Jahr Zwei, 27. September. Mittag

»Wie weit sind Ihre Leute, Mikail?«

Marschall Gärtner lehnte sich in seinem opulenten ledernen Bürostuhl zurück. Vor ihm saßen die Generäle Brithcomb und Pjotrew, man besprach Einzelheiten zum bevorstehenden Einsatz. Der Angesprochene sah auf sein PC-Tablet und antwortete:

»Die amerikanischen und britischen Teams sind soweit einsatzbereit. Unser SpezNas-Team wird morgen Abend hier sein, ich habe heute Morgen die Marschorder übermittelt. Allerdings bräuchte ich noch den Einsatzplan, um die Männer entsprechend einzuteilen.«

Er sah den Marschall fragend an. Der grinste seltsam verschmitzt.

»Nein, Mikail, ich habe beschlossen, den genauen Einsatzplan erst wenige Minuten vor der Ankunft der Teams im Zielgebiet durchzugeben. Ich weiß nicht, ob wir wirklich jedem der Männer vertrauen können.«

»Nachvollziehbar, ja. Aber ich denke, wir sollten vorab schon mal einige Rahmenpunkte zum Vorgehen der Truppen klären.«

»Sie haben meine Anordnung verstanden, General?« Die Augen des Marschalls wurden zu dunklen Schlitzen.

»Voll und ganz, Herr Marschall. Zu Befehl.«

»Gut«, erwiderte Gärtner, »dann machen Sie weiter. Brithcomb, sind unsere Maschinen einsatzbereit, wenn wir sie brauchen?«

Der Brite zuckte leicht zusammen und erwiderte wie aus der Pistole geschossen:

»Zu Befehl, alle Maschinen werden am Tag X einsatzbereit zur Verfügung stehen. Sie sind bereits auf dem Weg hierher.«

Der Oberbefehlshaber nickte beruhigt. Dann wandte er sich wieder dem russischen General zu.

»Noch etwas, Mikail. Was ist da an der Ostgrenze los? Man hat mir berichtet, dass es dort Zwischenfälle gegeben hat.«

Pjotrew wischte über den Screen seines Tablets und berichtete.

»Wie es aussieht, gab es nördlich von Nowgorod einen Grenzübertritt, ein toter Wachsoldat. Er wurde von einem Zed attackiert, vermutlich Struggler.«

»Wie ist der über den Zaun gekommen?«

»Unsere Leute vor Ort sind sich nicht sicher«, antwortete der General etwas kleinlaut, »der Hochspannungszaun war aktiv, eigentlich müsste es die Kreatur zerlegt haben. Der Zed hat auch nicht auf die nahegelegene Mikrowellenfalle reagiert. Die Suchteams haben im Schnee seine Spuren verloren.«

»Wie kann es sein, dass man im hohen Schnee die Spur eines Flüchtigen verliert? Sind Ihre Leute da unten wirklich so unfähig, Pjotrew?«

»Herr Marschall. Bitte zu beachten, dass dies ein wenig frequentierter Bereich ist, in dem vorwiegend Deportierte als Wachpersonal eingesetzt werden. Deren Diensteifer ist sicherlich nicht mit dem professioneller Soldaten zu vergleichen.«

Gärtner überlegte kurz. Dann schien er einen Entschluss zu fassen, denn seine Brauen hoben sich, bevor er entgegnete:

»Sie haben sicher Recht, Mikail. Wir sollten etwas unternehmen, um die Moral in der Truppe zu heben. Mir sind da einige Motivationstechniken aus den römischen Legionen geläufig. Wie nannte man das? Ah ja, Dezimation. Lassen Sie jeden zehnten Mann in dem Wachbataillon erschießen.«

»Aber …«

»Tun Sie es! Und sorgen Sie dafür, dass eine Aufzeichnung von der Bestrafungsaktion unter den Grenztruppen Verbreitung findet. Ich dulde keine Schlampereien.«

»Zu Befehl, Herr Marschall. Wäre das dann alles?«

»Ja, für heute sind wir fertig. Sie können wegtreten. Beide.«

Die Generäle standen auf und verließen Gärtners Büro. Draußen im Gang zog Brithcomb ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich Stirn und Schläfen ab. Der Mann schwitzte eh bei jeder Gelegenheit. Er sah den Russen an, der neben ihm in dieselbe Richtung ging.

»Sagen Sie, Pjotrew, das ist doch nicht normal. Wir haben ohnehin zu wenig Personal für diese riesige Grenze, und der Mann lässt zehn Prozent der Soldaten des betreffenden Bataillons exekutieren? Wie viele sind das?«

»Einhundertzwanzig Mann.«

»Mein Gott!«, rief Brithcomb bestürzt. »Das geht doch nicht!«

»Das geht«, entgegnete Pjotrew, wohlwissend, dass hier überall in den Gängen Mikrofone hingen, »denn wir haben Krieg und es gilt das Kriegsrecht. Befehl ist Befehl, erst recht, wenn er vom Oberkommandierenden kommt.«

Der britische Luftwaffengeneral schüttelte den Kopf.

»Ja, oder wenn der Befehl vom Fuhrer kommt.«

Die typisch englische Aussprache des Wortes Führer würde dem Mann wahrscheinlich buchstäblich das Genick brechen, wenn der Marschall hier mithörte, und das tat er ganz gewiss. Offenbar war das Brithcomb nicht klar. Noch nicht.

»Ich habe meine Befehle«, sagte Pjotrew bestimmt und beschleunigte seine Schritte, »und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe zu tun.«

Als Pjotrew um die dritte Ecke bog, kam ihm eine Gruppe Militärpolizisten in strammem Schritt entgegen. Die Männer grüßten vorschriftsmäßig und passierten den General, ohne anzuhalten.

Pjotrew konnte sich denken, wohin die Männer gingen. Er selbst hatte tatsächlich noch zu tun, denn seine Mitverschwörer warteten bereits auf ihn. Als der General im Flugzeughangar AIII-B ankam, senkte sich die Ladeluke der kleinen Antonow-Maschine, die dort parkte. Außer dieser stand keine weitere Maschine in dem Hangar, man wartete auf Ersatzteile, die mit einer der nächsten Maschinen aus Kiew kommen sollten. Es war bitter kalt in dem kärglich beleuchteten Laderaum des Flugzeuges, die Atemfahnen der vierzehn Versammelten erzeugten eine kleine Wolkendecke, die sich als Reif an den Metallteilen niederschlug. Nach einer knappen Begrüßung kam der General sogleich zur Sache.

»Ich konnte nicht eher kommen, der Marschall hat mich noch aufgehalten. Ich schätze, er wird in diesen Minuten den Engländer seines Kommandos entheben.«

»Warum?«, fragte einer der Offiziere.

»Nun, er hat sich zu dumm angestellt, wie es aussieht.«

Verhaltenes Gelächter kam von den Männern. Pjotrew fuhr fort.

»Aber, Kameraden, das mahnt uns, vorsichtig zu sein. Der Marschall wird immer misstrauischer. Er will die Einsatzpläne für die Frankreich-Sache erst während des Fluges an die Teams weitergeben. Er wittert überall Verrat. Nun gut, nicht zu Unrecht, aber er ist wie ein Wolf, der in die Ecke getrieben wird. Er wird angreifen, wo er kann. Also, seien Sie bitte doppelt und dreifach vorsichtig.«

Einer der Offiziere fragte:

»Wie sieht es aus, General? Wie ist der Plan für die nächsten Tage?«

Pjotrew zündete sich eine Filterzigarette an und ließ die Schachtel herumgehen. Drei Mann lehnten ab, die anderen griffen beherzt zu. Kurz darauf tanzte ein Dutzend glutroter Leuchtkäfer durch den Laderaum des Flugzeugs. Dann erläuterte der General die aktuelle Entwicklung.

»Morgen Abend kommt Major Tschischkarin mit einer Antonow von Kiew hierher. Er wird das SpezNas-Team transportieren, das mit nach Frankreich soll. Mein Kontaktmann vor Ort hat die Leute handverlesen, sie sind loyal und von ihm persönlich ausgebildet worden. Außerdem bringt der Major ein Vorauskommando der Grosnyj mit. Die Männer werden im Landeanflug auf die Festung mit dem Fallschirm abspringen und innerhalb des Dreimeilengürtels ein getarntes Biwak einrichten. Es ist geplant, zwei Züge zu je zehn Mann herzubringen. Diese sollen sondieren und gewisse Vorbereitungen für den Tag X treffen.

Nachdem Tschischkarin die SpezNas-Einheit hier abgeliefert hat, wird er am nächsten Morgen wieder nach Kiew zurückfliegen. Wenn ich den Marschall richtig einschätze, wird er einige Mitarbeiter aus Brithcombs Stab in die Maschine verfrachten lassen, um sie an die Ostfront zu versetzen. Während des Fluges werden der Lademeister und Tschischkarins Copilot zu diesen Männern Kontakt aufnehmen und versuchen, sie auf unsere Seite zu ziehen, was angesichts der Situation, in der sie stecken, wohl nicht allzu schwierig sein dürfte. Diese Soldaten erhalten dann in Kiew die Möglichkeit, mit Angehörigen, Freunden und Kameraden zu kommunizieren und den revolutionären Gedanken zu verbreiten. Ohne die Nennung von Namen natürlich.

Ich gehe davon aus, dass es uns gelingt, die Bodenoffensive in Frankreich entsprechend zu sabotieren. Unsere Leute werden Funksprüche absetzen, aus denen hervorgeht, dass die gesamte Operation fehlgeschlagen ist. Der Marschall soll glauben, dass alle Soldaten ums Leben kamen, wir werden aber nur die Amerikaner und die Briten töten. Unser Hacker in der Ukraine sorgt dafür, dass die fehlgeschlagene Mission über das Netz verbreitet wird, in diesem Zuge werden wir Gärtners diesbezügliche Absichten veröffentlichen. Wenn die Unruhe anwächst und es zu Tumulten kommt, müssen wir schnell und besonnen handeln. Wir bringen die restlichen Grosnyj-Kämpfer hierher und starten den Putsch. Soweit in groben Zügen der Plan.«

Einer der höhergestellten Offiziere schnippte die Asche von seiner Zigarette und fragte:

»Was machen wir, wenn es in Frankreich nicht so läuft wie gedacht?«

»Nun, Proschkowkenzow«, gab der General zurück, »dann muss es halt ohne die fehlgeschlagene Mission gehen. Für den Fall, dass die SAS-Leute und die Night Stalker das Dorf überrennen und die Verteidigung nicht standhält, werden unsere Grosnyj-Kämpfer über ihre Helmkameras Aufzeichnungen des Massakers an Frauen und Kindern anfertigen, die wir dann über Wissarion veröffentlichen. So oder so – wir bekommen Berichte über das Geschehen, die unsere Sache unterstützen.«

»Und die Lufttransporte sind gesichert?«, fragte ein anderer.

»Ja, Schukow. Alle benötigten Flüge sind genehmigt und plausibel. Die Hauptgruppe der Grosnyj-Kämpfer kommt mit der Maschine, die Ersatzteile für die hier stationierten Antonow-Maschinen bringen soll.«

»Also beginnt alles wieder im Oktober, was?«

»Tja, Schukow, wie es aussieht, wiederholt sich die Geschichte gern und oft. Aber eines muss uns allen klar sein, meine Herren. Es geht nicht darum, einen bolschewistischen Sowjet wiederzubeleben. Die Menschheit steht noch immer an der Schwelle zum Aussterben. Der Feind, die Zombies, wird gefährlicher durch die Mutationen, die aufgetreten sind. Das T93 schützt uns nicht mehr, vielmehr beschleunigt es unseren Untergang. Sind wir erfolgreich, ist es wichtig, die Regierungsgewalt in die Hände des Volkes zu legen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit den Überlebenden in den südlichen Gebieten kooperieren können. Die Leute im Zielgebiet haben ein Mittel, dass die durch T93 verursachte Unfruchtbarkeit der Frauen hier im Siedlungsgebiet heilen kann. Das bedeutet für uns alle: Zukunft. Aber diese Zukunft können wir nur gemeinsam errichten. Diese Leute dort in dem kleinen Bergdorf, die der Marschall ausradieren will, diese Leute machen uns vor, dass es funktionieren kann. Wir sollten uns an ihnen ein Beispiel nehmen.«

Der Oberstleutnant Schukow lachte.

»Also doch Sowjets!«

Pjotrew ging zu ihm hin und legte ihm die rechte Hand auf seine linke Schulter.

»Ja, Anatoli. Aber so, wie sie sein sollten. Ohne militärische Führer. Wir werden genug damit zu tun haben, die Feinde zu bekämpfen. Wir müssen keine Pässe kontrollieren, keine Menschen verhaften, keine Kisten mit widerlicher Paste verteilen. Unsere Aufgabe soll es sein, das Siedlungsgebiet zu schützen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Alle Anwesenden nickten stumm. Sie waren es auch leid, in einem System zu dienen, dessen Anführer ein Wiedergänger von Stalin und Hitler gleichermaßen war, sie wollten auch Frieden. Dass es, solange noch ein Zombie dem Menschenfleisch nachjagte, keinen echten Frieden geben konnte, wussten sie. Aber es könnte einen Frieden im Inneren geben. Und dafür wollten sie eintreten.

Einzeln nacheinander und in unregelmäßigen Abständen verließen die Verschwörer das Flugzeug und den Hangar. Zuletzt ging General Pjotrew. Als er den Hangar verließ, lief er im Gang Marschall Gärtner fast in die Arme.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte dieser sichtlich überrascht. Pjotrew antwortete betont gelassen.

»Ich hatte etwas zu überprüfen, Herr Marschall.«

»So wichtig, dass Sie selbst das überprüfen müssen? Was genau gibt es denn zu überprüfen?«

»Nun, der Pilot, der die Ersatzteile für die Maschine hier im Hangar aus Kiew bringen soll, ließ wegen einiger Typenbezeichnungen anfragen. Und da diese Briten von der RAF für gewöhnlich nicht über ausreichende Kenntnisse der russischen Sprache verfügen und Kyrillisch nicht zu lesen imstande sind, brauchte es jemanden, der sich darauf versteht.«

»Ach, und das waren ausgerechnet Sie? Haben Sie für so etwas keine Ordonnanz?«

»Ich war verfügbar und in der Nähe, Herr Marschall.«

Der Oberbefehlshaber nickte. Als er zu Pjotrew sprach, hatte seine Stimme so einen gewissen väterlichen Klang. Dabei war er der Jüngere von beiden.

»Wissen Sie, Mikail, das mag ich an Ihnen. Sie sind sich nicht zu schade, Sachen selbst zu erledigen, und sie haben ein Auge für die wichtigen Dinge. Die meisten der Leute, die hier herumrennen, unterschätzen die Wichtigkeit von Nachschub. Sie nicht. Sie haben auch ein Auge für die kleinen Zusammenhänge, die in der Summe wichtig werden könnten. Ach so, ehe ich es vergesse: General Brithcomb wurde seines Kommandos enthoben. Wenn Ihr Team hier eintrifft, werden seine Stabsmitarbeiter den Rückflug nach Kiew nehmen. Ich erwäge im Übrigen, diesen Schweizer an seine Stelle zu setzen, wie ist noch sein Name?«

»Generalleutnant Brunner?«

»Ja genau. Den. Er wird Befehlshaber der Luftwaffe werden. Und da Sie ja, wie es scheint, ab und an verfügbar für Luftwaffenangelegenheiten sind, könnten Sie den Mann ja einarbeiten. Geht das für Sie in Ordnung, Mikail?«

»Selbstverständlich. Zu Befehl, Herr Marschall.«

»Sehen Sie es nicht als Befehl. Sehen Sie es als eine Bitte.«

»Gern, Herr Marschall. Wäre das dann alles? Ich wollte dann jetzt die Daten übermitteln.«

»Ja, nur zu, nur zu, Mikail.«

General Pjotrew salutierte stramm und entfernte sich in Richtung Aufzug, der ihn in die Kellergeschosse bringen sollte. Marschall Gärtner blieb nachdenklich vor der Hangartüre stehen und sah dem Russen nach.