Jahr Zwei, 01. Oktober. Morgen I

»Sie sind unterwegs hierher!«

Eckhardt stürzte in Alvs Küche, wo die Familie zum Frühstück versammelt war.

»Ich hatte Kontakt zu Wissarion. Die Helis sind vor einer guten halben Stunde südlich von Paris gestartet. In gut zwei Stunden dürften sie hier eintreffen.«

Alv sah ihn ernst an und klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Dann ist noch Zeit für einen guten Kaffee, mein Freund. Setz dich.«

»Findest du das witzig? Die sind im Anflug.«

Eckhardt wirkte äußerst besorgt. Alv hingegen gab sich seltsam gelassen.

»Richtig. Der Feind ist im Anflug. Aber er fliegt nicht mit F22, sondern mit Helikoptern. Heute ist ein wichtiger Tag. Ein wichtiger Tag für uns alle. Umso wichtiger ist es, ihn nicht gehetzt zu beginnen, sondern besonnen und in Ruhe.«

»Amen«, konterte Eckhardt spitzbübisch, »aber nun mal im Ernst. Wir müssen die Vorbereitungen einleiten.«

»Nein. Wir müssen erst in Ruhe frühstücken. Rhea, reichst du mir bitte den Honig?«

Eckhardt schüttelte den Kopf.

»Du bist ein echter Dickschädel, Alv Bulvey!«

»Aber natürlich«, antwortete der, »das habe ich mir alles bei dir abgeschaut. Und du, mein Lieblingsdickschädel, setzt dich jetzt hier hin und trinkst Kaffee.«

Eckhardt zuckte mit den Schultern und setzte sich, Cara stellte ihm einen Becher Kaffee hin, den er sofort bis zum Rand mit Milchpulver und Zucker füllte.

Alv schlürfte seinen heißen Tee, Eckhardt nippte am Kaffee und bestrich sich eine dicke Scheibe vom frisch gebackenen Brot mit Teewurst aus der Dose. Alv sprach weiter.

»Nach dem Frühstück bringen die Mädels die Kinder in den Schutzraum und werden dort mit ihnen Unterricht machen. Anita und Gertrud bleiben als Wache mit unten. Wir besetzen die Posten in einer Stunde, dann machen wir beide noch einmal einen letzten Rundgang und besetzen mit Gernot und Wolfgang unsere Zentrale. Ist das Radar des Leclerc-Panzers einsatzbereit?«

Eckhardt nickte, angestrengt sein Brot kauend. Mit vollem Mund nuschelte er:

»Wir können es zumindest nutzen, um im Nahbereich den Anflug der Helis mitzuverfolgen. Aber das Radar macht den Tank natürlich zum einfachen Ziel. Wir können wohl davon ausgehen, dass der Verräter dem Marschall alles gesteckt hat, was er wusste. Also weiß Gärtner auch, dass da unten die Flugabwehrpanzer stehen. Die werden sicherlich zuerst angegriffen, sie sind die größte Bedrohung für die Helikopter.«

»Okay, dann lass uns nach dem Frühstück loslegen. Heute ist ein guter Tag zum Sterben.«

Eine knappe Stunde später kam Bewegung ins Dorf. Die insgesamt neunzehn Kinder des Dorfes wurden von Anita, Gertrud und den vier Bulvey-Töchtern in die tiefste Höhle unter dem Felssockel gebracht. Diese lag fast einhundert Meter unter dem Plateau und wurde durch ein unübersichtliches Labyrinth geschützt.

Hier gab es Proviant und Waffen, ausreichend Luft, und durch kräftige Akkus wurde die Beleuchtung gespeist. Die Bewohner hatten zwei große Tische aufgestellt, ebenso Sitzmöbel, eine provisorische Kochnische und einige Regale mit Büchern, Unterrichtsmaterial und Spielzeug. In einer angrenzenden Höhle standen Feldbetten.

Hier unten war es ziemlich kühl, aber für alle Kinder gab es ausreichend Decken und dicke Pullover. Sie würden mindestens bis Mittag hier unten bleiben, im Erfolgsfall.

Wenn es den Verteidigern nicht gelang, die Angreifer zurückzuschlagen, dann sollten die Frauen mit den Kindern hier unten ausharren, bis oben die Luft rein wäre. Jeder im Dorf hoffte, dass der Aufenthalt in der Höhle nicht allzu lange dauerte.

Alv brachte die Kinder mit nach unten. Als sie in der Kaverne ankamen, fragte Arnie, sein Jüngster:

»Papa, werdet ihr die Soldaten vom Marschall besiegen können?«

»Ich hoffe es, mein Sohn.«

»Und wenn nicht?«

»Dann möchte ich, dass ihr beiden Jungs genau das tut, was eure Schwestern euch sagen.«

»Aber ich will nicht, dass du stirbst. Ich will, dass wir alle zusammen im Dorf wohnen und dass es uns gut geht.«

Alv drückte den für sein Alter etwas zu kleinen Jungen fest an sich.

»Das will ich auch.«

Angus kam dazu und Alv drückte auch ihn fest.

»Mein Großer. Wenn mir heute etwas passiert, dann möchte ich, dass du auf deinen Bruder aufpasst.«

»Mach ich doch sowieso schon, Papa.«

»Ja. Aber dann musst du noch besser auf ihn achtgeben. Versprichst du mir das?«

»Klar, versprochen.«

»Ich habe euch beide sehr lieb. Und jetzt los, der Unterricht fängt gleich an.«

Er küsste die beiden Jungs auf die Stirn und schickte sie zu Anita und Gertrud, die mit den anderen Kindern bereits das improvisierte Klassenzimmer zurechtmachten. Alv ging zum Eingang der Kammer, wo seine bewaffneten Töchter standen.

»Mädels, wenn es nicht unsere Leute sind, die hier herunterkommen, dann tut alles, um eure Brüder und die anderen Kinder zu beschützen. Heute ist für uns ein wichtiger Tag. Wenn es uns gelingt, uns zu behaupten, dann haben wir eine gute Chance, hier in Zukunft in Ruhe und Frieden leben zu können. Bis auf die Zeds, die hier herumschleichen, wird uns dann niemand mehr angreifen.«

Feline antwortete ihm.

»Dad, wir haben viel bei dir und unserem komischen Onkel gelernt. Wenn diese Typen hier hereinkommen – bis zur letzten Patrone. Versprochen.«

Alv sah die vier bildhübschen jungen Frauen, die seine Töchter waren, an. Er wollte sich ihr Bild einprägen, nie vergessen, wer sie waren. Seine Töchter.

»Ich möchte, dass ihr wisst«, setzte er etwas behäbig an, »welche Freude und welche Ehre es für mich stets war, euer Vater sein zu dürfen. Ich habe euch lieb. Sehr sogar.«

Er drückte jede von ihnen herzlich, und er merkte, wie es in seinen Augenwinkeln feucht wurde. Feline knuffte ihn in die Seite und meinte:

»Zeig’s ihnen, Dad.«

Alv nickte und machte sich auf den Weg nach oben. Hinter ihm schloss sich das schwere Eisentor, dass Ralle hier unten als letzte Bastion eingesetzt hatte. Seine Jungs waren alt genug und würden oben ihrem Vater zur Seite stehen.

Als Alv oben ankam, tarnte er mit Holger den Eingang zum Höhlensystem und brachte einige Sprengfallen im Zugangsbereich an. Dann ging er gemeinsam mit Eckhardt die letzte Runde vor der Schlacht.

Das Dorf wirkte so still, so friedlich, an diesem lauen Herbsttag. Die Eichenblätter in den umliegenden Wäldern begannen langsam, sich zu verfärben, und eine sonderbare, fast mystische Stille legte sich über das kleine Örtchen.

Noch immer kam Alv die Abwesenheit von Vogelgezwitscher seltsam vor. Etwas fehlte dadurch, etwas, das früher eine romantische Szene abgerundet hatte.

Er sog die laue, mediterrane Luft in seine Lungen und blickte über den Nordhang hinunter ins Tal, wo eine mäßig kräftige Herbstsonne versuchte, die nebligen Schleier zu lüften, welche die Nacht wie ein Bahrtuch über die Haine dort unten ausgebreitet hatte.

»Das ist jetzt unsere Heimat, die wir zu verteidigen haben«, sagte er schwermütig zu Eckhardt, der rauchend neben ihm stand, so als wolle er dem Frühnebel zurückgeben, was die Sonne ihm nahm.

»Was machen wir, wenn der Russe Erfolg hat und Gärtner stürzen kann? Gehen wir zurück?«

»Ich weiß nicht, was du machst, Eckhardt. Aber ich werde, wenn ich morgen noch am Leben bin, meine letzten Tage hier verbringen. Ich gehe nicht wieder zurück. Die Stecklinge meiner Obstbäume, die im Norden erfroren sind, leben hier auf neuen Bäumen, jedes meiner Kinder hat seinen Baum jetzt hier. Und ich habe ebenfalls hier Wurzeln geschlagen. Nein, mein Lieber. Ich werde von hier nie wieder fort gehen, das ist meine Heimat.«

Eckhardt sah ihn grinsend an. »Dann werden wir beide wohl in zehn Jahren als grantelnde Rentner auf der Bank vor deinem Haus sitzen und uns von den Enkelkindern ärgern lassen.«

Alv nickte langsam.

»So Gott will, wird es so sein, mein Freund. Aber jetzt: Lass uns in den Krieg ziehen.«