Jahr Zwei, 28. September. Später Abend IV

»Es geht um Thorsten.«

Alvs Tochter Rhea wirkte ziemlich aufgewühlt und war etwas außer Atem. Ihr Vater rückte einen Stuhl vom Tisch ab.

»Setz dich erst einmal, mein Kind. Katharina, hol doch bitte eine Tasse für Rhea.«

»Danke.«

Die junge Frau nippte am Kaffee und füllte dann die Tasse mit Unmengen an Zucker und Milchpulver. Sie nahm noch einen guten Schluck von dem Getränk und sah ihren Vater und Eckhardt an. »Irgendwas stimmt nicht mit Thorsten. Er hat etwas vor.«

Alv runzelte die Stirn.

»Was genau meinst du?«

Rhea zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht genau«, sagte sie zögerlich, »aber als wir heute Nachmittag die Übung mit den Kindern machten, wie sie in die Höhle gehen, wenn Alarm ist und so … da hat er etwas zu mir gesagt, das mich erschreckt hat.«

»Und?«

»Er sagte, ich soll mir keine Sorgen machen. Wenn die Soldaten kommen, dann werden wir drei abgeholt und in Sicherheit gebracht. Also, er, Eliot und ich.«

Eine Sekunde lang blieb es still in dem Raum. Eckhards Stimme unterbrach das Schweigen. Er war stinksauer. »Verdammt! Langsam reicht es mir! Wie viele Maulwürfe hat dieser Marschall eigentlich in unserem Dorf?«

Alv blieb ruhig.

»Sepp, du schaffst mir diesen Bengel her. Sag ihm nicht, was los ist. Er soll einfach mal herkommen.«

Sepp Falkner nickte, stand auf und verließ die Küche. Alv wandte sich wieder an seine Tochter.

»Dass wir diesen Verrat nicht einfach so hinnehmen können, sollte dir klar sein.«

»Wobei«, ergänzte Eckhardt, »nicht einfach so hinnehmen in meinem Fall stark untertrieben sein dürfte. Ich hätte nicht übel Lust, dem eine Kugel zu verpassen. Wer weiß, was der Bursche Gärtner alles verraten hat.«

»Nun«, erwiderte Alv, »das dürfte so ziemlich alles gewesen sein. Ich schätze, der hat gesungen wie ein Chorknabe der Regensburger Domspatzen beim Adventschoral. Katharina, geh du doch bitte für einen Augenblick mit Rhea und Birte ins Wohnzimmer rüber, ja?«

Katharina nickte und die Frauen schnappten sich ihre Tassen. »Ja«, gab Katharina zurück, »schätze, das wird erst einmal das Beste sein. Schläft der Kleine, Rhea?«

»Ja.«

»Gut, dann setzen wir uns etwas rüber ins Wohnzimmer. Lass das mal die Männer klären.«

Die drei verließen die Küche, und kurz darauf hörte man das Poltern von Holzscheiten im Kamin des Wohnzimmers. Der Schornstein führte an zentraler Stelle durch das Haus und alle Feuerstellen waren daran angeschlossen. Katharina heizte den Kamin im Wohnraum an, und man konnte in der Küche das Fauchen der Flammen im Kamin vernehmen.

»Was machen wir mit dem Kerl?«, fragte Eckhardt, immer noch ziemlich sauer klingend.

»Eine gute Frage.«

»Meine Meinung kennst du ja.«

»Eckhardt, ich kann dem Jungen nicht eine Kugel in den Kopf jagen. Er hat Frau und Kind hier.«

»Deine Tochter scheint mit ihm durch zu sein.«

»Ja, schon. Aber der Kleine. Das geht nicht. Erst mal hören wir uns an, was er zu sagen hat. Dann sehen wir weiter.«

Einige Minuten später betrat Thorsten die Küche, Sepp folgte ihm und baute sich im Türrahmen auf. Eckhardt und Alv saßen mit verschränkten Armen und versteinerter Miene am Küchentisch.

Alv nickte zu dem freien Stuhl hin.

»Setz dich.«

Dem jungen Mann dämmerte, dass hier etwas nicht stimmte. Er begann heftig zu schwitzen und stammelte:

»Hör zu, Alv, ich … ich kann das erklä…«

»Setz dich hin!«, brüllte Eckhardt ihn mit der Wucht eines Orkans an. Thorsten tat, wie ihm geheißen.

»Du«, fing Alv gelassen an, während er seine Pistole vor sich auf den Tisch legte, »brauchst mir nur eins zu erklären. Was hast du ihm gesagt?«

Thorsten schlotterte noch mehr. Ihm wurde schlagartig klar, dass es hier keine für alle glückliche Lösung geben konnte. Er stotterte. Tränen rannen über sein Gesicht.

»Ich mu-musste e-es tun! I-ich kon-nte nicht … anders.«

Von hinten bekam er Sepps flache Hand ins Genick und sein Kopf flog ruckartig nach vorn.

»Hör auf hier rumzustammeln, verdammt!«

Dann platzte es aus Thorsten heraus.

»Ich haben es wegen Eliot getan – und wegen Rhea! Der Marschall hat mir zugesagt, dass seine Leute uns mitnehmen, wenn sie Birte und das Gegenmittel holen. Niemand sollte verletzt werden, wenn alle vernünftig bleiben. Das hat er mir zugesichert.«

»Das war nicht meine Frage«, antwortete Alv ruhig, »die Frage lautete: Was hast du ihm gesagt?«

Einen Moment lang schwieg Thorsten und schluchzte bloß. Als Sepp sich im Türrahmen wieder regte, zuckte er zusammen und sprach weiter.

»Ich sollte ihm sagen, wo die Waffen sind. Die Panzer, die Raketen, die MG. Und wo das Labor ist. Ich habe ihm einen Lageplan gefunkt.«

Eckhardt stützte beide Fäuste auf den Tisch und beugte sich vor.

»Alle Stellungen, auch die Panzerstellungen?«

»Ja, ich habe ihm alles gesagt, was ich wusste. Ich hab gehofft, dass ihr euch ergebt und dass alle überleben können. Ich will doch nur, dass mein Kind in einer friedlichen Welt groß wird. Unsere alte Heimat wird besiedelt, da gehören wir hin. Nicht in diese Einöde hier.«

Alv beugte sich vor und sah dem jungen Mann in seine verheulten Augen.

»Hast du Trottel wirklich geglaubt, dass Marschall Gärtner hier irgendjemanden am Leben lässt? Hast du das echt geglaubt? Nicht dein Ernst, oder? Soll ich dir sagen, was passiert? Gärtners Truppen werden hier einfallen, sich Birte und die Formeln schnappen und dann jeden umlegen, der hier atmet. Inklusive deines Sohnes und seiner Mutter, du Spatzenhirn! Dieser Mann opfert jeden verdammten Tag hunderte von Soldaten an der Ostfront, um sein Imperium vor den Zeds zu schützen. Und ausgerechnet dich soll er retten? Er lässt da draußen diese Kreaturen schlachten und presst ihre Eingeweide in Tuben. Dieses Zeug gibt er Leuten wie dir zu fressen, Mann. Und du glaubst, er sichert dir ernsthaft etwas zu?«

Eckhardt übernahm.

»Und nun, da du Vollpfosten dem Feind unsere Stellungen und Stärke verraten hast, sinken die Überlebenschancen weit unter Null, verdammt. Wenn dein Sohn in dieser Schlacht sein Leben verliert, mein lieber Junge, dann solltest du wissen, dass es deine Schuld war.«

Eckhardt sah Thorsten tief in die Augen. Der Abstand seines Gesicht zu dem des Jungen betrug eine Handbreit. Er konnte den Angstschweiß förmlich riechen, der Thorsten über den Körper lief. Ohne sich umzudrehen sagte er, an Alv gerichtet:

»Ich habe genug gehört. Am besten, du ziehst durch und machst dem Spuk hier ein Ende, Alv. Verpass ihm ne Kugel, oder ich tu’s.«

Thorsten, dem wohl tatsächlich erst in diesem Moment klar wurde, was er angerichtet hatte, heulte und schluchzte erbärmlich. Doch es nützte ihm nichts.

Eckhardts Gesicht, das dicht vor seinem schwebte, wirkte versteinert. Noch immer stierte er dem Verräter in die Augen, wie, um ihn mit Blicken aufzuspießen. Alv legte seine rechte Hand langsam auf den Griff der Pistole.