Eine Kunstwelt

Wenige Lebensmittelkonzerne beherrschen den Markt. Die Industrie möchte Gewinne machen. Dazu müssen möglichst viele Kunden die Produkte kaufen und essen. Früher wurden 50% des Einkommens in Lebensmittel investiert, heute sind es nur noch 10%. Die Bevölkerung wächst nicht mehr, also wird es immer schwieriger, den Umsatz zu steigern. Die Rohstoffe müssen möglichst billig sein, deshalb werden in der Produktion maßgeschneiderte Vorprodukte eingesetzt, die von hochspezialisierten Zulieferern eingekauft werden. Es gibt Spezialisten für Aromastoffe, für Gelier- und Verdickungsmittel, für Konservierungsstoffe und für Farbstoffe. Die Zulieferer stellen Vorprodukte her, die technische Meisterwerke sind. Es werden spezielle Hefen gezüchtet, die besonders viel Glutamat produzieren. Diese werden so verarbeitet, so dass das entstehende Spezialprodukt genau die richtigen Eigenschaften hat. Diese Produkte werden teilweise maßgeschneidert, die Zulieferer arbeiten oft mit ihren Kunden zusammen, um ein spezielles lebensmitteltechnisches Problem zu lösen. Die Zulieferer wiederum haben weitere spezialisierte Zulieferer, darunter zahlreiche Unternehmen der Chemie.

Wir leben heute in einer konstruierten Lebensmittel-Traumwelt. Chemie und Technik in der Realität, Werbewelten suggerieren Natur, Tradition, Ursprünglichkeit und Gesundheit. Die Natur wird von der Lebensmittelindustrie durch eine kostengünstige Naturillusion ersetzt. In Unternehmen der Lebensmittelbranche geht es zu wie auf der Intensivstation des Krankenhauses. Alle an der Produktion beteiligten Personen sind mit Schutzkleidung und Häubchen bekleidet, Lebensmittel werden mit Handschuhen angefasst. Die italienische Mama, die auf der Nudelsaucenverpackung in den Töpfen rührt, die gibt es nicht, genau wie die Kühe, die auf der taufrischen Bergwiese grasen. Die heutige Hochleistungsmilchkuh würde bei reiner Grasnahrung elend verhungern. Sie braucht energiehaltige Spezialnahrung, um zu überleben. Trotzdem tut die Industrie alles dafür, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Auf Verpackungen wird mit Begriffen wie „Heimat“, „aus der Region“, „traditionell“ oder „nach Hausfrauenart“ suggeriert, es handele sich um etwas Ursprüngliches. Manchmal kommen für die Industrie unangenehme Wahrheiten zum Vorschein, dann sind die Konsumenten verunsichert. Vertrauen wurde schon oft verspielt, Verbraucher sind für die Methoden der Branche sehr sensibel geworden.

Wir werden von der Lebensmittelindustrie mit Lebensmitteln gleichbleibender Qualität versorgt, die in aller Regel hygienisch einwandfrei sind. Verdorbenes Essen und fehlende Hygiene war in der menschlichen Vergangenheit neben der fehlenden medizinischen Versorgung ein wichtiger Grund für die verkürzte Lebenserwartung der Menschen. Die Industrie geht heute jedoch weiter: Die Lebensmittel werden in jeder Hinsicht optimiert, Hersteller gestalten das perfekte Kundenerlebnis. Man optimiert sogar den Klang der Lebensmittel. Die Schokolade splittert mit einem knackig-krachenden Ton vom Eis, wenn wir hineinbeißen. Chips müssen im Mund perfekt knuspern und dürfen uns dabei trotzdem nur wenig Widerstand beim Kauen bieten, damit wir weiteressen.

Der Mensch ist auf diese Kunstwelt nicht vorbereitet. Ein Tier entscheidet anhand seiner Sinne, ob es etwas isst oder nicht. Der Mensch betrachtet die Verpackung und wägt beim Entscheiden die Informationen der Medien, der Ernährungsberater und die unbewusst abgespeicherten Werbebotschaften ab.