur. Kurze Berichte: Nico lernte fleißig, Theo war gefragt worden, ob er das Reisebüro übernehmen wollte. Urlaubsreisen in den Wintermonaten, immer so lange und so weit weg wie möglich. Kianas Fragen nach einem Besuch wurden seltener und hörten ganz auf. Der Ton wurde distanzierter, Fremdheit begann, sich einzuschleichen.

»… nein, Nico fragt auch nicht nach Dir. Natürlich gratulieren wir Dir von Herzen zu Deinem siebzigsten Geburtstag. Aber wir werden nicht kommen, und Nico weiß auch nichts von diesem Datum, also sei bitte nicht enttäuscht …«

»… Nico hat mich letzte Woche zu Tode erschreckt, als sie fragte, wo der Harz eigentlich liegt. Sie hatten das in Heimatkunde, aber ich hatte natürlich Angst, dass sie sich erinnert …«

»… wir wissen, wie hart es für dich ist. Natürlich kommen wir am nächsten Wochenende. Nico ist auf Klassenfahrt, da können wir uns ein paar Tage davonstehlen …«

»Und heimlich besucht habt ihr sie auch! Hinter meinem Rücken! Ich fasse es nicht. Jetzt ist mir natürlich klar, warum Mammutsch wusste, dass das Taxi in Altenbrunn Schneeketten hat!« Minx stand auf und stakste mit steifen Beinen auf Nico zu. »Hätten Sie es mir nicht irgendwann sagen können? Ich bin doch kein Kind mehr!«

Wie zur Bestätigung miaute Minx. Es hätte aber auch ein erster kleiner Hungeralarm sein können.

»Du hattest doch grade was. Eine ganze Dose Rouladen.«

Beim Wort Rouladen begann Minx zu schnurren.

Nico nahm den letzten Stapel. Er war dünn, nur vier Briefe. Kiana musste schon alt und schwach gewesen sein, denn Stefanie erkundigte sich besorgt nach ihrem Gesundheitszustand. Noch einmal musste Kiana versucht haben, Nicos Mutter dazu zu überreden, ihre Tochter nach Siebenlehen zu lassen.

»… sie kennt Dich nicht mehr. Es tut weh, ich verstehe das, aber es ist besser so. Warum jetzt nach so langer Zeit die alten Wunden wieder aufreißen? Wir haben damals alles versucht, um ihr zu helfen. Es wurde erst besser, als wir die Dinge ruhen ließen und aufgehört haben, zu bohren und zu fragen. Sie hat es vergessen. Und, so bitter das für Dich sein mag – es ist besser so. Sie hat ihr Leben in den Griff bekommen. Sie hat eine beste Freundin. Als ich zum ersten Mal Mädchenlachen in unserer Wohnung gehört habe, bin ich in die Küche und habe geweint …«

Nico ließ das Blatt sinken.

»Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, murmelte sie. Minx rieb ihren Kopf an Nicos streichelnder Hand. »All die Jahre haben sie mir was vorgespielt. Um mich zu schützen. Und jetzt sitze ich hier und kriege es kübelweise auf den Kopf.«

Na ja, ich habe es ja so gewollt, setzte sie in Gedanken hinzu. Aber irgendwann musste doch mal Schluss sein mit den Heimlichkeiten. Einen letzten Brief hatte sie noch nicht gelesen. Sommer letzten Jahres, kurz vor Kianas Tod. War sie krank gewesen? Hatte sie Schmerzen gehabt? Sich alleine gefühlt? Bestimmt.

»Liebe Kiana, ich hoffe sehr, Dir geht es etwas besser. Vielleicht kann ich nächstes Wochenende kommen – Theo ist auf einer Reisemesse, und Nico will bei ihrer Freundin Valerie übernachten. Dann können wir auch in aller Ruhe noch einmal darüber reden. Ich habe Theo gegenüber angedeutet, was Du vorhast, und er ist mit mir einer Meinung: Das ist sehr großzügig, aber wir wollen mit Siebenlehen nichts mehr zu tun haben. Ja, ich kenne Deine Einwände und verstehe sie gut. Aber Nico macht nächstes Jahr das Abitur. Sie hat sich gefangen, ist eine gute Schülerin, hat Freunde gefunden und will studieren. Wir wollen sie nicht noch einmal mit ihrem Trauma konfrontieren und das wäre die Überschreibung von Schattengrund bestimmt. Es würde sie an all das Schreckliche erinnern, das sie dort erlebt hat – und damit meine ich nicht die Zeit bei Dir, das weißt Du.

Es wundert uns bis heute, wie Du es dort ausgehalten hast. Wahrscheinlich, weil Du einer dieser Menschen bist, die ihre Wurzeln in der Erde haben. Wir haben sie in der Familie. Bitte verzeih uns, dass wir Deine Hand immer wieder ausgeschlagen haben. Wir wollten Nico schützen und sind überzeugt, dass es uns gelungen ist. Du siehst das anders, aber Du kennst sie nicht. Sie ist eine wunderbare junge Frau geworden, und wir sind felsenfest überzeugt, dass das auch daran liegt, dass sie sich an nichts mehr erinnert …«

Also hatte Kiana bis kurz vor ihrem Tod noch mit Stefanie über Schattengrund gesprochen. Nico fühlte sich abgrundtief hintergangen. Aber richtig böse sein konnte sie ihren Eltern nicht. Aus den Briefen sprach tiefe Sorge. Sie hatten sich für das Verschweigen entschieden und diesen Weg durchgehalten, komme, was wolle. Am liebsten wäre ihnen wohl noch gewesen, wenn der Notartermin gar nicht stattgefunden hätte.

Und Kianas Wunsch? War er wirklich so abwegig? Sie musste der Meinung gewesen sein, dass nur die Erinnerung alte Wunden heilen konnte. Vielleicht hatte Nico die Narben dieser Verletzungen nicht mehr gespürt, weil sie sich an sie gewöhnt hatte. Und an dieses Gefühl, immer außen vor zu bleiben, an die Schüchternheit, die Angst, nicht angenommen zu werden. Zu versagen. In sie gesetzte Erwartungen zu enttäuschen. Erst durch Valerie hatte sich etwas geändert.

Und jetzt durch Schattengrund. Nico stand auf und sah aus dem Fenster hinaus auf das Bilderbuchdorf, über das sich die Nacht gesenkt hatte und hinter dessen Mauern so viel Schmerz und Trauer verborgen waren. In der kurzen Zeit, die sie hier war, hatte sie bereits eine erstaunliche Veränderung mitgemacht. Sie war mutiger geworden. Sie hatte sich offener Ablehnung gestellt und war nicht weggelaufen.

Gut, dachte Nico. Das ist im Moment auch gar nicht möglich. Und was es heißt, für den Tod von Fili verantwortlich zu sein, werde ich wohl noch herausfinden müssen. Zwölf Jahre hat Kiana das für mich getan. Jetzt bin ich an der Reihe.

Sie hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Sie wollte Kiana irgendwie nahe sein. Wo war sie eigentlich begraben? Doch bestimmt auf dem Friedhof von Siebenlehen. Am liebsten hätte sie dem Grab gleich einen Besuch gemacht. Ihr Blick blieb an der altmodischen Pendeluhr hängen, die neben der Tür an der Wand hing. Sie war erstaunlicherweise genau um Mitternacht stehengeblieben.

Doch das Pendel bewegte sich, schwang hin und her. War es schon so spät? Ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte ihr, dass sie Stunden über den Briefen gesessen haben musste. Der Raum war kühl, und ihr war nur deshalb so warm, weil ihre Stirn glühte und der Hals kratzte. Sie wurde doch hoffentlich nicht krank? Bei ihrem Glück dürfte es in Siebenlehen noch nicht einmal einen Arzt geben. Sie suchte ihren Schal, aber sie fand ihn nicht.

Mit schmerzenden Gliedern räumte sie die Briefe in die Kiste zurück. Den kalten Tee nahm sie mit nach oben. Vorher kontrollierte sie noch beide Türen und die Fenster. Genauso, wie Leon es ihr gezeigt hatte.

Schattengrund
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