Jahr Zwei, 28. September. Später Abend V

Igor und Oleg saßen im Computerraum in ihrer kleinen Behausung in Cherkas und studierten die neuesten Infos aus dem Imperium, wie Igor das Gebiet der New World zu nennen pflegte.

Draußen heulte ein furchtbarer Schneesturm, der ihnen noch Tage nach dem Abflauen des Windes Arbeit in Form von Schneeschaufeln bereiten würde. Der Wind presste den feinen Pulverschnee in jede Ritze und trieb ihn trotz Isolierung sogar in die Häuser. In den Räumen des Untergeschosses, die Igor als Holzlager und Kühlraum für Lebensmittel nutzte, gab es auch hier und da kleine Pulverschneehaufen, die aber zum Glück nur an den Außenwänden lagen und die untersten Lagen Brennholz verdeckten.

Letztlich isolierten diese Mini-Schneewehen das Haus wie ein Iglu, und die Wärme der beheizten Räume entwich nicht einfach. Im Schornstein konnte man das fauchende Reißen des Sturms hören, der an den Flammen der Öfen saugte und den Rauch kollernd im Abzug vibrieren ließ.

Igor hatte die Klappen in den Ofenrohren quer gestellt, um zu verhindern, dass die Öfen durch den starken Zug Holz fraßen, als wäre es Zeitungspapier. Von Zeit zu Zeit legte er zu den Scheiten etwas frisches Holz, das zwar ordentlich qualmte, aber den Abbrand geringer hielt. Durch den Frost, den Sturm und den Lichtmangel starben viele Bäume draußen, an Brennholz mangelte es nicht.

Wenn der Atomwinter irgendwann vorbei sein würde, dann stünde der Welt in der nördlichen Hemisphäre eine enorme Veränderung bevor. Ein großer Teil der Bäume wäre fort, ebenso wie die meisten Wirbeltiere. Der abtauende Schnee würde gewaltige Überschwemmungen erzeugen und die Oberflächen neu gestalten. Bäche, Flüsse, Seen – all das würde neue Konturen erhalten, ähnlich wie es vor zehntausend Jahren geschehen war, nach der letzten Eiszeit.

In Nordeuropa würde es Taiga und Tundra geben wie in Sibirien, große Moore und Seenplatten bestimmten dann das Landschaftsbild. Die menschliche Zivilisation stünde vor einer erheblichen Neuorientierung. Doch zunächst galt es, diesen Moment überhaupt lebend zu erreichen.

»Und, Oleg, was gibt es Neues im Reich des Bösen?«

Igor hatte heute gute Laune. Die gestrige Nacht mit seinem Oleg hatte ihm viel Vergnügen beschert. Der Junge wusste, wie er Igor mit seinem schlanken, wunderbaren Körper Freude bereiten konnte.

Inzwischen machte es Igor auch nichts mehr aus, dass er sich mit einem Mann vergnügte. Anfänglich hatte er noch Gewissensbisse und ein schlechtes Gewissen, doch mittlerweile genoss er seine neu entdeckte Sexualität in vollen Zügen. Er dachte zwar oft an seine verstorbene Frau Olga, Gott sei ihrer Seele gnädig, aber die war im Bett stets so langweilig wie ein Wischmopp gewesen. Oleg hingegen verwöhnte in auf jede nur erdenkliche Art und beglückte ihn mit Lustgefühlen, die er vorher nicht für möglich gehalten hätte.

»Da braut sich was zusammen«, antwortete Oleg nachdenklich, während er die Satellitenbilder der New World Army auswertete, »da im Osten. Das sieht nicht gut aus.«

General Pjotrew hatte den beiden über verschiedene geheime Leitungen Zugang zu den Satelliten verschafft, so dass Oleg nun stets auf dem Laufenden blieb, was zum Beispiel Truppenbewegungen anging.

»Schau hier, Igor.« Oleg deutete auf einen Bereich südöstlich von Nischnij Nowgorod.

»Was sehe ich da?«

»Hier. Schau genau hin. Siehst du die großen Schatten? Das sind Zeds. Viele. Tausende. Sie ziehen entlang der Kama nach Westen. Und auf der anderen Seite, dort bei Kasan, zieht der Marschall seine Truppen zusammen. Es sieht so aus, als wenn sich da eine Schlacht anbahnt, Igor.«

»Kannst du sehen, wie es um das Kräfteverhältnis steht?«

»Schwer einzuschätzen. Aber bestimmt zwanzig zu eins für die Zeds.«

»Schwere Waffen?«

»Bei dem Wetter haben die Truppen Schwierigkeiten, schweres Gerät zu bewegen. Ein paar Helis sind unterwegs, zumindest wenn es aufklart. Den Rest besorgt dann wohl die Infanterie.«

»Wann treffen die aufeinander?«

»Lässt sich schlecht sagen, die Zeds bewegen sich relativ langsam. Vielleicht noch eine Woche, oder zwei. Es ist definitiv mehr als der übliche Ansturm auf den Grenzzaun. Man könnte fast meinen, die sammeln sich da.«

»Die Marschrichtung?«

Oleg rief weitere, ältere Bilder der Satellitenüberwachung auf und legte sie übereinander.

»Südwesten«, antwortete er nach einer kurzen Weile, »sie kommen in unsere Richtung. Sie steuern das Schwarze Meer an, Igor!«

Oleg drehte sich zu Igor um, der hinter ihm stand. Sein Gesicht war vom Schrecken gezeichnet. Igor klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Na, dann wollen wir mal ernsthaft hoffen, dass die Leute des Marschalls ihre Arbeit gut machen. Denn wenn sie es nicht tun, haben wir möglicherweise ein Problem.«

Oleg nickte. Ihm imponierte Igors Kaltschnäuzigkeit, wenn es um die Dinge des Krieges ging. Oleg besaß diese Charaktereigenschaft nicht.

Er war nie ein Heldentyp gewesen, schon zu Schulzeiten hatte man ihn stets gehänselt und gemobbt. Früh in seiner Jugend bereits hatte sich Oleg mit Computern befasst, die im zusammenbrechenden Ostblock relativ leicht zu beschaffen gewesen waren. Sein erster eigener Computer war ein ausgedienter Windows-Rechner mit einem 33K-Modem, damit ging er zum allerersten Mal online, als er gerade dreizehn Jahre alt war. Den Rechner hatte sein Vater aus einem Firmengebäude geklaut, ein deutsches Fabrikat.

Der junge Oleg hatte sich fortan in Internetforen und auf Warez-Seiten herumgetrieben und gelernt, in fremde Mainframe-Systeme einzudringen.

Mehr und mehr zog er sich zurück hinter die Mattscheibe. Sein Vater, ein kleinkrimineller Säufer, unterstützte dies, weil es dem Jungen immer wieder gelang, mit dem Computer oder irgendwelchen Deals und Hehlereien Geld zu besorgen.

Oleg war es recht, dass der Alte stets besoffen irgendwo herumlungerte. Er hatte seine Ruhe zuhause und konnte lernen. Irgendwann wollte er den großen Coup landen und sich absetzen, irgendwohin, wo man ihn nicht kannte und er sein Geld ausgeben konnte.

Schwierig wurde es, als er begann, sich in der Untergrund-Schwulenszene herumzutreiben. Hin und wieder, wenn die Ultrarechten einen Treffpunkt aufmischten und Oleg mit einem Veilchen nach Hause kam, dann drosch der Alte im Suff auch noch auf ihn ein.

Mit gerade einmal siebzehn Jahren schlich sich Oleg eines Abends aus dem Haus und kehrte nie dorthin zurück. Er hatte stets Nähe und Zuwendung in stets wechselnden Beziehungen gesucht, doch fehlte ihm jedes Mal etwas. Etwas, das er interessanterweise, nun, im Angesicht der Katastrophe, bei Igor gefunden hatte.

Igor war für Oleg nicht nur ein älterer Liebhaber, wie er sie früher für Geld befriedigt hatte. Nein, da war mehr. Igor empfand wirklich etwas für ihn, das wusste er. Und Oleg liebte Igor, auch wenn er dem Vater etwas ähnelte, oder vielleicht deswegen, wer wusste das schon genau.

Igors tiefer Glaube imponierte Oleg stark, ebenso seine Resolutheit im Handeln. Sie beide hatten nun schon so viel miteinander erlebt, dass Oleg sich ein Leben ohne Igor gar nicht mehr vorstellen konnte.