Über die Gier nach Mehr

Die Entscheidung, zu essen oder nicht zu essen, treffen Mensch und Tier im Kopf. Essen ist ein sogenanntes Primärbedürfnis, genau wie Atmen, Trinken, Schlaf und Fortpflanzung. Bei der Nahrungsaufnahme belohnt das Gehirn mit guten Gefühlen. Nucleus accumbens heißt dieses Belohnungszentrum des Gehirns. Das Belohnungszentrum schüttet den Botenstoff Dopamin aus und das macht zufrieden. Das Belohnungszentrum springt immer dann an, wenn etwas passiert, das gut für das Lebewesen und seine Fortpflanzung ist.

Die Wissenschaftler können heute beim Menschen im Magnetresonanztomographen zugucken, wie das Belohnungszentrum aktiviert wird. Beim Essen erhöht sich die Aktivität des Belohnungszentrums je nach Nahrungsmittel um etwa 50 Prozent, beim Sex um 100 Prozent. Im ARD-Ernährungscheck machte Tim Mälzer einen Selbstversuch: Er aß 500 Gramm Sahnejoghurt und wurde anschließend im Magnetresonanztomographen untersucht. Man konnte sehen, dass durch die fettreiche Nahrung das Belohnungszentrum in seinem Gehirn aktiviert worden war. Beim Verzehr von Magerjoghurt reagiert das Belohnungszentrum nicht. Der menschliche Körper kann einen fetthaltigen Joghurt von der Magervariante unterscheiden. Spätestens die Sensoren des Darmhirns analysieren die Bestandteile der Nahrung. Weil Magerjoghurt nach dem Verzehr nicht zufrieden macht, ist eine fettarme Diät folglich schwer durchzuhalten.

US-Forscher haben im Jahr 2010 genau wie Anthony Scriffano Ratten mit Fast Food gefüttert, diesmal kam das Futter aus der Cafeteria der Universität. Sie wollten herausfinden, ob diese Nahrung die Aktivität des Belohnungszentrums beeinflusst und verändert. Für die Ratten standen Pommes Frites, Würstchen, Kuchen, Schokolade und Nudeln auf dem reich gedeckten Speiseplan. Es gab also Industrienahrung mit Zucker, Fett, Glutamat, Aromen und all dem, womit Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Die Ratten nahmen an Gewicht zu, genau wie die Tiere von Anthony Scriffano, der das Futter für seine Versuchsratten im Supermarkt eingekauft hatte.

Man kann bei der Ratte messen, wie stark das Belohnungszentrum des Gehirns stimuliert werden muss, damit es anspringt. Dafür kommt die Ratte in einen Käfig mit einem speziellen Knopf. Drückt sie selbst den Knopf, so wird ihr Belohnungszentrum über einen ganz feinen Draht im Kopf aktiviert. Jetzt prüft man, wieviel Strom man auf den Draht geben muss, damit die Ratte sich für den Knopf interessiert. Sobald der eingestellte Strom das Belohnungszentrum aktiviert, drückt die Ratte den Knopf immer und immer wieder, da diese Aktivierung sehr angenehm ist. Die Ratte würde dabei sogar verdursten und verhungern, wenn man ihr den Knopf nicht weg nimmt. Mit dieser Methode kann man genau messen, wie empfindlich das Belohnungszentrum des Tieres reagiert.

Die Forscher fanden heraus, dass das Cafeteria-Essen das Belohnungszentrum der Ratte abstumpfen lässt. Bei normalem Rattenfutter braucht man weniger Strom, bis die Ratte den Knopf zu drücken beginnt, als nach einer mehrwöchigen Fütterung mit Cafeteria-Essen. Der entstehende Teufelskreis ist fatal: Das Tier frisst Fast Food, sein Belohnungszentrum stumpft ab. So braucht es anschließend mehr Nahrung, um zufrieden zu sein, folglich stumpft das Zentrum weiter ab. Dieses Prinzip führt die Ratte geradewegs in die Fettleibigkeit.

Der frustrierendste Punkt der Studie: Bei den Cafeteria-Ratten blieb das Belohnungszentrum auch nach vier Wochen bei normalem Rattenfutter, sozusagen auf Diät nach den Schlemmerwochen, unempfindlich. Da das Experiment nach 40 Tagen beendet wurde, weiß man nicht, ob sich das Belohnungssystem wieder regeneriert hätte und wann dies passiert wäre.

1) Viel Cafeteria-Essen lässt das Belohnungszentrum abstumpfen, die Ratte muss mehr essen, um zufrieden zu sein. Ein Teufelskreis kommt in Gang.

2) Es dauert lange, bis das Gehirn wieder weiß, dass auch kleinere Portionen eine Belohnung sein können. Wie lang genau, kann man gegenwärtig nur vermuten.

3) Der Effekt auf das Belohnungszentrum könnte auch andere Bereiche des Lebens beeinträchtigen, z.B. das Lernen. Das Belohnungssystem wird für viele Prozesse benötigt.

Man untersuchte mit der gleichen Methode drogen- und alkoholabhängige Ratten. Auch hier stumpfte die Aktivität des Belohnungszentrums durch die Droge zunächst ab. Bei Drogenmissbrauch regenerierte sich das Belohnungszentrum schon nach wenigen Tagen, es zeigte dann wieder die gleiche Empfindlichkeit wie vor Beginn des Experiments. Nach Drogen regeneriert sich die Empfindlichkeit des Belohnungszentrums schneller als nach übermäßigem Essen! Die gesteigerte Nahrungsaufnahme durch das schmackhafte Cafeteria-Essen hinterließ langfristige Spuren im Belohnungszentrum der Ratten. Dazu waren weder Alkohol noch Kokain in der Lage. Bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit ist es für einen Menschen natürlich schwierig, von der Droge loszukommen. Aber beim Essen aber gibt es noch eine zusätzliche Dimension: Es treten offenbar physische Veränderungen im Gehirn auf, die nicht in wenigen Wochen rückgängig zu machen sind.

Das Experiment liefert einen Hinweis, warum dicke Menschen mit kleinen Portionen Nahrung nicht zufrieden sind, sobald sie einmal in dem Teufelskreis des Übergewichts gefangen sind. Das Gehirn hat sich verändert, die Umstellung auf schmale Kost fällt dem Menschen schwer, der Jojo-Effekt ist ein häufig beobachtetes Phänomen.